Ausstellung: Der Teufel rast
Burn-out, wilde Märkte, Turbo-Mentalität: Eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg sucht die „Die Kunst der Entschleunigung“ - mit Werken von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei
Es gibt ein Datum dafür, einen Tag, an dem das Verhängnis begann: den 5. Januar 1769. James Watt erhielt damals das englische Patent Nr. 913 für seine Dampfmaschine, die sechs Jahre später in der Fabrik von John Wilkinson in London installiert werden sollte. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass sie ausgerechnet Kanonen produzierte. Mit diesem Datum beginnt die physische Beschleunigung des Industriezeitalters, wurde die Tür zur schier grenzenlosen Produktion in immer kürzeren Abständen aufgestoßen. Die Zeit erhielt ihren neuen Takt, ein atemloses Stakkato, an dem wir bis heute leiden. Mehr denn je. Kein Tag, an dem nicht von Burn-out, depressiven Zuständen der Gesellschaft, die nicht zur Ruhe kommt, zu lesen ist. Dazu passt, dass sich die Erde nach Erkenntnissen der Nasa aufgrund des jüngsten Bebens in Japan jeden Tag um 1,8 Mikrosekunden schneller dreht.
Das Lamento um die Hetze, das sich ständig steigernde Tempo in Produktion wie Kommunikation, ist so alt wie Watts Dampfmaschine, ja, älter noch. Schon das Mittelalter kannte den „homo destitutus“, den Getriebenen. Und doch ist es kein Zufall, dass kein Jahr, nachdem Watts Maschine ihre Arbeit aufgenommen hatte, Goethe in seinem Gartenhaus in Weimar den „Stein des guten Glücks“ platzierte: eine Kugel auf Quader als Inbegriff einer Balance zwischen Tatendrang und Besinnung. Goethe wusste um das Böse in der Überstürzung und nannte das rastlose Gewese seiner Zeit „veloziferisch“, indem er den lateinischen Begriff für Eile mit luziferisch kombinierte.
An warnenden Stimmen hat es seitdem nicht gemangelt. Wirtschaftsweise, Klimaexperten, Psychologen rufen gebetsmühlenartig: „Haltet ein! Der Karren fährt sonst an die Wand.“ Aber offensichtlich wollen wir von unserer Highspeed-Kultur nicht lassen. „Bisher können wir uns immer noch eher das Ende der Welt vorstellen als eine Alternative zum kapitalistischen System“, hat der Soziologe Hartmut Rosa resigniert.
Da schaltet sich das Museum als Hort der Zeitenthobenheit ein. Wo, wenn nicht dort, wäre der Ort, über den verhängnisvollen Verlauf nachzudenken, aus dem Fluss herauszutreten. Die Flaneure des 19. Jahrhunderts empfahlen, mit einer Schildkröte am Band durch die Passagen von Paris zu spazieren, um den Stürmen der Zivilisation, der damals schon als dramatisch empfundenen Urbanisierung, standzuhalten. Ein solches Instrument, ein ähnlicher Helfer an der Hand könnte heute das Museum sein.
Wolfsburg bietet sich an, die VW- Stadt als Inbegriff der Mobilisierung mit einem Ausstellungshaus wie ein Raumschiff: gläsern, technizistisch, von Röhren umgeben. Ein Thinktank, wo mithilfe der Kunst über „Die Zukunft der Moderne im 21. Jahrhundert“ nachgedacht wird. Die Moderne aber repräsentiert Schnelligkeit, das Ausgreifen zu den Sternen. Die Herausforderung im 21. Jahrhundert hingegen besteht darin, sich dem Geschwindigkeitswahn zu entziehen. Die Kunst hat da einige Ideen, und sei es, als Menetekel zu dienen – etwa in Gestalt eines in die Endlosigkeit verlängerten Zusammenpralls. Vor dem Museum stehen zwei Wagen, die sich in Zeitlupe aufeinander zubewegen und sich gegen Ende der Ausstellung aneinander hochgeschoben haben werden. Der lautlose Car-Crash des Amerikaners Jonathan Schipper demonstriert das destruktive Moment der Beschleunigung.
Und doch will es nicht funktionieren, die Kunst als Anwalt der Verlangsamung in den Dienst zu nehmen, sozusagen als Bekehrte, nachdem sie im vergangenen Jahrhundert losgestürmt war. Ihre Stärke besteht in der Ambivalenz; zur Veranschaulichung von Thesen taugt sie selten. Direktor Markus Brüderlin und sein Team wollen es trotzdem wissen. Sie haben aus 160 Werken von 85 Künstlern einen gigantischen Parcours aufgebaut, der mit Watts Dampfmaschine und Goethes „Stein des guten Glücks“ als Antipoden beginnt. Nach dem gleichen Prinzip – hier die Beschleuniger, dort die Verlangsamer – wird die Kunst durchdekliniert. Das kommt so holzschnittartig daher, dass man im jeweils ausgewählten Beispiel unwillkürlich das Gegenteil zu finden sucht. Caspar David Friedrich als der große Stille – rumort es nicht gerade darin? Zeugt die Weltflucht von „Meeresufer im Mondschein“ (1835), der ins Unendliche ausgedehnte Augenblick, umso mehr vom Gesumse des Alltäglichen? Sein Gegenstück, William Turners kurz darauf entstandene „Wilde See mit Wrack“, zelebriert zwar die sekündliche Veränderung von Wellen, Wolken, Lichteinfällen, indem er nur einen winzigen Ausschnitt erhascht, doch bleibt gerade dieser in der Malerei eingefroren.
Die Ausstellung hakt die Stationen der Moderne ab als permanentes Gegenspiel. Das ist zwar klassisch kunsthistorische Lesart, nach der sich nur aus dem Widerstand Neues entwickeln kann. Nur gibt hier nicht die Vorgängerkunst den Pappkameraden ab, sondern die Zeit, an der sich Maler und Bildhauer abarbeiten – mal schneller, mal langsamer. Überzeugend wirkt dies nur an der Oberfläche. Die rasche Abfolge von Futurismus und Pittura metafisica, Duchamp, Muybridge, Orphismus, Suprematismus, Konstruktivismus, Kinetik, Op-Art und Zero befriedigt nicht. Duchamps auf einem Hocker montiertes Rad nimmt Jahrzehnte, bevor Paul Virilio den Begriff prägte, den „rasenden Stillstand“ vorweg.
Die Dichte der Exponate zeugt von einer dem Kunstbetrieb eigenen Hastigkeit: weniger wäre mehr gewesen. Die Ausstellung gönnt sich nur wenige Ruhepunkte, kleine Kartausen, in denen Rothko mit einem Hodler kombiniert wird, der sich bei seinem Blick über den Genfer See zu den Savoyer Alpen ebenfalls an der sphärischen Farbe delektierte, oder Josef Albers mit Modigliani zusammenfindet, weil beide Rechtecke malten, der eine abstrakt, der andere mit Stillleben-Objekten. Das wirkt fast komisch, wie ein Suchspiel der schlichten Art. Vollends platt sind die Gegenüberstellungen von James Turrells meditativem Lichtraum und Bruce Naumans hektisch blinkerndem „Marching Man“ aus Neonröhren oder Franz Gertschs monumentaler Holzschnitt, für den er ein Jahr brauchte, und K. O. Götz’ Gemälde, das innerhalb einer Minute entstand. Wäre es nicht großartige Kunst, man würde sich ärgern.
Ausgerechnet Ai Weiwei, der sich wie kein anderer Künstler neuester Kommunikationsmöglichkeiten bedient und beständig twittert, wird als Kronzeuge einer Verlangsamung herbeizitiert. Durch sein Reiseverbot „zwangsentschleunigt“, wie es im Katalog heißt. Von ihm stammen zwei gigantische Porzellanschalen mit jeweils einer halben Tonne Süßwasserperlen. Das Bild besticht durch die schiere Masse, die Opulenz, wie viele Arbeiten Ai Weiweis. Man ahnt, dass es hier um die Vielen (1,4 Milliarden Chinesen vielleicht?), die Schönheit, das Glücksversprechen geht. Oder wird die gefährliche Suche nach den Perlen unter Wasser gar als eine Umweltsünde attackiert? Hauptsache, der derzeit meistgefragte Künstler gehört zur Ausstellung.
Das Thema verfranst sich, Mega-Citys, Geldströme, unkontrollierbare Märkte tauchen auf, sogar eine Abteilung über Sex: viel rosa Farbe, Fleisch und gefesselte Japanerinnen. Was das mit der Kunst der Entschleunigung zu tun hat? Der Soziologe Hartmut Böhme erklärt es ganz einfach: „Liebe, Sex oder Kommunikation können schnell abgehakt werden, aber noch niemanden hat dies zufrieden, geschweige denn glücklich gemacht.“ Am Ende scheint es ganz einfach: Gut Ding will Weile haben. Während draußen der Turbokapitalismus tobt, mag der Satz im Museum noch gelten. Zumindest einen Ausstellungsbesuch lang.
Kunstmuseum Wolfsburg, bis 9. April; Katalog (Hatje Cantz Verlag) 49,80 Euro.