Max Frisch zum 100.: Der Schriftversteller
Er war überzeugt, dass auf der Welt noch so viel passieren kann, das eigene Ich einem aber immer am allernächsten ist. Weiß ich denn selbst, wer ich bin? Vor 100 Jahren wurde Max Frisch geboren.
Als Max Frisch in den frühen fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts an seinem Weltroman „Stiller“ arbeitet, steckt er in großen Zwiespälten. Er leitet in Zürich ein Architekturbüro, lebt als Vater von drei Kindern in einer kriselnden bürgerlichen Ehe. Und er weiß genau, „dass bei mir persönlich eine große Furcht ist vor der Gewöhnung, der Gewöhnung als Routine, als Pseudo-Sicherheit und als Bequemlichkeit, also als ein Leben lähmendes Element“. Immer wieder zieht es ihn in die Welt und zu anderen Frauen. Umso hartnäckiger schreibt er seine Theaterstücke und Bücher; das „Tagebuch 1946 bis 1949“ ist gerade erschienen, sein Stück „Graf Öderland“ aufgeführt worden.
Das hat zwar finanziell kaum Auswirkungen; Stipendien aber bekommt er, und die lassen ihn fast zwei Jahre in den USA und Mexiko zubringen, meist ohne Familie und ohne viele Gedanken an seinen Brotberuf. Nach ersten „Stiller“-Skizzen mit dem Titel „Der Spießer“ leistet Frisch in den USA weitere Vorarbeiten für den Roman, den er nach seiner Rückkehr 1952 und 1953 konzentriert zu Ende schreibt. Ein Mann Anfang vierzig, der endlich wissen will, in welchem Leben er eigentlich zu Hause ist, welche Lebensform die seine ist: die als Bürger oder die als Künstler.
Viele dieser Zwiespälte und Überlegungen, ob es möglich ist, ein Anderer zu werden, sind in „Stiller“ eingegangen. Während Stiller jedoch scheitert, beschert der Roman seinem Autor endgültig den Durchbruch. Kurze Zeit später verkauft Frisch nicht nur sein Architekturbüro, sondern er verlässt Frau und Kinder, entledigt sich aller bürgerlichen Verpflichtungen. Weltberühmt wird er vor allem als Autor der Identitätsproblematik, der Selbstentfremdung, der individuellen Freiheitssuche.
Das klingt zunächst abschreckend, zumal viele Schülergenerationen richtiggehend malträtiert worden sind, mit Stiller über Fragen wie diese zu sinnieren: „Weiß ich denn selbst, wer ich bin?“. Liest man den Roman jedoch wieder, ist man überrascht, wie gut die Stiller-Problematik ins 21. Jahrhundert passt, wie heutig das alles ist. Die Ehekrisen von Stiller und seiner Julika, von Sturzenegger, dem Staatsanwalt, und seiner Sibylle, die auch mal mit Stiller was hat; die Reisegeschichten von Stiller alias White, die Natur-, Landschafts- und Stadtlandschaftsbeschreibungen Frischs; das Räsonnieren des Heldens in seiner Zelle über seine Verwandlungsversuche, seine Weigerung, die ihm zugeschriebene Identität als Künstler und Zürcher Bürger Ludwig Anatol Stiller anzuerkennen - all das fügt sich zu einem sinnvollen literarischen Ganzen.
Sehr nahe kommt Stiller einem schließlich, als er nach einem Besuch früherer Freunde völlig erschöpft stöhnt von der Last der Fremdbestimmtheit, dem Wissen darum, dass Herkunft und Gesellschaft der Selbstbestimmtheit gezielt im Weg stehen: „Es ist schwer, nicht müde zu werden gegen die Welt, gegen ihre Mehrheit, gegen ihre Überlegenheit, die ich zugeben muss. Es ist schwer, allein und ohne Zeugen zu wissen, was man in einsamer Stunde glaubt erfahren zu haben, schwer, ein Wissen zu tragen, dass ich nimmer beweisen oder auch nur sagen kann.“
Ich ist ein Anderer, ein Leben ist kein Privatbesitz, und die Sehnsucht nach anderen Leben ist nicht zuletzt selbst lebensbestimmend: Max Frisch hat das alles unablässig durchgespielt. Nach „Stiller“ noch freier, frivoler, lustiger und selbstironischer in dem Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Oder in dem Stück „Biografie: ein Spiel“, in dem die Hauptfigur, Kürmann, von dem sogenannten Registrator immer wieder die Gelegenheit bekommt, sich neu zu erfinden: Kürmann jedoch landet bei jedem neuen Versuch in der ersten, eine siebenjährige Unglücksehe zur Folge habenden Liebesnacht mit seiner Frau Antoinette. Es ist sehr schwer, sich zu verwandeln, auszubrechen, das Leben anders durchzuspielen, ein Anderer zu werden.
Auch das eine Lehre, die Frisch so lebendig macht. Da braucht es kaum den Hinweis Julian Schütts, der in seinem Buch „Biografie eines Aufstiegs“ über die erste Hälfte von Frischs Leben schreibt, dass „der Wunsch nach einem eigenen Ich und die Schwierigkeiten, ein solches zu finden, im globalisierten Zeitalter, das zugleich ein gläsernes Zeitalter des elektronischen Dauervernetztseins ist, nicht kleiner geworden sind“. Frisch ist nicht nur mit „Stiller“, sondern auch, so wie er in Folge ein durchaus rastloses Leben führt zwischen Rom, Berlin, New York und der Schweiz, mit wechselnden Frauen wie Ingeborg Bachmann, seiner zweiten Ehefrau Marianne, der „Montauk“-Figur Alice Locke-Carey, zu einem Trendsetter für das geworden, was inzwischen viele nicht zuletzt im Internet praktizieren: ein Spiel mit den Identitäten, mit den Biografien. Eine virtuelle Identität hier, schnellere Partnerwechsel dort, für die selbst Kinder kein Hindernis darstellen. Max Frisch hat die Schwierigkeiten mit dem Lebenlauf und der Liebe im Zeitalter unendlicher Freiheit literarisch vorweggenommen.
Er war überzeugt, dass auf der Welt noch so viel passieren kann, das eigene Ich einem aber immer am allernächsten ist. Dieses Ich bildet den Kern von Frischs Werk, sorgt für den Zusammenhalt, so disparat es ist mit den Tagebüchern, Theaterstücken, Fragebögen, Erzählungen, den wenigen Romanen. Er schrieb Politparabeln wie „Biedermann und die Brandstifter“ und „Andorra“, er engagierte sich selbst kurz vor seinem Tod noch für „eine Schweiz ohne Armee“ – und kreiste trotzdem stets um sich selbst. So wie sein „Homo Faber“, dieser moderne Jedermann, Ingenieur von Beruf, der von der Natur, den Frauen und dem Zufall aus der Bahn geworfen wird. Am Ende erkennt er: „Mein Irrtum: dass wir Techniker versuchen, ohne den Tod zu leben“. Auch das ein Frisch-Satz, der die Zeit überdauert. So wie überhaupt dieser schlanke, kühle Roman mit seinem fürchterlich bornierten, so unkomisch tragischen Helden. Nur dass es heutzutage nicht mehr nur die Techniker sind, sondern wir alle, die versuchen, den Tod so gut es geht auszuschalten, aus unserem Bewusstsein, unserem Leben.
Frisch war bei aller Lebenszugewandtheit früh zum Chronisten auch des Alters geworden, zu einem Autor, der sich gern und manchmal erschrocken über die Gebrechlichkeiten des Körpers ausließ, von den Falten der Haut bis zum Krachen in Gelenken und Knochen. Der Tod, das wusste er in seinen letzten Jahren gut, erschöpft von seinen zahllosen Biografiespielereien, ließ „keine Variante“ mehr zu. Sein Tagebuch aus den frühen achtziger Jahren, 2010 als „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ veröffentlicht, ist vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Tod, gerade vor dem Hintergrund der Krebserkrankung eines 20 Jahre jüngeren Freundes. Frisch vollendete das Tagebuchprojekt nicht, gab es nicht zur Veröffentlichung frei; unklar ist, ob aus Resignation oder weil er es nicht für gut genug befand. Er war eben lieber ein Autor des gelungenen Lebens, der Lebensvielfalt, der gelungenen Arbeit – und keiner, der wie in diesem Tagebuch mit dem Schreiben hadert und merkt, dass er nichts anderes macht als Wörter gegen Wörter austauschen und Sätze zu schütteln, „wie man eine kaputte Uhr schüttelt“.
In einem Eintrag diagnostiziert er, dass Schreiben „ein anderes Unternehmen“ geworden ist. Nicht mehr für die Nachwelt, sondern „ein Gespräch mit Zeitgenossen, nichts weiter.“ Zwanzig Jahre nach seinem Tod, angesichts seines morgigen 100. Geburtstages, könnte es aber sein, dass Max Frisch diese Feierlichkeiten gut übersteht und noch viele Jahrzehnte mit Gewinn gelesen wird.
Neue Literatur zu Frisch: Beatrice von Matt: „Mein Name sei Frisch“ (Nagel & Kimche); Julian Schütt: „Max Frisch“ (Suhrkamp); Volker Weidemann: „Max Frisch. „Sein Leben, sein Werk“ (Kiwi).
Frisch-Lesungen im Berliner Ensemble am 15. Mai mit Hermann Beil sowie am 16. Mai mit Bruno Ganz.
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