Kultur: Der tägliche Crash-Test
Paul Virilio denkt über die modernen Katastrophen nach. Und beschwört in einer Pariser Ausstellung die Kehrseite des Fortschritts
Welches Szenario ist schlimmer? Der Science-fiction-Horror, den der amerikanische Schriftsteller Michael Crichton in seinem jüngsten Roman „Beute“ mit smarten, sich selbst reproduzierenden Nanopartikeln herauf beschwört? Oder die inzwischen täglichen Meldungen von neuen Attentaten wie dem Sprengstoffanschlag islamistischer Terroristen auf ein Hotel mit israelischen Touristen in Mombasa?
Da ist das Zeitungsfoto vom Kleinbus, der mit einer Bombe befrachtet in ein Gebäude rast und es dabei in die Luft jagt. Oder die Raketen, die ein Flugzeug beschießen: All das ist in den Augen des Betrachters nicht weniger surreal als Crichtons Vorstellung von teuflischen Wesen, die die Seelen von Menschen töten. Genau hier liegt das Problem: Je diffuser die Grenzen zwischen realer und virtueller Realität werden, je mehr sich alle Unterschiede zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz verwischen und je stärker die neuen Technologien allmächtig, aber unsichtbar über Leben und Tod herrschen, desto schlimmer scheint es um die Welt zu stehen.
Sie ist zum globalen Schlachtfeld von Selbstmordattentätern auf der einen und fanatischen Wissenschaftlern auf der anderen Seite geworden, die die größte Errungenschaft der Gegenwart für die jeweils eigenen Zwecke nutzen: ihre totale Transparenz und Interaktivität auf Grund der globalen Vernetzung. Inzwischen haben sich dank Internet, E-Mail und Fernsehen alle Prozesse der Kommunikation und des Konsums zwischen den Kontinenten so weit beschleunigt, dass Ereignisse beinahe in Echtzeit ausgetauscht werden können. Zeit vergeht immer weniger als sukzessive Taktfolge, sie vollzieht sich als mediale Simultaneität. Und schon schlägt vermeintlicher Segen in Fluch um. Denn der biologische Rhythmus des Menschen gerät in eine Art Schleudertrauma. Er verliert die Orientierung und verwechselt Facts und Fiction, Innen- und Außenwelt. Paul Virilio beschreibt diesen phobischen Zustand als eine Katastrophe des Bewusstseins, genauer: einen „Unfall der Erkenntnis“.
Der 1932 in Paris geborene französische Philosoph hatte bereits 1991 mit seiner Ausstellung in der Pariser Fondation Cartier „La Vitesse“ (Die Geschwindigkeit) Kontroversen ausgelöst. Nun hat er erneut eine brisante Schau zusammengestellt: „Ce qui arrive“ (Was geschieht) oder auf Englisch: „Unknown Quantity“ (Unbekannte Größe). So nennt der autodidaktische Architekt, Urbanist und Technologiekritiker die Ausstellung, in der er den Unfall zum Untersuchungsgegenstand einer umfassenden, keineswegs hysterisierenden, sondern im Gegenteil ernüchternden Analyse macht.
„L’accident“, das französische Wort für Unfall, abgeleitet vom lateinischen „accidens“, meint eben genau „das, was geschieht“. Wie der Fortschritt am Anfang des 20. Jahrhunderts im Zentrum allen Denkens und Handelns war, so muss nun, am Beginn des 21. Jahrhunderts, nach Virilios Überzeugung die Beschäftigung mit dem stattfinden, was an seinem Ende steht – der Unfall. In Übereinstimmung mit Hannah Arendt, die Fortschritt und Katastrophe als zwei Seiten derselben Medaille erkannte, blickt der Philosoph auf die Kehrseite der Münze und entdeckt auf ihr – die Endlichkeit des Daseins.
Was einst Zukunft sein sollte, droht nun zum Untergang der Menschheit und des Planeten zu werden. „Wenn sich heute dank des Fernsehens alles, was wir optisch speichern können, auf Augenblicksereignisse reduziert, dann spitzt sich aller Fortschritt auf ein unlösbares Problem zu, das der Wahrnehmung und der Bilder“, meint Virilio. Denn die Geschwindigkeit, mit der die Bilder als Endlosschleifen in den Medien und als chaotisches Karussell in unseren Köpfen kreisen, ist unkontrollierbar. In ihrer Exzessivität entspricht sie, so Virilio, „der virtuellen Geschwindigkeit“, die auch Ursache aller Unfälle ist. Die Medien machen diese virtuelle Geschwindigkeit immerhin sichtbar. Insofern ist für Virilio „die Wahrnehmung eines Unfalls immer ein Unfall der Wahrnehmung“, sie hebelt das reflexive Bewusstsein aus. So wird der Unfall zur Performance, zum Spektakel.
Der stumme Schrei der Massen
Genau diese Struktur des Spektakels macht sich der Terrorismus zu eigen. Seine neue Ästhetik des Bösen ist die der Performance, und die bisher ultimative Inszenierung bot er am 11. September 2001 in New York mit den Attentaten auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington. Seitdem sind die Medien nicht nur zur Bühne des globalen Terrorismus geworden, sondern auch zu Choreographen unserer immer größer werdenden globalen Angst. Virilio macht das Fernsehen für die Synchronisation der Emotionen und die Steuerung der Angst verantwortlich. „Der stumme Schrei der Massen, die gleichzeitig vor ihren TV-Geräten sitzen und fassungslos ein Desaster nach dem anderen verfolgen“, kennzeichnet für ihn einen neuen Typus der Tragödie, bei dem, anders als im antiken Theater, kein Prozess der Läuterung mehr möglich ist.
Denn das Moment der visuellen Gleichzeitigkeit korrespondiert mit dem der räumlich-körperlichen Isolation. So droht die Menschheit in einen Zustand des Wahnsinns zu geraten. Philosophie schlägt um in „Philofolie, jenen Unfall der Erkenntnis“, bei dem der Mensch zwar alles sieht und alles weiß, ihm seine geballte Intelligenz aber in keinster Weise mehr weiterhilft. In circuli vitiosi und Loops aus „worst case“- und „Apocalypse now“-Spielen rotierend, so Virilios Albtraum, würde der Mensch „von einer perversen Liebe zum Wahnsinn befallen, deren Motto ähnlich klingt wie der Satz des besoffenen Taxichauffeurs zu seinem Gast: „Ich bin ein Unfall, der irgendwo geschehen möchte.“
Damit es nicht zum Äußersten kommt, möchte Paul Virilio „den Unfall als das größte Rätsel des modernen Fortschritts ausstellen“. Der Autor von „Die Kunst des Schreckens“, dessen jüngstes Buch zum Thema „Ce qui arrive, naissance de la philofolie“ (Was geschieht, Geburt der Philofolie), soeben in der Edition Galilée erschienen ist, will der „Medusa den Spiegel vorhalten“, damit sie beim Anblick ihrer Grässlichkeit, also im Augenblick der Wahrheit, versteinere. „Wie die Renaissance ihre Kuriositätenkabinette hatte, so brauchen wir heute ein Museum der Unfälle.“
Der Unfall als Industrie
Vom Fall und vom Fallen – frei nach Wittgensteins berühmtem Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ – handeln denn auch die beiden monumentalen Installationen im Erdgeschoss der Fondation Cartier. Mit einer deckenhohen Montage aus Flugzeugwrackteilen versucht die kalifornische Künstlerin Nany Rubins eine Art memento mori aller Luftcrashs. Doch versagt die traditionelle Symbolik ihrer Schrottskulptur vor der Perfidie der neuen terroristischen Unfall-Dramaturgie.
Der New Yorker Architekt Lebbeus Woods, der gewöhnlich Gehäuse für Krisenzonen entwirft, bietet als Alternative zu diesem, funktionaler Architektur gewissermaßen impliziten „Fall“ ein filigranes Silbergeflecht aus dünnlabilen Stelen. In der Höhe krümmen sie sich wie Blitze. Auf den Besucher reagiert dieser Wald aus 900 Aluminiumhalmen flexibel: Er übersetzt seinen Schatten und das von außen einfallende Licht in sirrenden Sound – doch macht er ihn so auch unfallresistent?
Im Untergeschoss jedenfalls gibt es keine Chance, dem Inferno der Unfälle zu entgehen, die sich hier auf Künstlervideos und Fernseh-Archivmaterial ereignen. Zwischen schwarzen Ausstellungswänden bebt die Erde, implodieren Häuser und entgleisen Züge, explodieren Atomreaktoren und Uraniumbomben, brennen Wälder und Städte, vergiftet Dioxin ganze Landstriche, kippen Öltanker ihre verpestende Ladung in Meere und rasen Flugzeuge in Wolkenkratzer. Die schiere Quantität dieses erbarmungslosen Kaleidoskops der Destruktion entsetzt und desillusioniert total. Denn es macht auch bewusst, dass „der Unfall im Lauf des 20. Jahrhunderts zu einer gigantischen Industrie wurde“.
Paul Virilio erzählt, dass die Idee für sein Museum der Unfälle 1979 entstanden sei, kurz nach der nuklearen Katastrophe auf Three Miles Island. Demnächst sollen zwei Klonbabys geboren werden. Ein weiterer Schritt auf dem Weg in die Philofolie? Man muss nicht zur Kassandra werden, aber vielleicht hilft es, sich an einen Satz des französischen Schriftstellers und Politikers André Malraux zu erinnern: „Erst Kultur macht aus dem Menschen etwas anderes als einen Unfall des Universums“.
„Ce qui arrive“/„Unknown Quantity“, Fondation Cartier Paris, bis 30. März.
Eva Karcher
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