George Tabori zum 100.: Der Scherz. Der Schmerz. Die Liebe
George Tabori wäre in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden. Erinnerungen an den großen Theaterspielmacher, der sich selbst immer "Playmaker" nannte.
Ein graumähniger Herr betritt die Bühne und setzt sich in einen für ihn bereitgestellten Sessel direkt an die Rampe. Bei dem Wort Rampe zuckt man ein wenig zusammen, wenn man an die Familiengeschichte des Mannes dort im Sessel denkt. Es ist ein Sonntagmittag vor zwanzig Jahren, und eine „Rede über das eigene Land“ steht in den Münchner Kammerspielen auf dem Programm. Doch anders als alle illustren Vorgänger und Nachredner dieser Matinee-Reihe steht der Protagonist nicht am Pult oder liest etwas vor an einem Tisch.
Der schöne ergraute Mann beginnt in seinem Sessel frei zu sprechen, frei zu erzählen. Mit seinem ungaro-britischen Bariton, der etwas metallisch und doch warmherzig klingt und in dem dank eines leichten Näselns oft ein ironisch-amüsierter Oberton mitschwingt. Dabei begrüßt er die Zuschauer im voll besetzten Theater gar nicht erst, sondern sagt, dass er viel mehr Fragen als Antworten habe. Dies beginne schon mit der Anrede: Wie könne er einfach sagen „Meine Damen und Herren“? Warum denn „meine“, da keiner der Anwesenden ihm gehöre, und ob alle Frauen hier im Publikum überhaupt „Damen“ seien, das wisse er nicht, er kenne die meisten von ihnen so wenig wie die Herren. Auch das Wort „Herr“ habe, genau genommen, einen Beiklang, der ihm nicht recht gefalle.
So beginnen die Schwierigkeiten gleich am Anfang, zumal, da am Anfang das Wort war.
George Tabori, jener schön ergraute Mann, zweifelte immer am allzu Selbstgewissen. Der Zweifel gehörte für ihn wie bei allen größeren Geistern von Euripides bis Kopernikus und von Hegel und Einstein bis Woody Allen zum Urgrund des Daseins. Er ist – lange vor der Theatertheorie Bertolt Brechts – der erste Verfremdungseffekt: ein Einspruch gegen die Übermacht einer scheinbar nicht zu verrückenden Realität. Und ohne ihn, den kleinen Gott des Zweifels, gäbe es auch keinen Humor, keine Ironie, kein lachendes Infragestellen der Welt oder zumindest der eigenen Person.
Der lähmenden Todtraurigkeit wollte er nie zu viel Spielraum geben
Der Zweifel, aber nicht die Verzweiflung. Allenfalls die verzweifelte Komik, in der Schmerz und Scherz sich schneiden wie die Klingen einer Schere, die morden kann, aber auch den heilenden Faden bemisst. Wenn man George Tabori nach seinem Beruf fragte, nannte er sich: „a playmaker“. Und weil er, anders als sein Vater und einige seiner Verwandten, dem Holocaust entkommen war, wollte der ungläubig gläubige Freigeist einer lähmenden Todtraurigkeit nie zu viel Spielraum geben. Nicht im Leben und nicht in der Kunst. Dazu lachte, lebte und liebte der Spielmacher George Tabori zu gerne.
Nur die Liebe war ihm, trotz all ihrer Unruhestiftung, Eifersüchte und Verrücktheiten, über jeden Zweifel erhaben. Von der Liebe sprach Tabori auch, als er sich 1992 für den Georg-Büchner-Preis bedankte. Es war ja ohnehin ein überraschender Akt der Zuneigung und späten Liebe: dass der in der Dämmerung des Habsburger Reichs 1914 als György Tabori geborene ungarische Jude mit britischem Pass nach all seinen langen Fluchten und Wanderjahren als erster Englisch schreibender Romancier, Dichter und Dramatiker diese höchste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur erhielt. Und dann sprach er in seiner Dankesrede über die Liebe. Über dieses pathetische, manchmal peinliche, im Englischen etwas grunzend klingende – „love“ – und im Deutschen so silberhelle Wort „Liebe“.
Er hatte keine Land-Liebe, denn er hatte kein eigenes Land und wollte es nicht haben. Seine Heimat, sagte er, war das Bett und die Bühne, und außer einem Flügel zum Musizieren oder sich darin Verstecken war das Bett auch sein Lieblingsrequisit auf der Bühne. Die Liebe aber galt zuerst den Frauen, sie galt zudem der Literatur und irgendwann auch dem Theater.
Am kommenden Samstag wäre er 100 Jahre alt geworden. Ab heute Abend im Berliner Ensemble, seiner letzten Bühne, wird er nun gefeiert, mit Lesungen, Aufführungen, Filmen, Fernsehaufzeichnungen, Hörspielen. Am Donnerstagabend wird im Berliner Festspielhaus zudem der George-Tabori-Preis verliehen (mit Sasha Waltz & Guests), und am 24. Mai, dem Geburtstag, findet im BE eine Tabori-Gala statt mit David Bennent, Cornelia Froboess, Miriam Goldschmidt, Ursula Höpfner-Tabori, Leslie Malton, Jürgen Flimm, Claus Peymann und vielen anderen. In Wien, Taboris anderer Theaterheimat, wollen ihm am 22. 5. seine Lieblingsschauspieler Gert Voss und Ignaz Kirchner eine besondere Hommage bereiten: als Variation seiner/ihrer legendären, 1998 auch beim Berliner Theatertreffen bejubelten Burgtheater-Beckett-Inszenierung „Fin de partie“ („Endspiel“)...
"Man denkt an sein Leben nicht zurück im Sinne einer flüssigen Geschichte. Sondern in Form von Anekdoten."
Wir waren die letzten drei Jahrzehnte seines langen Lebens miteinander befreundet und hatten 1994 zu seinem 80. Geburtstag ein vielstündiges Interview gemacht. George sagte dabei: „Wenn man älter wird und versucht, das Leben wiederherzustellen, dann denkt man nicht im Sinne einer flüssigen Geschichte wie in einem Roman. Es ist mehr mosaikartig, voller Anekdoten, Legenden. Was davon wahr ist, was eine direkte Erinnerung ist, was nur erzählt wurde, das weiß man manchmal nicht mehr. Ich weiß nur, 1914 war nicht das beste Jahr, geboren zu werden, so kurz vor dem Krieg. Aber meine Geburt soll sehr leicht gewesen sein, so hat man mir erzählt. Meine Mutter hatte dauernd gelacht während der Wehen, und seither hat das Lachen von Frauen eine ganz besondere Bedeutung für mich, es erinnert mich an meine Geburt.“
Vier Jahre davor, im Frühjahr 1990 kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, sind wir für einen gemeinsamen Film zusammen nach Budapest gefahren und haben sein Elternhaus aufgesucht. George Tabori war nach dem Abitur zunächst als Hotelfachschüler nach Berlin gegangen, hatte Hitler am Tag der Machtergreifung im Fackelschein des 30. Januar 1933 gesehen – und kehrte zurück nach Budapest, ging dann als Student und werdender Autor nach London: dem ersten Exil seiner Lebensreise, die ihn während des Kriegs als Auslandskorrespondent (und Geheimagent) auf den Balkan führte, nach Istanbul, Jerusalem, Kairo, später als Romanschriftsteller wieder nach England und Südfrankreich. Als Drehbuchautor lud ihn Hollywood ein, wo er mit Hitchcock gearbeitet hat und auch mit Brecht. Erst in New York begann in den 1950er Jahren seine Karriere als Dramatiker und Regisseur. Und seit 1969 seine „Kannibalen“, das erste Stück, das in Auschwitz spielte, wo sein Vater 1944 ermordet wurde, seit die „Kannibalen“ im Berliner Schillertheater die Szene und viele Köpfe und Herzen bewegt hatten, wurde das deutschsprachige Theater Taboris Ziel. In Berlin, Bremen, München, Bochum, Wien und am Ende wieder Berlin, wo er am Schiffbauer Damm, um die Ecke des Berliner Ensembles, im Sommer 2007 gestorben ist.
Sein Humor war mindestens so sarkastisch wie der von Heiner Müller - nur menschenfreundlicher
Damals in Budapest, 1990, war es das erste Mal, dass George Tabori den Ort seines Anfangs wiedersah. Das Mietshaus, in dem die Familie Tabori bis zur Deportation des Vaters gewohnt hatte, stand äußerlich noch unverändert, wir gingen vom Innenhof über eine umlaufende Galerie in das obere Stockwerk und klingelten an der Tür, hinter der George geboren wurde. Doch niemand öffnete.
Am Abend, nach den Dreharbeiten, hatte er ein Restaurant in der Budapester Altstadt ausgesucht, wir fuhren im Taxi dorthin. Unterwegs sprach er mit dem Fahrer auf Ungarisch, lachte plötzlich kurz auf und übersetzte für mich: „Ich habe ihn gefragt, wie es jetzt sei in der neuen Freiheit. Oh, wunderbar, hat der Taxifahrer gesagt, wir haben jetzt alles, was wir wollen, Pornografie und Antisemitismus!“
Diese Pointe gefiel ihm, trotz allem – weil der Tabori-Humor mindestens so sarkastisch war wie der seines Freundes Heiner Müller, nur weniger zynisch, menschenfreundlicher. Zum Menschlichen (und Menschenmöglichen) gehört indes die Wahrheit. Und er sagte: „Die Wahrheit ist nie geschmackvoll.“ Ein anderer Tabori-Satz: „Auschwitz ist jenseits der Tränen.“ Also durfte es, ebenso wie Gedichte, auch das Lachen nach (nicht über) Auschwitz geben, denn sonst hätte der Bier- und Bluternst der Nazis noch nachträglich gesiegt. Und so war George Tabori der Erste, der seit Charlie Chaplin, mit dem er befreundet war, auch eine Komödie über Adolf Hitler schreiben konnte („Mein Kampf“, ein Welterfolg).
In unserem Gespräch zu seinem Achtzigsten hat er übrigens auch diese Anekdote erzählt: „Ich glaube, ich war drei oder vier Jahre alt, da hat mich mein Vater zum ersten Mal in den Zirkus ausgeführt, und ich fand alles großartig, die Clowns und die Tiere. Am Ende kam dann eine wunderschöne Frau in einem Glitzertrikot und kletterte hoch auf das Trapez und verbeugte sich, ging los über das Seil und fiel runter. Sie lag in einer Blutlache. Sie war wirklich tot. Für Jahre dachte ich, jeden Abend ist das so, jeden Abend kommt eine schöne Frau, klettert hoch aufs Trapez, verbeugt sich, lächelt, geht los – und fällt herunter. Also das Existentielle, das Wahre, die echte Tragödie, die eigentlich nur das Theater verwirklichen kann, diese Utopie blieb in mir.“ – Mit seiner Utopie und seinem wahr erfundenen Jahrhundertwerk lebt George Tabori weiter.
Der Text ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Vorwort zur im Steidl Verlag erscheinenden Ausgabe der Gesammelten Theaterstücke George Taboris. Der erste Band wird zusammen mit „Exodus“, den Lebenserinnerungen aus Taboris Nachlass (Wagenbach Verlag), am heutigen Sonntag um 18 Uhr auf der Probebühne des Berliner Ensembles vorgestellt (Eintritt frei).
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