zum Hauptinhalt
Vorliebe für
© dapd

Deutscher Buchpreis: Der Schmerz der Tiere, das Leid der Dinge

Albträume aus der Zukunft: Clemens J. Setz erzählt in seinem fantastischen Roman „Indigo“ von Kindern mit toxischer Aura.

Clemens Setz nennt sich die Hauptfigur des neuen Romans von Clemens J. Setz. Heißt es also schon wieder, nachdem uns Felicitas Hoppe kürzlich erst mit „Hoppe“ erfreut hat: Autobiografie – ein Spiel? Nein, „Indigo“ hat mit autobiografischen Ambitionen wenig zu tun. Es handelt sich um eine fantastische Geschichte. Gerade deshalb ist der Name Setz eine der vielen Verbürgungsstrategien, die der gewitzte, unter Genieverdacht stehende Autor unternimmt. „Indigo“ stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, nachdem der 30-jährige Grazer im vergangenen Jahr bereits den Leipziger Buchpreis für den Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ erhalten hat.

„Lieber Clemens Setz, ich nehme an, Sie würden gern erfahren, was alles passiert ist, nachdem Sie das Bewusstsein verloren haben“ – so der erste Satz. Clemens Setz ist kollabiert und hat eine klaffende Platzwunde erlitten. Der Mathematiklehrer ist einem Indigo-Kind zu nahe gekommen. Indigo heißt eine Krankheit, bei der diejenigen, die an ihr leiden, vor allem andere leiden lassen. Als hätten die betroffenen Kinder eine toxische Aura, beginnt es bei den Kontaktpersonen nach wenigen Minuten mit Schwindel, Krämpfen, Schweißausbrüchen und schwerster Übelkeit. Auf Dauer kann es „zur permanenten Schädigung aller inneren Organe“ kommen. Mütter von Indigo-Babys erbrechen sich in die Wiegen.

Andere dürfen ihnen nicht nahe kommen – aber die Kranken haben selbst Schwierigkeiten mit der Nähe. Indigo bewirkt eine Verschiebung im Frequenzgang der Empathie, eine schwerwiegende soziale Störung. Das ist das große Motiv des Romans, das ihn hinaushebt über die postmodernen Spiegelfechtereien von Metafiktion und Selbstreferenzialität, die in Setz-Rezensionen gern bemüht werden. Die Wissenschaft debattiert die „Proximitätsproblematik“. Die Kinder leben in ihrer eigenen „Zone“. Im Spezialinternat gibt es für sie sogenannte „Lichtenberghäuschen“ – abgesonderte Stuben, in denen sie lernen können. Anderswo kommt es zu merkwürdigen Mutproben. Gesunde Jugendliche besuchen einen Indigo-Kumpel, plaudern mit ihm am Fenster (wer hält es am längsten aus?) und kotzen dann schwitzend in die Büsche.

Zu den Hauptfiguren gehört der 29-jährige Robert Tätzel, selbst ein ehemaliger Schüler am Indigo-Internat. Er ist Maler geworden, spezialisiert auf die Darstellung gequälter Tiere. Es zeigt sich, dass Indigo in späteren Jahren nachlässt, die Betroffenen aber zeitlebens an der Störung des empathischen Vermögens leiden und auf die richtige „Einstellung“ durch Psychopharmaka angewiesen sind. Darüber hinaus muss Robert zur Abreaktion öfter mal ganz schnell etwas kaputt machen. Als ihm die Freundin ausgespannt wird, dringt er in die Wohnung des Rivalen ein und verunziert sie mit Hundekot. Die Frustrationstoleranz ist gering – Indigo scheint gewissen aktuellen Syndromen nah verwandt.

Clemens Setz, der am Indigo-Internat unterrichtet, kommt mysteriösen Vorgängen auf die Spur. Schüler verschwinden – was hat es mit den sogenannten „Relokationen“ auf sich? Angesteckt von pynchonesker Paranoia, vermutet der Mathelehrer Verschwörerisches. Werden die Kinder zu Folterzwecken eingesetzt? Werden sie selbst gequält? Welche Rolle spielt der zwielichtige Dr. Rudolph, der Direktor des pädagogischen Instituts? Setz beginnt zu recherchieren, besucht die Eltern von Indigo-Kindern und verfolgt die Schicksale ehemaliger Schüler. Nach einem Streit mit dem Direktor muss er das Internat verlassen. Einem Verbrechen auf der Spur, gerät er selbst in die Mühlen der Justiz. Hat Clemens Setz einem rumänischen Tierquäler bei lebendigem Leib die Haut abgezogen?

Dieser Schriftsteller weiß, dass ein Autor des Fantastischen vor allem eins sein muss: genau. So fügt er dem Roman Pseudodokumente ein, darunter klinische Anamnesen, Interviews mit Indigo-Forschern und eine Mappe mit Quellentexten: kopierte Seiten aus alten Büchern, etwa eine kleine Erzählung von Johann Peter Hebel. Man reibt sich die Augen: Die Geschichte der „Jüttnerin von Bonndorf“ beschreibt ein Indigo-Phänomen. Eine Frau hat dem Kometen des Jahres 1811 zu sehr hinterhergeschaut und dann ein Kind zur Welt gebracht, das „Schmerzen im Leib und Unwohlsein in der Seele“ verursacht. Eine tolle Geschichte. Nur: in Hebel-Sammlungen ist diese Anekdote nicht zu finden. Handelt es sich um ein Meisterstück literarischer Mimikry, und gilt das ebenso für die Passagen aus Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“ und die Ausführungen über „üble Fernwirkung“ in Frazers „Golden Bough“?

Kurios die Figurenbeschreibungen, etwa wenn Setz erstmals Dr. Rudolph begegnet: „Er schien ein wenig zu hell, auch der Kontrast zu seinem Gesicht war merkwürdig eingestellt. Man bekam Lust an imaginären Reglern herumzuspielen und damit seine Farbzusammenstellung zu verändern.“ Erst recht hat der Blick der Indigokranken auf die Menschen etwas Dekonstruktives. Zu den Höhepunkten gehören fantastische Intermezzi, bei denen es fast immer um Verlorenes geht: ein Kind, das inmitten einer Gruppe tanzender Erwachsener für immer verschwindet, all die Haare, die der U-Bahn-Wind den Leuten vom Kopf reißt und die sich in den Schächten zu monströsen Gebilden verfilzen, Ehemänner, die bloß „Zigaretten holen“ gegangen sind – es gibt da wohl einen Geheimknopf am Zigarettenautomaten, der den Zugang zu einem weltweiten Tunnelsystem öffnet, durch das die Männer an entlegene Orte transportiert werden, sofern sie sich nicht zu jenen Spezialisten gesellen, die das System warten. Man kann solche Passagen als Kabinettstücke bewundern. Aber sie sind mehr als das: verflochten ins Netz der Motive.

Ein Schlüsselsatz fällt gegen Ende: „Schon als ich Kind war, war mein Mitleid mit Dingen und Tieren stärker gewesen als mit Menschen.“ Nach dieser Devise sind in das Buch zahlreiche Ding- und Tierschicksale eingestreut: ein einsamer Handschuh im Dreck, ein kaputter Regenschirm, der aussieht wie „ein Rabe mit gebrochenen Flügeln“, ein in Dunkelhaft gehaltener Hahn, im Namen der Hirnforschung gefolterte Laboraffen, in den Weltraum geschossene Hunde, ein mit Starkstrom getöteter Elefant. All diese Bilder ergeben eine Ikonografie des Leidens und der Verlorenheit, die in Resonanz steht mit den Indigokindern in ihrer „Zone“. Das Wuchern der Motivreihen ist wichtiger als die Erzeugung von Spannung und die Auflösung des Plots. Es ist ein Roman für Fährtenleser. So reihen sich die Episoden auch nicht chronologisch hintereinander; „Indigo“ springt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft des Jahres 2021 hin und her.

Doch das Mysteriöse droht am Ende zur forcierten Geheimniskrämerei zu werden. Die Handlungsstränge laufen zwar aufeinander zu, aber wenn sie sich treffen, kommt es nicht zum Showdown. Denn Clemens Setz ist ein Psycho-Wrack, wenn er Robert Tätzel am Ende wiederbegegnet: freigesprochen, aber früh gealtert, der Mathematik verloren gegangen, ein abgehalfterter Autor, der kaum noch einen geraden Satz sprechen kann. Immerhin hat das Buch einen hinreißenden Schlussabsatz, eine Beschreibung des einsamen Mondes, so schön und einfallsreich, dass einem der Mund offen steht.

Clemens J. Setz: Indigo. Roman. Suhrkamp, Berlin 2012. 479 Seiten, 22,95 €.

Zur Startseite