Stadtbild: Der Moritzplatz: schlafende Schönheit
Der Kreuzberger Moritzplatz war einst der Inbegriff von Urbanität. Der Aufbau-Verlag will ihm mit seiner Bleibe neues Leben einhauchen.
Wer sich aus dem Häusercanyon der Oranienstraße Richtung Westen bewegt, wundert sich, dass nach einigen hundert Metern alles ins Offene, Weite, Ungefähre verschwimmt. Plötzlich ist da keine Straßenkante mehr, keine Fassung, sondern nur noch ein Kreisverkehr, der sich um eine große Leere dreht, in der Mitte ein einsames blaues „U“ und an den Rändern viel Abstandsgrün. Willkommen am Moritzplatz. Dass man hier einen richtigen großstädtischen Platz vor sich hat, ist nicht einmal mehr zu erahnen. Kriegszerstörung, Mauerbau und West-Berliner Radikalsanierung haben bis auf die erhaltene nordöstliche Platzkante nichts übrig gelassen.
Das ist in Berlin keine Seltenheit, aber im Gegensatz zu anderen verlorenen Plätzen, die wiedergewonnen wurden, ist der Moritzplatz auch zwanzig Jahre nach Mauerfall nicht ins städtische Bewusstsein zurückgekehrt. Hier ist das Berlin, das keiner haben will: zerbombt, abgerissen, lustlos wiederaufgebaut, hässlich. Keine Menschenseele würde sich für die Stadt interessieren, wenn sie überall so aussähe.
Natürlich war das einmal anders. Der Moritzplatz war Inbegriff von Urbanität: Cafés, ein Theater, eine Synagoge, eine der zahlreichen Gaststätten von Aschinger, Schmuckhändler und dicht gedrängt Wohnhäuser gab es hier. Die Kneipe „Zum kleinen Mohr“, einst eine Apotheke, ist ein letztes Überbleibsel. Der Blick auf alte Fotografien gleicht einem Blick auf einen anderen Planeten. Doch der starke Autoverkehr zwischen Kreuzberg und Mitte verweist immer noch darauf, dass hier mal mehr gewesen sein muss und der Platz schon immer eine zentrale Scharnierrolle besessen hat.
Im 19. Jahrhundert wurde hier eine geniale Abfolge dreier Plätze geplant, von denen der Moritzplatz der westlichste und wichtigste war, denn hier traf der Verkehr aus der Innenstadt zuerst auf die Luisenstadt, die später im Bezirk Kreuzberg aufging. Die rhombische Form des Platzes sollte zwischen zwei Systemen vermitteln: den uralten Feldwegen, die von der Residenzstadt nach Süden führten, und der planmäßigen Erschließung des Viertels ab 1840 sowie seiner Bebauung ab 1860. Einer dieser Feldwege war die Stallschreiberstraße, die in der Prinzessinnenstraße ihre Fortsetzung fand. Das von James Hobrecht überarbeitete Planwerk Luisenstadt von 1862 konzipierte den Moritzplatz als auf die Spitze gestelltes Quadrat, um diesen älteren Straßenzug elegant über die nördliche Platzkante ableiten zu können. Später wurde diese Form im Heinrichplatz wiederholt, der komplett erhalten ist und prompt zum emotionalen Zentrum von SO 36 wurde.
Georg Wertheim eröffnete in der Oranienstraße in den 1880er Jahren sein erstes Berliner Kaufhaus und zahlte später viel Geld, damit die heutige U-Bahnlinie 8 nicht in direkter Nord-Süd-Linie über den Oranienplatz, sondern über den Moritzplatz geführt wird. Noch heute befindet sich ein unvollendeter U-Bahnhof unter dem Oranienplatz, der gelegentlich als Theater genutzt wird. Das Kaufhaus am Moritzplatz ist schon lange weg, die U-Bahn aber macht zwischen Kottbusser Tor und Heinrich-Heine-Straße immer noch eine große Kurve. So gräbt sich politische Geschichte im Stadtplan ein wie ein chinesisches Schriftzeichen. Als unmittelbar nördlich des Moritzplatzes die Mauer gebaut wurde, vollzog der Platz im Kleinen das nach, was Berlin im Großen widerfuhr – er rückte in eine Randlage.
Die geplante, aber dann nie gebaute Autobahn verhinderte jahrzehntelang jede Entwicklung. An der Stallschreiberstraße entstand die städtebaulich in sich gekehrte Otto-Suhr-Siedlung ohne jeden Bezug zum Moritzplatz. Bis auf wenige Lebenszeichen, etwa die Ende der Siebziger von Künstlern wie Rainer Fetting oder Salomé gegründete Galerie am Moritzplatz, war der Platz auf seine reine Verkehrsfunktion reduziert – und ist es bis heute. Auch wenn auf dem ehemaligen Wertheim-Grundstück in den „Prinzessinnengärten“ inzwischen urbane Landwirte Kartoffeln anbauen und um die Ecke, im Betahaus, die digitale Bohème ihrer Einsamkeit in einem gemeinsamen Bürohaus entfliehen möchte. Der Moritzplatz ist weiterhin ein Platz ohne Eigenschaften, ein Grenzort. Hier endet SO 36.
Das könnte sich jetzt ändern. Der Industriebau in der Südwestecke, von der Textilfirma Ertex in den Siebzigern errichtet und bis vor zehn Jahren von der Pianofirma Bechstein zum Klavierbau genutzt, wird zurzeit umgebaut. Die Firma Modulor, die Stifte, Pinsel, Schablonen und alles weitere vertreibt, was Künstler brauchen, und der Aufbau-Verlag werden hier im Frühjahr das „Aufbau-Haus“ eröffnen: Ein Kreativzentrum, das eine Platzkante schließt und mit großen Fenstern Einblicke in das geben soll, was hinter der Fassade geschieht.
Aufbau-Mehrheitseigentümer Matthias Koch, der den Verlag vor zwei Jahren übernahm, will Buchhandlung, Café, Club, Galerie und ein Theater ansiedeln, in dem von der türkischen Hochzeit über Stadtteilarbeit, postdramatisches Theater und Kinderleseförderung alles möglich sein soll. Koch sieht das pragmatisch: „Die Kreativindustrie ist ein Wachstumszweig in Berlin, und man investiert in Wachstumszweige.“ Andererseits habe er als ehemaliger Gymnasiallehrer für Deutsch, der mit seinen Schülern Theaterstücke geschrieben und inszeniert hat, seit jeher eine Vorliebe für kreative Tätigkeiten. Sollte es dem Aufbau-Haus gelingen, in der städtebaulichen und geistigen Leere des Moritzplatzes tatsächlich einen Anker zu werfen und Ausstrahlung zu entwickeln, könnte er zu einer Brücke werden zwischen SO 36 und dem noch immer in Ansätzen vorhandenen Zeitungsviertel der westlichen Oranienstraße. Und dann würde vielleicht auch die Stadt an den Moritzplatz zurückkehren. Im Aufbau-Haus jedenfalls plant man jeden Tag eine Veranstaltung.