Berlinale: Der Mut zur Stille
Worte sind ihm nicht so wichtig, lieber spielt er das Ungeschriebene. Damit ist der Schwede Stellan Skarsgård in Hollywood zum Star geworden. In seiner Heimat war er schon mit 16 ein berühmter Schauspieler. Begegnung mit einem, der überrascht werden will
Der Sohn ist tot, Opfer einer Überdosis, das Paar am Tisch schweigt. Er war ihr einziger. Der Mann schiebt seine Hand über den Tisch, um die seiner Frau zu berühren, aber sie zieht ihre weg. Sie blickt ihren Mann an, feindselig, diesen schweigsamen Kerl, der gerade zum Bürger des Jahres in seiner Gemeinde ernannt worden ist und nicht glaubt, dass sein Sohn drogenabhängig gewesen sein soll. „Wer bist du?“, fragt sie. Im Gesicht des Schauspielers Stellan Skarsgård beginnt es zu arbeiten. Ein nervöses Zucken. Eine inwendige Irritation. Eine zerschmetterte Trauer. Dann sagt er: „Nils.“
Es ist sein Name, Nils Dickman, der Name eines Schneepflugfahrers in Hans Petter Molands Wettbewerbsbeitrag „In Order of Disappearance“. In einem engen, dunklen Berliner Hotelzimmer findet Skarsgård am Dienstag, dass es eine dumme, allerdings verständliche Antwort gewesen sei. Verständlich für einen Menschen, der sich in seiner Trauer nicht wahrgenommen fühle. Aber eben auch nicht besonders schlau.
Und die richtige Antwort?
Stellan Skarsgård hebt die Schultern: „Ich weiß es nicht.“
Er sagt das mit dieser Skarsgård- Miene. Verkniffen. Dabei lächelt er. Aber da eine Gesichtshälfte nicht richtig mitlächeln will in diesem Moment, wirkt es, als halte er etwas zurück, eine Regung, ein tiefes Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen und des Schauspielers im Besonderen.
Nicht, dass es Skarsgårds Aufgabe wäre, zu wissen, was seine Figuren besser hätten machen müssen. Er ist ja nur der Schauspieler. Doch obwohl er weltberühmt geworden ist durch seine Mitwirkung an Blockbuster-Filmen wie „Jagd auf Roter Oktober“, „Ronin“, „Fluch der Karibik“, „Thor“, „The Avengers“, es sind Dutzende Hollywoodproduktionen, ist er auf etwas anderes aus, einen Moment, in dem er sich selbst überrascht. „In dem ich etwas tue, was ich von mir selbst nicht erwartet hätte.“
Skarsgårds Herz schlägt in kleinen skandinavischen Independentfilmen. Vier hat er mit dem Norweger Hans Peter Moland gedreht, „In Order“ kommt im Herbst ins Kino, fünf mit dem Dänen Lars von Trier, dessen „Nymphomaniac“ mit Skarsgård in einer Hauptrolle ebenfalls auf der Berlinale zu sehen ist. An beiden Filmemachern schätzt er, dass sie ihn nie schlecht aussehen lassen würden. Mehr noch allerdings, dass er gemeinsam mit ihnen eine Idee entwickeln könne. Je weniger Geld im Spiel sei, desto mehr Macht habe der Regisseur. Aber man dürfe nicht glauben, dass man mit klugen Worten etwas Wesentliches über das Leben sagen könne, sagt Skarsgård. Der Zug in seinem Gesicht, das ist diese Skepsis.
Die Frau in „In Order of Disappearance“ ist übrigens kurz nach der Tisch-Szene aus Nils Dickmans Leben verschwunden. Sie hinterlässt einen Brief, der aus einer unbeschriebenen Seite besteht. Vielleicht ist das die Art, wie man mit einem solchen Klotz von Ehemann umgehen muss, der kaum mehr als einen zusammenhängenden Satz sagt. Einmal, immerhin: „Ich kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten.“ Worauf der Lokalpolitiker aus der Bauernpartei, der ihn auf seine Seite zu ziehen hofft, entgegnet, „mit dieser Einstellung gebe es keine Demokratie“.
Kein schlechter Satz für einen Selbstjustiz-Thriller in der verschneiten Einöde des norwegischen Hinterlands. Dass der Film dort spielt, hat viel mit dem Selbstverständnis der Norweger zu tun, dass es in ihrem Wohlfahrtsstaat gar keinen Grund für Kriminalität gibt. Umso grotesker wirkt, wie sich Skarsgård als unbescholtener Bürger mit einer Drogenbande anlegt, zuerst selbst drei Leute tötet, bevor die Dinge ein abstruses Eigenleben entwickeln. Die Idee solcher Filme: Die Charaktere erklären sich nicht, sie handeln, meistens falsch.
Dieser eine, Nils, fährt einen Schneepflug. 4000 Tonnen Schnee in der Stunde, Wurfweite 40 Meter. Und er sagt einmal kurz, dass er als Kind die Indianer bewundert habe, weil die jede Fährte hätten aufnehmen können, während sein Job darin bestehe, immer dieselbe Fährte wiederzufinden. Oder eben diese eine Spur, die zum Ausgangspunkt der Intrige und zu dem Mann führt, der seinen Sohn ermorden ließ. Der Mann, Nils Dickman, und sein Schneepflug, sie schlagen eine Schneise durch die Geschichte.
„Finden Sie?“
Ein nasales Röcheln, der Unterkiefer nach vorne geschoben, der Blick brutal
Skarsgård, 62 Jahre alt, hohe Stirn, blondes Haar, offener Hemdkragen, hat einen schwarzen Wollpullover über die Schultern geworfen, der hängt ihm schief über eine Seite. Nun stützt er seine Ellbogen versonnen auf beide Knie. Es ist wirklich am schönsten, ihm beim Denken zuzusehen. Das unbewegte nordische Gesicht, das mit jedem Lebensjahr interessanter wird. Der Mut zur Stille ... Sie haben eine halbe Stunde ... zwei Minuten vor Ablauf der Zeit gebe ich Ihnen ein Zeichen ... bitte nicht überziehen ... und keine Fragen zu „Nymphomaniac“ ... Der Minimalismus des Augenblicks, Skarsgård sitzt da, Ellbogen auf Knie gestützt, man könnte jetzt eine Frage nachschieben, aber hatte er nicht eben erst gesagt, Worte seien unwichtig, er spiele den ungeschriebenen Text. Nun denkt er über seinen eigenen Film nach.
Er tut das nicht oft. Viele der Filme, für die man ihn kennt, habe er selbst gar nicht gesehen, erklärt Skarsgård. Was wohl kein Snobismus ist. Eher Überforderung. Mit 16 sei er schon berühmt gewesen, sagt er. Mitglied einer Laientruppe. Eigentlich wollte er Diplomat werden. Aber er blieb der Schauspielerei treu, nicht mal vorsätzlich, er mochte es eben. 1982 erhielt er für seine Rolle in dem Film „The Simple-Minded Murderer“ einen Silbernen Bären. Er spielte darin den zurückgebliebenen Knecht eines Großgrundbesitzers, der diesen in einer Art Gerechtigkeitsrausch niedermetzelt. Darauf angesprochen verfällt Skarsgård sofort in den Tonfall von damals, es ist ein nasales Röcheln, der Unterkiefer nach vorne geschoben, der Blick brutal.
Die Rolle bescherte ihm internationale Aufmerksamkeit. In den USA kümmerte sich fortan ein Agent um ihn. Schon Max von Sydow hatte eine Generation zuvor demonstriert, was man als Darsteller des Ingmar-Bergman-Kinos in Hollywood erreichen kann. Hauptrollen sind es nicht. Aber immerhin Nebenfiguren, die intelligent oder auf irgendeine andere Art verschroben sein sollen, meistens Bösewichter, bieten sich an. „Mein Agent meinte, ich sollte nach Los Angeles kommen, um allen möglichen Leuten die Hand zu schütteln, aber ich war abgeneigt. Die sollen meine Filme ansehen, sagte ich. Schließlich bin ich in das Geschäft hineingewachsen. Hat lange gedauert.“
Er sagt, dass ihn Freud’sche Erklärungen über die Motivation seiner Figuren nicht interessierten. Seine Aufgabe sei es, zu sehen, was der Film von dieser Figur brauche. Wobei er Regisseuren wie jenem Wüterich aus dem Weg geht, den er in einer US-Comedy-Serie cholerisch brüllend gespielt hat. Er kann es sich aussuchen, es gibt mehr Angebote, als er annehmen kann.
Vier seiner acht Kinder – aus zwei Ehen – sind ebenfalls Schauspieler geworden, am erfolgreichsten der älteste Sohn Alexander. Vielleicht, weil sie, wie der Vater spekuliert, kein romantisches Verhältnis zu ihrem Beruf haben. Ratschläge hat er ihnen nie gegeben, sie haben auch nie darum gebeten.
„Ruhm“, sagt Skarsgård, sei eine „gefährliche Sache, wenn die Kluft zwischen einem selbst und der Person zu groß wird, für die die Menschen einen halten.“ Andererseits, Hollywood sei ein großer Spaß, und es mache ihn „bankable“, wie er sagt. „Ich kann einem kleinen unabhängigen Film die Finanzierung sichern, nur indem ich mitmache.“
So springt Stellan Skarsgård zwischen zwei Welten hin und her. Dem großen Geld und den großen Fragen. In „Nymphomaniac“ spielt er einen Intellektuellen und belesenen Dummkopf, der die Sex-Erzählungen der von Charlotte Gainsbourg gespielten Nymphomanin mit erfrischend naiven Analogien unterbricht. Was dem Wesen des Schauspielers viel eher entspricht. Jedenfalls sieht er das so. „Ich bin eigentlich ein ausgelassener, beredter Mensch.“ Einer, der zuhört – es ist die wichtigste Rolle, die das Lars-von-Trier-Kino Männern vorbehält. Skarsgårds Figur versteht. Das hat eine tragische Seite. Weil zu verstehen bedeutet, verändern zu wollen, aber eben nicht bedeutet, dafür die Kraft zu besitzen. Vielleicht braucht man für dieses Dilemma ein Gesicht, wie Stellan Skarsgård es hat. Ein verhalten lächelndes, mit kalten Augen.
Als Skarsgård den ersten Film Lars von Triers gesehen hatte, „Element of Crime“, 1984 war das, sagte er, dass er mit dem Regisseur gerne arbeiten würde, wenn der sich für Menschen zu interessieren beginne. Bei „Breaking the Waves“ war es dann so weit. Lars von Trier habe ihn angeherrscht, „Lächeln, Stellan, lächel, du pathetischer Schwede!“
Erschienen auf der Dritten Seite.
Beide Filme Skarsgårds werden noch einmal am Sonntag gezeigt. "In Order of Disappearance", Friedrichstadt-Palast, 18 Uhr; "Nymphomaniac Vol. 1", Berlinale Palast, 21 Uhr.