Hotzenplotz wird 50: Der Räuber fürs Leben
Wir sind mit ihm aufgewachsen. Als wir kleine Kinder waren, haben wir darum gebettelt, dass die Eltern ihn zu uns lassen, als wir große Kinder waren, haben wir ihn selbst geholt, und als wir selber Kinder hatten, haben wir ihn zu diesen Kindern gebracht. Und nun ist Hotzenplotz 50.
Ich bin verliebt. Immer noch oder schon wieder? Mit diesem Mann lache und leide ich seit vielen Jahren, ja eigentlich seit ich denken kann. Er hat mich in meinem Leben begleitet wie kein anderer je zuvor oder danach. Aber er gehört mir nicht allein.
Seit 50 Jahren gehört er zu unser aller Leben. Oder will jemand behaupten, er kennt ihn nicht. Als wir kleine Kinder waren, haben wir darum gebettelt, dass die Eltern ihn zu uns lassen, als wir große Kinder waren, haben wir ihn selbst geholt, und als wir selber Kinder hatten, haben wir ihn zu diesen Kindern gebracht. Und immer war er zwischen zwei Buchdeckeln versteckt, wir haben uns vorlesen lassen, haben selber gelesen und später vorgelesen.
Warum liest man ein Buch so oft, und immer wieder? Weil man es liebt. Besser gesagt: Wir lieben ihn! Den Räuber Hotzenplotz.
Die 1. Auflage erschien am 1. August 1962. Jetzt ist er 50, über 7,5 Millionen Exemplare sind verkauft, er ist in 34 Sprachen übersetzt. Hotzenplotz, der Räuber aller Räuber, ist international geworden und doch bis heute alterslos geblieben.
Dabei ist er doch wirklich böse, dieser Räuber. Raub, Nötigung, Freiheitsberaubung und Entführung gehen auf das Konto seiner kriminellen Karriere. Aber die letztendlich auf der Liebe zur Musik basiert. Denn Hotzenplotz klaut doch Großmutters Kaffeemühle nur, weil er die Melodie so schön findet. Also, so böse kann der Hotzenplotz doch gar nicht sein!
Bildergalerie: Räuber Hotzenplotz
Aber er ist es doch! Denn er ist gemein zur Großmutter! Wir haben Mitleid mit der armen Frau, die nach jedem Raub ohnmächtig zusammenbricht und: Die Kaffeemühle, das war ein Geburtstagsgeschenk von Kasperl und Seppel!
Befanden wir uns eben noch in einer heilen Welt, wo die Großmutter auf einer Bank sitzt und sich über ihre neue Kaffeemühle freut, wo wir wirklich! die Vögel zwitschern hören und den Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen riechen können, sind wir mittendrin in einem Abenteuer, wo Verbote überschritten werden, wo Kinder Helden sind und wo es Gut und Böse gibt.
Otfried Preußler ist in den siebziger Jahren vorgeworfen worden, er würde den Kindern eine heile Welt vorspielen. Diese Kritik habe ich als Kind zum Glück nicht wahrgenommen, und heute ist dieser Vorwurf nur schwer nachzuvollziehen. Denn was gibt es Schöneres, als als Kind von einem Buch ver- und entführt zu werden in eine Fantasie-Welt, in der Kasperl und Seppel wohl immer Ferien hatten, ein Abenteuer nach dem nächsten erlebten und niemand ihnen sagte, wann sie ins Bett gehen sollten. Und was soll daran falsch sein an einem Ort zu leben, wo die größte Angst darin besteht, dass der Räuber Hotzenplotz, dieser liebenswerte tumbe Kerl, einem etwas wegnimmt, das man am Schluss doch wiederbekommt. Zugegeben, die Pfefferpistole ist schon eine unangenehme Sache und ich möchte auch heute noch keine Ladung davon abbekommen, aber sie gehört eben zum Räuber Hotzenplotz, so wie die sieben Messer, sein Schlapphut und sein Kratzebart.
Kasperl, Seppl, und die Kaffeemühle: ein Abenteuer
Und schon sind wir mittendrin im Abenteuer. Dann uns war genauso wie Kasperl und Seppel klar: Die Kaffeemühle muss wieder her! Hier ist Unrecht geschehen! Dagegen muss man etwas tun! Zugegeben, als Kinder ging es uns nicht so sehr um die Kaffeemühle, das war ja auch wirklich schwer nachzuvollziehen, damals, als wir die Geschichte zum ersten Mal hörten, tranken wir noch gar keinen Kaffee. Damals faszinierte uns wohl eher, dass diese Kaffeemühle beim Mahlen ein Lied spielt.
Klar, dass Kasperl und Seppl die Kaffeemühle wiederholen mussten. Unter allen Umständen und mit allen Mitteln. Mitgefiebert haben wir, wenn Kasperl trotz Verboten in den Unkenkeller gegangen ist. Und gebettelt, dass man auch noch das nächste Kapitel vorgelesen bekommt. Gezittert haben wir und gleichzeitig die Hitze gespürt, als Hotzenplotz die Kasperlmütze ins Feuer wirft, Seppel ein Taschentuch reicht, wenn er eine Ladung aus der Pfefferpistole abbekommt und der Großmutter applaudiert, wenn sie den Räuber in das Gartenhäuschen sperrt.
Mit jeder dieser Abenteuergeschichten lernen wir Hotzenplotz immer besser kennen: einen aufrichtigen Räuber, der jeden Morgen um sechs aufsteht und pünktlich um halb acht seine Räuber-Arbeit beginnt. Unsere Schule fing erst um 8 an. Spätestens da hatten wir doch auch ein wenig Mitleid mit dem Räuber Hotzenplotz. Als er dann auch noch in seine unordentliche, beinah verwüstete Höhle zurückkommt – das Werk von Alois Dimpflmoser –, da waren wir auf Hotzenplotz’ Seite. Der mag nämlich, auch wenn er ein Räuber ist, keine Unordnung.
Bildergalerie: Räuber Hotzenplotz
Zuerst haben wir noch über diesen Hotzenplotz gelacht: Mein Gott, ist der dumm, glaubt doch tatsächlich, dass Gold in der Kiste ist. Und dabei haben wir gar nicht gemerkt, was Otfried Preußler uns alles beibringt: Man soll nämlich nicht alles glauben, was geschrieben steht. Doch dann ist der Hotzenplotz plötzlich schlauer als Kasperl und Seppel, als er sie in seine Höhle lockt. Da haben sich die beiden wohl selbst überschätzt.
Preußler hat immer wieder die Welten vertauscht. Das Wissen gegen Dummheit, die Obrigkeit gegen die Kriminalität. Die heile Welt gegen den Lebenskampf. Und hat uns damit gezeigt, wie fließend doch die Übergänge sein können. Und dass nicht jeder Mensch schlecht ist, der etwas Unrechtes tut. Er hat unser Bewusstsein geweckt, auch für die Schwachen dieser Gesellschaft Verständnis zu haben. Ob er das beabsichtigt hat.
Bis 1970 arbeitete Preußler als Volksschullehrer, vielleicht hatte er ja einen pädagogischen Ansatz? Doch Preußler sagt selbst: „Ich wollte mal was rundherum Lustiges schreiben, etwas zum bloßen Spaß – sagen wir eine Kasperlgeschichte.“ Als Kind begleitete Otfried Preußler seinen Vater, der im Isergebirge Geschichten sammelte. Preußler lauscht als Kind fasziniert diesen Geschichten von Zauberern, Hexen, Wassermännern und Gespenstern. Und auch Otfried Preußlers Großmutter Dora erzählt ihm Geschichten: „Lustig, bunt, so wie Kinder sie mögen, voll unerwarteter Wendungen, häufig an überlieferte Stoffe und Episoden anknüpfend.“ Preußler sagt, dass dieses Geschichtenbuch, das es nie gegeben hat, das für ihn wichtigste aller Bücher sei.
Auf die Frage, ob Preußler es zeitgemäß findet, im dritten Jahrtausend Geschichten von Hexen, Wassermännern, Zauberern und Feen zu erzählen, sagt der Autor: „Darauf kann ich nur antworten, dass ich das nicht nur für richtig, sondern für wichtig halte – für lebenswichtig, um es genau zu sagen.“
Mit Hotzenplotz haben wir etwas über Kartoffeln gelernt...
Den Namen Hotzenplotz nahm Otfried Preußler von einer kleinen Stadt in Mährisch-Schlesien, Osoblaha, auf Deutsch Hotzenplotz, weil ihn dieser Name schon als Kind beeindruckt hatte und in Erinnerung geblieben war. Noch heute gibt es diese tschechische Stadt, die circa 1000 Einwohner hat, alles Hotzenplotzer.
Doch der Räuber Hotzenplotz ist einmalig und: er ist einsam! Spätestens als Hotzenplotz zu seinem vermeintlich einzigen Freund, dem großen Zauberer Petrosilius Zwackelmann geht, wird uns klar: Der Zauberer, das ist kein Freund. Das ist der wirklich Böse. Und wieder bekamen wir Mitleid mit Hotzenplotz und fanden ihn auf einmal gar nicht mehr so furchteinflößend mit seiner Pfefferpistole und seinen sieben Messern. Mit denen hat er höchstens mal eine Wurst geschnitten.
Mit Hotzenplotz haben wir gelernt, was gut und was böse ist. Und dass man Kartoffeln selber schälen muss, wenn man sie essen möchte. Dass man niemand dazu zwingen darf, sie zu schälen, ja, und auch niemanden ohrfeigen soll. Denn das tut weh. Jede Ohrfeige, die der arme Kasperl verpasst bekam, die haben wir auf unserer eigenen Wange gespürt, wir hielten uns die brennende Wange, versuchten die Schmerztränen zu unterdrücken und wenn wir in den Spiegel blickten, da konnten wir sogar die Abdrücke der fünf Finger von der Zauberhand sehen.
Wie feige war das, der Zwackelmann hat noch nicht einmal selbst zugeschlagen, sondern das von einer Zauberhand vornehmen lassen. Dabei wollte der Kasperl das Schloss nur verlassen um die gute Fee Amaryllis zu retten, zu der der böse Zauberer auch schon seit sieben Jahren gemein war. Eingesperrt hatte er sie, in diesem tiefen, dunklen, feuchten Unkenkeller.
Außerdem hatte der Zwackelmann auch noch den Hotzenplotz in einen Gimpel verzaubert. Der Gimpel stellte früher ein Symbol für Tölpelhaftigkeit und Dummheit dar. Okay, so ganz von der Hand zu weisen ist das ja beim Räuber Hotzenplotz nicht. Aber der Gimpel ist eben auch leichtgläubig; der Vogel ließ sich früher durch die Nachahmung des weichen Stimmfühlungsrufes leicht fangen.
Aber wie gut, dass der Kasperl den Gimpel mit dem Wunschring in den Räuber Hotzenplotz zurückwünschen konnte. Und wie großzügig war das von dem Kasperl! Ja, man muss auch dem Hotzenplotz noch eine Chance geben und Fehler auch mal verzeihen können.
Bildergalerie: Räuber Hotzenplotz
Das tut der Alois Dimpflmoser auch. Was war das für ein Kräftemessen über die drei Hotzenplotz-Bände, wer von den beiden der Schlauere ist? Was für ein Machtspiel zwischen Räuber und Gendarm? Wie haben die beiden miteinander gerungen, wer der Stärkere ist? Und wieder hat uns Preußler etwas beigebracht: Dass man nicht immer glauben darf, was man sieht. Denn nur weil Hotzenplotz eine Uniform trägt, ist er noch lange kein Polizist. Beide haben sie die Uniform getragen, beide sind im Spritzenhaus eingesperrt gewesen und beide mögen Großmutters Küche! So verschieden sind doch diese zwei einsamen Wölfe gar nicht. Denn im Grunde genommen sind sich der Alois Dimpflmoser und der Hotzenplotz sehr ähnlich, stehen nur vermeintlich in konträren Welten. Und am Ende gar nicht mehr, da sitzen sie im Wirtshaus an einem Tisch.
Spätestens nach der Lektüre von Räuber Hotzenplotz haben wir angefangen, in der Schule besser aufzupassen: Hotzenplotz konnte nämlich nicht schreiben, das heißt, schreiben konnte er schon, nur eben nicht korrekt. Der Entführer-Brief im zweiten Band, da ist ja kaum ein Wort richtig geschrieben. Und dann im dritten Band, die Nachricht an der Wand, dass Hotzenplotz nach Amerika geht, weil ihm nichts anderes übrig bleibt als dort „Goltsucher“ zu werden. Herrje, wenn er schon das Wort „Gold“ nicht richtig schreiben kann, und Gold ist doch sicher wichtig für einen Räuber, wie soll Hotzenplotz es dann je finden. Und wovon soll er leben, was essen, wo schlafen? Er schreibt sogar seinen eigenen Namen falsch: HODSENPBLODZ! Hilfe, Kasperl, Hilfe, Seppel! Ihr dürft ihn nicht gehen lassen! Bis nach „Ameriga“, will er. Das ist doch so weit! Viel zu weit! Da kann ihm so viel passieren. Der Hotzenplotz, der gehört doch zu uns! Kasperl, Seppel! Tut was!, rufen wir ins das Buch hinein.
Aber was ist also "Der Räuber Hotzenplotz" genau?
Bildergalerie: Räuber Hotzenplotz
Dass Hotzenplotz’ Läuterung drei Bände brauchte, ist den vielen Leserbriefen zu verdanken, die Otfried Preußler bekam. Die Kinder schrieben Preußler Vorschläge, wie es denn mit Hotzenplotz weitergehen könnte. Sieben Jahre brauchte Otfried Preußler, bis er dem Drängen nachgab. Und da bereute er, dass er den Zwackelmann im ersten Band hat sterben lassen. Doch dafür kamen die Wahrsagerin Frau Schlotterbeck und der verzauberte Hund Wasti ins Spiel. Und wie gut auch, dass Preußler im zweiten Band den Wasti in ein Krokodil verwandelt hatte und vergaß ihn zurückzuverwandeln, denn sonst hätte es keinen dritten Band vom Räuber Hotzenplotz vier Jahre später gegeben. Denn wieder waren es die Leserbriefe, die nach mehr riefen und Preußler veranlassten noch eine letzte Geschichte vom Räuber Hotzenplotz zu erzählen, bevor dieser endgültig seinen Räuberberuf aufgibt, um ein Wirtshaus zu eröffnen, das „Gasthaus zur Räuberhöhle“.
Da sitzt er nun, der Räuber a. D., und feiert seinen fünfzigsten Geburtstag mit Alois Dimpflmoser, schnupft keinen Schnupftabak mehr, sondern zieht genüsslich an seiner Pfeife. Bis heute wissen wir nicht, wer von den beiden der Schlauere ist. Vielleicht reden sie über den Uniformtausch, bei dem wir uns als Kinder nie gefragt haben: Hatten die eigentlich die gleiche Größe? Auch bei der Neuverfilmung (2006) des Räuber Hotzenplotz stellt sich diese Frage nicht, die Geschichte ist zu spannend um sich mit solchen Nebensächlichkeiten aufzuhalten. 1967 wurde die Geschichte von der Augsburger Puppenkiste inszeniert und kam ins Fernsehen. 1974 spielte Gert Fröbe in einem Kinofilm den Räuber Hotzenplotz, 1979 wurde der zweite Teil für die Leinwand adaptiert.
Bis heute fasziniert der Hotzenplotz die ganze Welt. 1993 trifft Preußler zum Beispiel die japanische Kaiserin in München, die den Autor von „Odorobo Hottsenpurottsu“ gerne persönlich kennenlernen wollte.
Otfried Preußler sagte einmal, dass er seine Kindergeschichten auch immer mindestens für einen Erwachsenen geschrieben hat. „Wer für Kinder schreibt, schreibt automatisch für Erwachsene mit.“
Aber was ist also „Der Räuber Hotzenplotz“ genau? Eine Kindergeschichte? Ein Märchen? Eine Abenteuergeschichte? Oder gar der Vorläufer für Krimi-Filme, à la Fantomas oder James Bond? Da gibt es nämlich auch immer einen guten Räuber und einen komischen Polizisten, und die Welt muss auch wieder in Ordnung gebracht werden.
Und es wird weitergehen mit dem Hotzenplotz. Und wenn ich Großmutter werde, werde ich den Enkeln daraus vorlesen, und die werden den Hotzenplotz später selber lesen und, noch später, ihren Kindern vorlesen, die wiederum noch später ...
Ist es nicht tröstlich, dass so ein wackerer Räuber, dass Kasperl und Seppl und Dimpfelmoser und all die anderen sich behaupten können gegen so übermächtige Gegner im Computer? Der Zwackelmann, der böse, fiese Zauberer, der muss sterben, der Hotzenplotz, der stirbt nicht aus, der lebt immer weiter.
Danela Pietrek
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