Stipendiaten-Rede im Martin-Gropius-Bau: Der sprechende Tisch
Die Kunst der Grundlagenforschung: Marcel Beyer hält am Donnerstag eine Lobrede auf die Villa Massimo in Rom.
An einem sonnigen Junimorgen stehen die Stipendiaten und Mitarbeiter der Villa Massimo auf dem Kiesweg vor Studio 8 und hören dem Industriedesigner Konstantin Grcic dabei zu, wie er laut darüber nachdenkt, was ein Tisch sein könnte. Und warum es zwar einfarbige und gemusterte Tische gibt, aber keine beschrifteten Tische – was mich als Schriftsteller aufhorchen lässt.
Wir alle kritzeln auf Tischen herum: notieren einen Worteinfall oder auch nur eine Telefonnummer, zeichnen Kreise oder Quadrate, die Skizzen zu Malereien oder Häusern sein können. Aber ein Tisch, dessen Fläche und Beine von vornherein unter Einbeziehung von Schriftzeichen gestaltet ist, gibt es offenbar bislang nicht. Braucht ja auch keiner, könnte man sagen, so wie man sagen könnte: Warum ist es überhaupt nötig, über den Tisch nachzudenken, wo wir doch alle jeden Tag am Tisch sitzen und wissen, wie ein Tisch auszusehen hat? Nein, es ist natürlich nicht nötig in dem Sinne, dass die Welt ohne neue, neu ausgedachte Tische unterginge. Aber wer weiß ... Und: Ja, es ist dringend nötig, weil das Nachdenken auch über unsere für selbstverständlich genommene, alltägliche Lebenswelt einen Gewinn in sich darstellt – ganz gleich, ob sich die neuen Tische als den alten überlegen erweisen werden.
Im späten Herbst dann erlebe ich einen anderen imaginären Tisch. Es regnet in Strömen, die Massimo-Kinder haben ihre Spielplätze vom Garten in die Studios verlegt, und einer davon ist meine Küche: Hier steht eines Vormittags der sprechende Tisch. Im „normalen“ Leben heißt er Anna Lou und ist die sechsjährige Tochter des Architektenpaars Frauke Gerstenberg und Jan Liesegang – die übrigens auch Tische bauen, an denen wir mitunter bis weit in die Nacht im Garten gesessen haben. Als sprechender Tisch ist Anna Lou ein ganz aus Sprache bestehender, ein imaginärer Tisch, da sie unter dem Küchentisch hockt und aus dem Leben des sprechenden Tischs erzählt.
Ein dritter Tisch, diesmal ein ganz realer, fester, nämlich aus massivem Stein, steht auf dem Vorplatz des Haupthauses der Villa. Hier frühstücken die Stipendiaten gemeinsam, hier wird mittags, wenn die Villa Gäste hat, ein Imbiss serviert, um diesen Tisch stehen wir im Morgengrauen nach einem rauschenden Fest. Er ist äußerst solide, und doch traue ich ihm nicht ganz, weil ich nicht so recht weiß, ob schon ein römischer Kaiser sein Caprese hier gegessen hat, ob die dunklen Spuren auf der Steinplatte Indizien dafür sind, dass sie in grauer Vorzeit Schauplatz unappetitlicher Kulte war, bei denen Blut floss, oder ob irgendwann einmal gegrillte Heilige hier gebettet wurden. Ein Tisch, der die Fantasie zum Glühen bringt.
Ein Tisch ist ein Tisch, mag man jetzt sagen, was soll das Gewese? Nö, da mache ich nicht mit. Der Tisch, auf dem Silvio Berlusconi im Lauf unseres Massimo- Jahrs minderjährige Prostituierte tanzen lässt, ist entschieden ein anderer als der, der mir gerade beim Schreiben fehlt, im Eurocity zwischen Dresden und Berlin, mit dem Notizblock auf den Knien.
Ein mit Schriftzeichen versehener ebenso wie ein sprechender, ein bemalter ebenso wie ein gemalter, ein tönender ebenso wie ein lauschender, ein ausgedachter ebenso wie ein solider Tisch: Das ist, natürlich, die Villa Massimo selbst.
Dass dieser Tisch namens Villa Massimo reich gedeckt ist: Großartig! Wenn jemand meint, das sei ein Luxus: Stimmt genau! Wer allerdings meint, dieser Luxus sei überflüssig, der soll sein geistiges Tütensüppchen bitte in Ruhe weiter vom Trottoir aufschlürfen.
Der Dichter Marcel Beyer hält am Donnerstag (24.02.2011) im Berliner Martin-Gropius-Bau die Rede der Stipendiaten der römischen Villa Massimo. Aus dem Jahrgang 2010 werden in Lesungen, Konzerten und einer Ausstellung ab 19.30 Uhr außerdem Arbeiten des Architekten Jan Liesegang, der Bildenden Künstler Jana Gunstheimer, Ulrike Kuschel und Heidi Specker sowie der Komponisten Philipp Maintz und Anno Schreiner präsentiert. Einlass ist ab 18.45 Uhr, der Besuch der Veranstaltung ist kostenfrei. Von Marcel Beyer erschien zuletzt der Roman „Kaltenburg“ (Suhrkamp Verlag).
Von Marcel Beyer
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