Komische Oper: Der Pferdeträllerer
Richtig österreichisch oder gar salzkammergutmütig spricht keiner, sie tun halt nur so. Zwischen Kitsch, Kalauer und Karikatur: das "Weiße Rößl" in der Komischen Oper Berlin.
Diese Ohrwürmer. Grauenhaft gut. Leicht dringen sie ein in die Sinne, dann wachsen sie zu Lindwürmern, Monstren des Frohsinns, vor 80 Jahren gezielt gezüchtet und seither unbesiegt. Als „endgültige Rache für Versailles“ beurteilte Karl Kraus den über Paris bis nach Übersee galoppierenden Welterfolg aus Berlin, das „Weiße Rößl“, das wahrhaftig kein braunes war mit seinem schwulen jüdischen Regisseur, seinem später vor den Nazis fliehenden Komponisten und einem „Giesecke“, dessen Urdarsteller in Auschwitz starb. Aber ein Werk des Widerstands ist das „Rößl“ nur insofern, als es Widerstand leistet gegen jeden Versuch, die gute Laune auszuhebeln. Die ganze Welt ist himmelblau, das Glück steht vor der Tür, so ist das, so bleibt das.
Oder? An der Komischen Oper haben sie jetzt versucht, das Vieh auszutricksen. Es sollte gar nicht merken, dass es hinterfragt wird, ohnehin soll man sich Pferden nicht von hinten nähern. Darum hat Sebastian Baumgarten, der Essayist unter den Musiktheaterregisseuren, es nach vorn gelockt und den Kitsch ein bisschen vergrößert und verzerrt. Postmeisterin Kathi trägt eine so unwahrscheinlich kobaltblaue Uniformglocke (Nina Kroschinske hat sie entworfen), dass die Jodler von Mirka Wagner in ihrer Perfektion eher extraterrestrisch als tümlich wirken. Daneben werden überdimensionale Kitschpostkarten animiert, in denen Ausflugsdampfer durch den Wolfgangsee pflügen und vor Bergesketten sich die Reklame einer österreichischen Supermarktkette dreht – durchtrieben schön.
Und lecker ist das Futter fürs Rössl im Graben. Da nämlich wird, ergänzt durch Banjo und Trio im Saal, die Originalfassung von 1930 gespielt, Koen Schoots dirigiert das Orchester des Hauses. Warm runden Saxophone den Klang der Blechbläser, während Bässe sich in wohlige Tiefen zupfen und Flöten und Klarinetten so herrliche Ornamente um die Ohrwürmer ranken lassen, dass die Hits, im Farbenbad geadelt, dort noch am ehesten ihre Penetranz verlieren. Doch auf der Bühne erweist sich diese als hartnäckig frohsinnig, obwohl es nicht an Versuchen fehlt, Unbehagen zu verbreiten. In Unterwäsche schlottert der Piccolo, eine Touristengruppe ist mit anästhesietürkisen Regencapes uniformiert und folgt brav dem Befehlsschrei des Kellners Leopold, der seinerseits der Rößl-Wirtin aus der Hand frisst.
Richtig österreichisch oder gar salzkammergutmütig spricht keiner, sie tun halt nur so, wie ja die ganze „Rößl“-Idylle immer eine Projektion des Nordens war. Vielleicht ist sie gerade darum nicht zu brechen, weil der Bruch ihr Rückgrat ist, weil die Stereotype vom bollernden Berliner bis zum larmoyanten Ösi so aufeinandergezwängt werden, dass kein klarer Gedanke dazwischenpasst, während in jedem Hit umso mehr und geradezu erlösend alles klar zu sein scheint. Die erfolgreichste Produktion in jüngerer Zeit, die prominent besetzte Posse in der Berliner Bar jeder Vernunft anno 1994, ließ sich genüsslich darauf ein, das will Baumgarten nicht. Die Kalauer, Intrigen und Amouren frieren alle ein bisschen rund um die von Janina Audick entworfene, stilisiert schlichte „Rößl“-Bude.
Aber sie finden statt, und die meisten Protagonisten werfen sich mit Wucht hinein. Vor allem Max Hopp, der seinen Leopold bis an die Wahnsinnsgrenze treibt, raumgreifend, mit Schatten unter den Augen, ebenbürtig der Wirtin von Dagmar Manzel, in deren spitzer Präsenz noch die Großherzogin von Gerolstein flackert und die ihre Gespaltenheit zwischen Schatzi und Kommandeuse wie ein Gollum zischt und säuselt. Kathrin Angerer als Fabrikantentochter nutzt die Unfähigkeit, singen und tanzen zu können, so virtuos wie noch nie und lässt ihren knödelnden Anbeter Dr. Siedler (Christoph Späth) ziemlich alt aussehen. Während sich der pummelige „schöne Sigismund“ von Peter Renz mit der öligen Dreistigkeit italienischer Saisondiktatoren in die Balz wirft, wirkt ausgerechnet Dieter Montags Urberliner Giesecke etwas angestrengt.
Dieser Bollerkopp, der den Müggelsee schöner als den Wolfgangsee findet, war einmal die realitätsnaheste Figur, noch lange, nachdem es weit und breit keine Trikotagefabrikanten mehr gab. Doch das vor wie mit der Mauer insulare Berlin, für das er stand, gibt es nicht mehr. Das Publikum belacht sein „Jeschäft“ sanft, wie das einer ausgestorbenen Art. Giesecke ist nirgends mehr zu Hause, auch nicht in der Regie, deren Unentschlossenheit ihn am härtesten trifft. Die „Rößl“- Welt wird durchscheinend zwischen Kitsch, Kritik und Karikatur, zwischen Überzeichnung und Unterkühlung, ohne dass etwas anderes aufschiene. Freilich ist Unentschlossenheit immer noch kreativer als eine wohlfeile Behauptung, etwa das Ganze vor präfaschistischem Alpenglühen zu zeigen.
Für so etwas ist Baumgarten zu klug, auch wenn mancher Aufmarsch bezopfter Maderln und strammer Pfadfinder auf den „Anschluss“ verweisen mag. Indessen bleibt der Abend eine Versuchsanordnung, die immer wieder und wie unfreiwillig auf die Ohrwurmlieder zuläuft, vorbei auch an den bissigen Improvisationen von Bühnenpianist Daniel Regenberg, und deren Kalauer, je gröber sie unter der Gürtellinie baumeln, eben doch nichts tun als das. Einmal immerhin kann die Szene die Musik umpolen. Zum Ende des zweiten Akts fährt das Wirtshaus, aufgeklappt und vollgestopft mit Singenden, es muss was Wunderbares sein, auf Leopold und die Rampe zu, und im violetten Licht einer „Rocky Horror Picture Show“ wird aus Sehnsucht ein surrealer Albtraum.
Der kann freilich nicht wettmachen, dass der Abend im dritten Akt nicht nur durchscheint, sondern auch durchhängt. Die zerbrechlich strenge Irm Hermann als Kaiser bringt noch einmal das Irreale aller Operetten auf den Punkt, ehe die dünne Spannung in mühsame Dialoge und Gänge zerbricht und man das Finale ersehnt. Zu dem dann mitgeklatscht wird wie in einem ordentlichen Kurtheater. Da erhebt das Rößl wiehernd sein Haupt. Es kann nun mal nicht anders.
Wieder am 11. und 16. Dezember sowie am 7. und 26. Januar.
Volker Hagedorn