Berliner Theaterpreis für Jürgen Holtz: Der Schauspieler, dem man zuhört
Denken gehört zum Handwerk: Eine Begegnung mit dem Schauspieler Jürgen Holtz, der am Sonntag den Berliner Theaterpreis erhält.
Normalerweise ist der greise Diener Firs in Tschechows „Kirschgarten“ eine Randfigur. Von seinen Arbeitgebern, die ihr Gut an einen Sozialaufsteiger verlieren, wird er bei der Abreise vergessen. Dass hingegen in Thomas Langhoffs Inszenierung am Berliner Ensemble Tausende Kirschgärten abgeholzt werden könnten, bevor auch nur ein Zuschauer diesen Firs vergäße, hat einen einfachen Grund: Er wird gespielt von Jürgen Holtz. Absolut aufrecht im Dienen und messerscharf im Denken, lässt dieser Schauspieler alle Herr-und-Knecht-Diskurse mitschwingen, die in den letzten zwei Jahrhunderten maßgeblich waren. Selten fallen erhöhte Hirnaktivität und sinnliches Spiel derart organisch zusammen.
Der mit 20 000 Euro dotierte Berliner Theaterpreis beschäme ihn, sagt Holtz. „Ich habe das Gefühl, als stände ich als einzelner, letzter Zahn im Mund irgendeines Greises, wie eine Ruine. Meine Partner sind ja alle tot.“ An seiner Dankesrede – in der sie von Adolf Dresen bis Heiner Müller, von Einar Schleef bis Jürgen Gosch alle vorkommen werden – feilt Jürgen Holtz seit Wochen.
Der 1932 in Berlin geborene Schauspieler, dem ein halbes Jahrhundert Theatergeschichte in Kopf, Muskeln und Knochen steckt, war ja nie einfach Zaungast oder Flaneur, sondern immer Protagonist der Zeitläufte. Als Hamlet raste er 1964 unter Adolf Dresen in Greifswald mit einem riesigen Kerzenleuchter quer über die Bühne und verstand konzeptionsgemäß „den eigenen Text nicht mehr“, der da aus ihm heraus „kreischte“. Nicht minder prominent war Holtz 1975 als Jean im Berliner Ensemble an Einar Schleefs und B. K. Tragelehns Strindberg-Ereignis „Fräulein Julie“ beteiligt. Fünf Jahre später öffnete er als Debuisson in Heiner Müllers Revolutionsstück „Der Auftrag“, das der Autor im dritten Stock der Berliner Volksbühne selbst uraufgeführt hat, jeden Abend das Fenster zur Straße und rief hinunter: „Im Schlaf der Völker stehn die Generäle auf und zerbrechen das Joch der Freiheit, das so schwer zu tragen ist. Merkst du, wie es dir die Schultern krumm zieht?“
Im real existierenden Sozialismus – vom Schauspieler lapidar „R. E. S.“ genannt – „ging das natürlich gar nicht“. Keine dieser Inszenierungen erlebte mehr als zehn Aufführungen. Versammlungen, auf denen sich konsternierte Künstler aus der absurden Frage herauswinden mussten, ob sie „überhaupt für die DDR“ seien, gehörten für Holtz zur Tagesroutine. Auch als Sauhirt Moritz Tassow an der Berliner Volksbühne, wohin ihn Heiner Müller aus Greifswald geholt hatte, war der Schauspieler 1965 sofort in Konflikt mit der Nomenklatura geraten. Benno Bessons Hacks-Uraufführung wurde wegen „rüpelhafter Obszönität“ nach der Premiere abgesetzt. „Dafür kriegte ich eine Wohnung in Berlin“, kommentiert Holtz trocken. „Das war praktisch das Schweigegeld.“
Jeder Regiepartner eine Legende, jede Aufführung ein Politikum. Entscheidende Weichen wurden schon 1936 gestellt, als Holtz’ Mutter ihren vierjährigen Sohn beim innigen Nachspielen des „Rumpelstilzchens“ ertappt und entsetzt ausruft: „Oh Gott, der wird doch wohl nicht Schauspieler werden?!“ Ein paar Jahre später, als die Holtz’sche Wohnung in Berlin von einer Bombe getroffen wird, bringt die Mutter ihr Kind nach Franken – zu Leuten, die es stehlen schickten. Mutterseelenallein schlägt sich Jürgen Holtz nach Kriegsende, zwölfjährig, zurück nach Berlin durch und wird von seinem Vater mit den Worten begrüßt: „Unkraut vergeht nicht.“ Sonst nichts, sagt Holtz. Schließlich schicken ihn die Eltern auf ein Internat. Und als er nach dem Abitur erst in Weimar, dann in Leipzig Schauspiel studiert, sitzt er weniger mit seinen Kommilitonen zusammen als vielmehr mit Wissenschaftlern.
„So ein Leben“, denkt Holtz laut nach, „hat keinen roten Faden.“ Und er selbst führte ja gleich zwei: „eins in der DDR und eins im Westen.“ Mit einem Visum für dringende Familienangelegenheiten war der Schauspieler, der im Westen eine kranke Mutter und im Osten keine angemessene Arbeitsperspektive mehr hatte, im Juni 1983 eine knappe Stunde vor Fristende mit seinem Auto über die Bornholmer Straße nach West-Berlin ausgereist. „Das erste, was ich sah, war dieser triste Wedding“, erinnert er sich. „Es war furchtbar.“ Dann lacht er. Heiner Müller habe den Ost-West-Unterschied mal auf einen bestechend „kurzen Nenner“ gebracht: „Wenn du im Osten das Maul aufreißt, gehste in den Kahn und kannst nichts mehr sagen. Wenn du im Westen das Maul aufreißt, kannste reden, solange du willst; es hört dir eh keiner zu.“
Er wolle ja keinem seiner Künstlerpartner unrecht tun, sagt Holtz: „Mit Dresen habe ich in Greifswald jede Nacht philosophiert, und Schleef hat mich zur Sprache gebracht“, erklärt er. „Aber Heiner Müller ist mein geistiger Vater! Er gab mir Bücher; wir haben über alles geredet, was neu aus dem Druck kam.“ In Berliner Theaterkantinen erzählt man sich sogar, Jürgen Holtz und seine frühere Lebensgefährtin Margit Bendokat hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass Müller seine eigenen Texte verstand. Er habe die beiden oft gebeten, ihm seine Arbeiten vorzulesen, und sei danach immer äußerst zufrieden von dannen gezogen: Jetzt wisse er, was er geschrieben habe. „Als ich Ende der siebziger Jahre an Stimmbandkrebs erkrankt war“, erzählt Holtz, „kam Heiner jeden Tag zu mir, während ich die Schüsse kriegte. Wir soffen dann zusammen und lachten. Er hat versucht, mich zu heilen.“
Holtz gleitet nicht zielstrebig in den Seniorenmodus. Er sucht die Herausforderung.
Logisch, dass es kein anderer als Müller war, der ein reichliches Jahrzehnt später auch den maßgeblichen Satz zum Mauerfall beisteuerte: „Jetzt können wir den alten Mist nicht mehr machen“, prophezeite er Holtz hellsichtig, „jetzt müssen wir uns um die Kunst kümmern.“ An dieser Stelle entfaltet sich das wache, im allerfeinsten und sympathischsten Sinne verwitterte Holtz-Gesicht zu einem ausdauernden, tiefen Lachen. Die Tragweite dieser Äußerung sei ihm – der nach 1983 in München, Frankfurt, Köln, Bochum, Zürich, Mannheim und ab 1995 auch wieder in Berlin arbeitete – erst viel später klar geworden. Was freilich noch lange nicht heißt, dass er sich auch daran hielt.
Dem „Kunstmachen“ im Sinne ideeller Fertigproduktherstellung verweigert sich Holtz bis heute so hartnäckig wie erfolgreich. Dass er Abende, die „in Psychologismus ersaufen“, schlicht „reaktionär“ findet, hat gute Gründe. „Nach ’45 saß ich mit meiner Mutter in der fünften oder sechsten ,Courage’-Vorstellung, wo fast alle Zuschauer weinten, weil sie wussten, worum es ging“, erinnert sich Holtz an seine erste echte Brecht-Inszenierung. „Aus dieser Zeit komme ich. Und irgendetwas ist in meinem Hirn passiert, dass ich bestimmte Dinge – obwohl ich so vergesslich bin – einfach nicht loswerde.“
Gern werden diese wohltuenden Holtz’schen Echauffierungsqualitäten in Zusammenhang mit der ARD-Serienfigur Motzki gebracht, die Anfang der 90er Jahre tatsächlich kurzzeitig das Fernsehniveau hob. Aber abgesehen davon, dass der Schauspieler als wiedervereinigungsvergrätzter Trainingshosen-Frührentner aus Berlin-Wedding über jeden Darstellungszweifel erhaben war, hinkt dieser Vergleich enorm. Denn erstens kann Jürgen Holtz unglaublich ansteckend und charmant über sich selbst lachen: „Das Kreuz ist durch, ich habe Plattfüße und Fettprobleme auf allen Ebenen - aber der Kopf funktioniert!“
Und zweitens ist Holtz im Gegensatz zu Motzki, der ja genüsslich im Dauerressentiment badet, ein echter Denker. Wenn er anfängt, über Übersetzungsdifferenzen und Literaturepochen zu sprechen, die Aufklärung wasserdicht gegen die Klassik in Stellung bringt und das Ganze mit einem lässigen Schlenker zu Kant krönt, könnte wahrscheinlich selbst das Philologen-Gros einpacken. Dass die Anzahl der Regisseure, die dem gewachsen ist, noch mal um einiges dezimierter ausschaut, ist kein Unkenruf, sondern eine schlichte Tatsache.
Dass sich dieser Schauspieler in Lebensphasen, in denen andere zielstrebig in den Seniorenmodus hinübergleiten, auch ästhetisch immer wieder neu herausfordert, weiß man spätestens seit seinem Rainald-Goetz-Solo „Katarakt“, für das Holtz 1993 zum Schauspieler des Jahres gekürt wurde. Im Berliner Ensemble sieht man ihn vor allem bei dem formstrengen Robert Wilson – und zwar zu Recht nicht nur als Peachum in der „Dreigroschenoper“, sondern auch als Elisabeth I. und II. in Shakespeares „Sonetten“.
„Dieser Mann hat mir so gefallen“, schwärmt Holtz von der ersten Begegnung mit dem Regisseur: „Wie der reinkam und sich Stille ausbat, dann an seinen Tisch ging und ganz leise anfing zu zeichnen – das war so was anderes als diese Hektik, die die deutschen Regisseure immer verbreiten!“
Als Jürgen Holtz 1990 in Wilsons Frankfurter „Lear“ den Gloster spielte, gab es eine Probensituation, in der der Regisseur nicht weiterkam. „Da habe ich mich eine ganze Nacht hingesetzt und ihm am Morgen fünf Zeichnungen gereicht“, erzählt Holtz – der sich tatsächlich für sämtliche Arbeiten „Strichmännekens“ neben die Notizen skizziert: „Da sehe ich den Gestus, wie jemand steht und warum, und merke sofort, was auf der Bühne nicht stimmt.“
Die Theaterkritikerin Christine Wahl ist Mitglied der Jury für den Berliner Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung. Der Preis wird am 5. Mai um 12 Uhr im Haus der Berliner Festspiele verliehen.
Christine Wahl
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