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Große Intellektuelle: Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Verleger Siegfried Unseld (v.l.) im Jahr 1968.
© dpa / picture alliance

Wysocki schreibt über Adorno: Der Star als nächtlicher Stern

Gisela von Wysocki beleuchtet mit ihrem Buch „Wiesengrund“ den Meisterdenker und Frauenfreund Theodor W. Adorno. Die essayistische Erzählung leuchtet voller Geisteserotik.

Gleich der Anfang ist ein Treffer, hat seine sanfte Wucht. „Hellwach. Im Dunkeln warte ich ab. Um Mitternacht kommen die Gäste. Sie sind das Beste, was der Tag zu bieten hat.“

So spielt die Berliner Schriftstellerin Gisela von Wysocki sofort mit den Gegensätzen, erklärt ihre Erzählerin mit dem stilistisch eleganten kleinen clair-obscur zum Nachtlicht und entfacht Neugier. Denn jene „Gäste“ sind fremde Stimmen, die in Wysockis neuem Buch „Wiesengrund“ heimlich unter der Bettdecke erwartet werden. Hanna Werbezirk, wie die junge Erzählerin recht mehrdeutig heißt, verbirgt unter Kissen und Decken ein Radio, und der im Nebenzimmer so spät noch zu den Sternen aufsehende oder in Notizen vergrabene Vater, ein Astrophysiker, darf nicht hören, dass seine in der Schule tagsüber oft nachträumende Tochter zur Geisterstunde nicht schläft.

Elektrisierende Gespräche übers Akustische

Tatsächlich: zur Geisterstunde. Hanna nämlich hört das Nachtstudio von Radio Wien, fasziniert von den Gedanken und Stimmen der dort ausgestrahlten, durch des Vaters kosmische Sphären unbemerkt zur Tochter dringenden Dichter und Denker. Das spielt so um 1960, als der Hörfunk noch ein Leitmedium war. Nicht bloß einlullend, auch aufrührend – ob mit den ersten ins Nachkriegsland dringenden Verführungen der Popmusik, den Hitparaden von AFN und Radio Luxemburg, oder mit den damals intellektuell hochgerüsteten Nachtprogrammen, von Baden-Baden bis Wien.

Eine werdende Intellektuelle ist auch die Salzburger Gymnasiastin Hanna, die irgendwann, gedankensüchtig fiebernd und halb erstickt in ihrer „weltentrückten Höhlung“ mit dem „Fernweh im Kopf“, die Stimme aller Stimmen hört. Der Nachtstudiobeitrag heißt „Domizile des Augenblicks“, aber es geht ums Akustische, um die Musik Franz Schuberts, über die in elektrisierender, die junge Dame in ihrer Kissenfestung auch provozierender Weise ein Professor aus Frankfurt am Main spricht. Den Namen kriegt sie erst nicht richtig mit, irgendwas wie „Wesendonck“ oder „Riesenmund“. Später, bei weiteren Besuchen des um Radiovorträge offenbar nie verlegenen mitternächtlichen Gasts, erfährt sie: Die verzaubernde, weil mit einer unheimlichen, durch ihren Scharfsinn unwiderstehlichen Beredsamkeit vorwärtstreibende, dabei auch melodiös sinnliche Geisteskopfstimme gehört einem Herrn Wiesengrund.

Gisela von Wysocki hat bei Adorno studiert

Es ist der Familienname, den der hier Gemeinte im wirklichen Leben seit seiner von den Nazis erzwungenen Emigration nach Amerika und auch nach der Rückkehr an die Frankfurter Universität hinter dem Kürzel „W.“ zwischen Theodor und Adorno ein wenig kokett verborgen hielt. Seine Mutter, eine Sängerin, war ja eine geborene Calvelli-Adorno.

Gisela von Wysocki hat sich mit Hanna Werbezirk ein Alter Ego erdacht. Und sie knüpft an ihr voriges Buch „Wir hören Musik“ an, in dem sie vor sechs Jahren sehr fein gesponnen ein Porträt ihrer eigenen Berliner Kindheit in Krieg und Nachkrieg entworfen hat. Darin haben Melodien, Töne, Stimmen bereits eine mal magische, mal komische Rolle gespielt. Jetzt ist es das Porträt einer jungen Frau, die nach dem Abitur im fiktiven Salzburg zum Studieren ins ziemlich reale Frankfurt wechselt. Zu Professor Wiesengrund, Fach Philosophie – wie es einst die Autorin GvW getan hat, die bei Adorno studierte und später in ihren klugen Essays („Die Fröste der Freiheit“) in ganz eigener, begrifflich weniger aufgeladener Sprache doch erkennbar durch Adornos Zusammendenken von Geistes- und Zeitgeschichte, von Philosophie, Soziologie und Ästhetik beflügelt war.

Eine Liebe in Gedanken und Worten

Die persönliche Faszination Adornos alias Wiesengrund bleibt hier freilich im interessanten Halbdunkel, manchmal auch Ungefähren. Wysocki beschwört immer wieder und mitunter ein wenig redundant die suggestive Stimme, die Rasanz (weniger die Brisanz) des Denkens; sie entwirft Wiesengrunds geistige Physiognomie, aber nicht eigentlich das leibhaftige Phänomen. Die mal sonderbar starren, mal schwirrenden Augen kommen vor, das weiche Profil, eine kleinwüchsige Rundlichkeit. Doch wahrt Wysocki, mit spürbarer Scheu vor Aufdringlichkeit und gar Indiskretion, jene Distanz, die Botho Strauß einmal „unüberwindliche Nähe“ genannt hat. Zudem ist ihre Hanna kein schwärmender Backfisch, sondern eine Person mit eigenem Witz, die das allzu Durchgeistigte auch mal mit einem lautmalerisch hübsch simulierten, überraschend derben Österreichisch bricht.

Ein Mal, auf einer Gesellschaft der Frankfurter Bänker und Lenker, hat Wiesengrund, im Buch wie im Leben ein homme à femmes, seine Studentin als Assistentin (und kleines Schmuckstück) mitgebracht. Plötzlich ruht beim Dinner wie gedankenverloren die Hand des Professors auf dem Unterarm des Mädchens, was ihr missfällt. Wunderbar lakonisch heißt es nun: „Es ist auch so eine Liebesgeschichte, auch ohne Hand und Haut, denke ich.“ Ja, es ist eine Liebe in Gedanken und Worten, was sonst.

Eher essayistische Erzählung als Roman

Das ganze Buch, das statt des Untertitels „Roman“ eher das Attribut einer „essayistischen Erzählung“ verdient hätte, leuchtet voller Geisteserotik. Die quasirealistische Beschreibung und Anschaulichkeit ist dabei nicht gewollt. Wer beispielsweise eine vertiefte Schilderung des – hier nur angedeuteten – Milieus der beginnenden, von Adorno mit inspirierten (und sich am Ende vulgarisiert gegen ihn wendenden) Studentenrevolte vermisst, tut das zu Gisela von Wysockis eigenen, eigensinnigen Bedingungen.

Es ist darum auch kein Schlüsselroman über Adorno, zumindest öffnet sich die Tür nur einen Spalt weit. Aber durch ihn dringt die Stimme von Wiesengrund-Wysocki und manch poetisch pointierter Gedanke. Auch vergisst die dichtende Denkerin mit ihrem Esprit nicht Adorno-Wiesengrunds schöne Bemerkung über die Liebe, von der ein Mann nur eine Ahnung habe, wenn er schon einmal nachts unterm Balkon einer Soubrette gewartet habe. Für Hanna, die Tochter des Astrophysiker, bleibt ihr begehrter Star ein nächtlicher Stern. Letzter Satz: „Ich nenne ihn Wiesengrund.“

Gisela von Wysocki: Wiesengrund. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 265 Seiten, 22 Euro. Buchvorstellung Mi, 21.9., 19 Uhr, Katholischen Akademie, 22. 9. Literaturhaus Berlin.

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