Kultur: Der Stegreifrevolutionär
Ehrung auf der Leipziger Buchmesse: Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch sucht Europa
Vorgestern hat er reihenweise literarische Skandale vom Zaun gebrochen, gestern sprach er als Revolutionär zu den ukrainischen Massen, heute könnte Juri Andruchowytsch mit seinem gepflegten Fünftagebart und den wachen Augen auch als charmanter Graf von Monte Christo durchgehen. Morgen wäre dann wieder ein Skandal an der Reihe, bevor Andruchowytsch auf der Leipziger Buchmesse den „Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ erhält. Doch jetzt sitzt der Ukrainer gesittet am leeren Tisch in der Wohnung am Stuttgarter Platz in Berlin, die er für ein Jahr als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes bewohnt. Nichts kann den leger gekleideten 45-Jährigen aus der westukrainischen Stadt Iwano Frankiwsk in den nächsten zweieinhalb Stunden ablenken. Er macht in den unterschiedlichsten Rollen eine gute Figur, weil er sie alle gleich ernst nimmt. Ein Profi.
Zeit lässt sich der neben Andrej Kurkow wohl bekannteste Autor seines Landes auch beim Schreiben. „Mir ist es wichtig, den Roman erst einmal zu erleben“, sagt er mit Nachdruck. Und es gibt offenbar viel zu erleben: Zwischen den Veröffentlichungen vergehen schon mal sieben Jahre. Vier Bücher liegen auf Deutsch vor, und mit dem zweiten hat Andruchowytsch die Terra incognita Ukraine in den Westen getragen. Sein versponnener und melancholischer Essayband „Das letzte Territorium“ (2003) erzählt von Zugfahrten zwischen Lwiw (Lemberg) und Kiew, von dem Volksstamm der Huzulen, der Mafia und dem wohl weltweit einzigen Reiterstandbild, das im 21. Jahrhundert neu errichtet wurde. Als die orangene Revolution ausbrach, war Andruchowytschs Publikum darüber kaum verwundert. Sie kannten die Ukraine bereits als ein Land des Möglichkeitssinns.
Man muss die orangene Revolution nur erwähnen, da sprudelt es aus Juri Andruchowytsch nur so heraus. Er weiß noch genau, was er am 24. November 2004 tat: Er sprach zu den Massen über den Wahlbetrug durch die Regierung Kutschma. Ein Volkstribun? Nein, so spricht kein Volkstribun. Andruchowytsch sitzt konzentriert am Tisch und unterstreicht sein beinahe perfektes Deutsch mit knappen Gesten. „Ich wollte meine ‚Songs für einen toten Hahn‘ in Tschernowitz vorstellen“, erinnert er sich und schildert die Situation damals, drei Tage nach dem Urnengang: die Empörung über die Wahlfälschungen. Die traditionelle politische Schläfrigkeit der Bukowina. Der riesige Basar in Tschernowitz. Der Ausflug in Landeskunde endet mit seiner Ankunft am Tschernowitzer Bahnhof, wo ihn die Organisatoren der Anti-Kutschma-Demonstration abfingen. „Sie hatten nichts vorbereitet und mussten den Leuten was bieten. Also habe ich vor dreißig- oder vierzigtausend Menschen eine kurze Rede gehalten und ein Gedicht gelesen.“ Andruchowytsch fällt sich ins Wort: „Das ist ja die Schwärmerei eines Veteranen!“
Es ist vor allem der Bericht eines Geschichtenerzählers, der mehr als alles Abschweifungen liebt – weshalb gleich die nächste folgt: wie er die nächsten Tage mit den Schriftstellern Andrej Kurkow, Oksana Zabuschko und Sergij Schadan im Kiewer Büro der Zeitschrift „Kritika“ herumsaß, allesamt Pessimisten, die miteinander Trübsal bliesen. „Hin und wieder mussten wir raus, zu den Demonstranten auf den Majdan, den Optimismus genießen. Ich denke an diese Zeit mit viel Sentimentalität. Es war wie ein Fest, trotz der Gefahr.“ Kopfschütteln, erneutes Eintauchen in das damalige Hochgefühl, wieder Skepsis.
Wechselbäder dieser Art verleihen dem Roman „Zwölf Ringe“ (2005) Tempo. Andruchowytsch isoliert in ihm ein zerstrittenes Ehepaar mit Tochter, einen österreichischen Fotografen, einen Regisseur, einen Literaturprofessor und zwei blonde Stripteasegirls in einem Karpatengasthof und jagt sie durch Schauer- und Kriminalgeschichten, amouröse Verwicklungen, Softpornos und Werbeclips, garniert mit ethnologischen, literaturhistorischen und geschichtlichen Exkursen. Einen Toten gibt es auch: Ukrainer hindert man eben nicht ungestraft am Genuss geistiger Getränke. „Zwölf Ringe“ ist eine mit höllischem Gelächter unterlegte Heimatgeschichte.
Dass die sowjetische Planwirtschaft diesen Autor einst zum Lektor landeskundlicher Bücher bestimmt hatte, schenkt einem den Glauben an den Weltgeist zurück. Allerdings fand der junge Mann nach dem Studium in Lemberg keine Stelle und wandte seine Talente ins Aufmüpfige. Die ersten Erzählungen kursierten im Samisdat, abends trat Andruchowytsch mit zwei Freunden im lyrischen Trio BuBaBu auf, was für Burleske, Balagan (Jahrmarktsbude) und Buffonade steht. Tagsüber aber half er als Drucker einer Tageszeitung, „blöde“ kommunistische Leitartikel unters Volk zu bringen. „Was sollte ich machen? Dass es im Ausland Stipendien gab, wusste ich nicht. Ich kam nicht einmal auf den Gedanken, dass ich hätte ausreisen können.“ Moskau lag nahe. Am Maxim-Gorki-Institut studierte er zwei Jahre kreatives Schreiben und verfasste seinen ersten Roman „Recreazij“ (1992). Dem folgte „Moskoviada“ (1993), der im nächsten Herbst auf Deutsch erscheint. Einen Tag im Mai wandert ein Ukrainer zunehmend betrunkener werdend durch Moskau.
Die meisten Bücher schrieb Andruchowytsch im Ausland, in der Villa Waldberta bei München sowie an der Universität von Pennsylvania, wo 2000/01 die „Songs für einen toten Hahn“ entstanden. Damals wurde einer seiner Freunde, ein Journalist, in der Ukraine ermordet. Alles deutete auf eine Beteiligung der Regierung hin. „Die Proteste waren Proben für das, was später kam“, erinnert sich Andruchowytsch. „Ich unterschrieb offene Briefe und initiierte Protestaktionen – und überlegte zum ersten Mal, ob ich politisches Asyl beantragen solle.“ Doch nach der Rückkehr in die Ukraine behelligte ihn niemand, er konnte weiter veröffentlichen. „Das ist am wichtigsten.“
So spricht denn auch der Botschafter aus ihm, von Kopf bis Fuß ein Diplomat im offenen Hemd, wenn er sich für seine jungen Landsleute, die die orangene Revolution getragen haben, mehr Reisefreiheit wünscht. „Ich erwarte“, Andruchowytsch blickt aus dem Fenster auf den ruhig daliegenden Stuttgarter Platz und wägt jedes Wort, „von westlicher Seite eine Erleichterung der Visumpolitik.“ Der andere, der raue Andruchowytsch wird bei der Verleihung des „Buchpreises zur Europäischen Verständigung“ zu Wort kommen – und über seine deprimierenden Erfahrungen mit eben dieser europäischen Verständigung sprechen.
Jörg Plath
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