Kino "Glücklich wie Lazzaro": Der Mensch ist gut, die Leute sind schlecht
Alice Rohrwacher hat mit „Glücklich wie Lazzaro“ ein kleines Kinowunder zwischen Märchen und Sozialrealismus vollbracht.
Wunder kommen im Kino, wie in der Bibel, in allen Größen und Formen vor. Moses teilte das Rote Meer, durch das er die Israeliten aus ihrer Versklavung ins gelobte Land Kanaa führte. Wenn Ridley Scott die Bibel verfilmt, ist das Wunder selbstverständlich eines der Überwältigung durch digitale Spezialeffekte, die einen eher an Marvel-Superhelden denken lassen. In Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ ist das Wasser schon leichter zu durchqueren, knöcheltief plätschert es durch die karge norditalienische Berglandschaft.
Was die Landarbeiterinnen und Landarbeiter auf der Tabakplantage der Marquise Alfonsino de Luna (Nicoletta Braschi) zurückhält, ist ein tief verwurzelter Aberglaube. Sie fürchten sich vor dem, was sie jenseits des Bachgerinsels erwartet. Ihre Welt ist die Plantage. „Menschen sind Tiere“, sagt die „Zigarettenkönigin“ einmal zu ihrem Sohn Tancredi. „Sie zu befreien heißt, Ihnen ihr Sklavendasein bewusst zu machen.“ Eines Tages kreist ein Helikopter über dem Anwesen Inviolata und Gendarme befreien das arme Landvolk aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit: Sie weisen ihnen den Weg durch das Wasser. „Es wird sich nicht für euch teilen“, meint einer der Polizisten.
Feines Sensorium für die Wahrnehmung der Welt
Die Wunder in Alice Rohrwachers dritten Spielfilm „Glücklich wie Lazzaro“, der in Cannes dieses Jahr für das Drehbuch der Regisseurin ausgezeichnet wurde, sind allesamt ein paar Nummern kleiner. Sie speisen sich aus einer überhöhten Wahrnehmung der Welt, für die die Regisseurin ein feines filmisches Sensorium entwickelt hat. Für den Wind zum Beispiel, der in den Bäumen raschelt, obwohl sich die Blätter nicht bewegen. Oder wie die Spreu bei der Erntearbeit im Sonnenlicht tanzt, das eine fast übernatürliche Qualität besitzt. Man sollte schon all seine Sinne schärfen, sich seinen Glauben an das Kino bewahrt haben. Oder eine kindliche Gutmütigkeit, die die Zumutungen der physischen Wirklichkeit suspendiert.
Ein solcher Mensch ist Lazzaro (Adriano Tardiolo). Er lebt unter einem Felsvorsprung, etwas abseits der Unterkünfte der Landarbeiter, die von der Marquise wie Leibeigene gehalten werden. Der Landadel beutet die verarmte Bevölkerung aus, als wäre deren Schicksal eine göttliche Vorsehung: Für jeden Anlass gibt es eine Schutzpatronin, die die Menschen in ihrem Platz innerhalb der Gemeinschaft hält. Die Bauern wiederum nutzen die Hilfsbereitschaft Lazzaros aus. Ständig schallt sein Name über den Hof, immer gibt es etwas zu tun. Die Arbeit in der Landkommune, die eigentlich nach den Regeln des Kapitals funktioniert, ist vertikal organisiert. Die Ausbeutungsverhältnisse suchen den Weg des geringsten Widerstands. Ganz unten: der Junge mit dem vergeistigten, nahezu durchlässigen Gesichtsausdruck. „Lazzaro ist schon wieder verzaubert“, sagen die Mädchen, wenn ihn gerade eine Epiphanie überkommt.
Mit solchen metaphysischen Abschweifungen hält Rohrwacher ihren trostlosen Gesellschaftsbefund in einer traumhaften Schwebe. Rohrwachers Kino ist von den Volksmärchen aus dem ländlichen Norden informiert – und einem untrüglichen Glauben an das Gute im Menschen, der im Einklang mit der Natur steht. In „Land der Wunder“ von 2014, tatsächlich eine Wundertüte des jüngeren europäischen Autorenkinos, ist die Arbeit in der Natur noch positiv konnotiert: Sie beflügelt die kindliche Fantasie, besitzt dabei aber eine dokumentarische Haptik.
Märchenhafte Intervention in die gesellschaftliche Ordnung
Auch im Gespräch changiert Alice Rohrwacher zwischen ätherischen Beobachtungen und klaren Sätzen, die nie das Geheimnis ihre Kinos preisgeben. „Man kann sich meinen Film rational ansehen“, lacht sie. „Aber ich glaube, er macht mehr Spaß, wenn man sich ihm einfach hingibt.“ Lazzaro ist eine Art Heiligenfigur, entstammt jedoch einer vorreligiösen Epoche. Er vollbringt Wunder nicht durch Handauflegung, sondern durch seine schiere Präsenz. Rohrwacher: „Mein Film handelt nicht von Lazzaros Blick auf die Welt, sondern davon, wie wir Lazzaro sehen.“ Der Junge ist kein Revolutionär, doch sein Impuls, Gutes zu tun, hat im System gegenseitiger Ausbeutung etwas bedrohlich Subversives. Rohrwacher nennt ihren Film ein „politisches Manifest“, aber man muss diesen Begriff wohl eher im humanistischen Verständnis des Marxisten Pier Paolo Pasolini lesen: als eine märchenhafte Intervention in die gesellschaftliche Ordnung zwischen Religion und (faschistischem) Staat.
Das Regime der Marquise ist buchstäblich aus der Zeit gefallen. Die sogenannte „Halbpacht“, die es Großgrundbesitzern ermöglichte, ihre Angestellten in sklavenähnlichen Verhältnissen zu halten, wurde in Italien erst 1982 abgeschafft. Rohrwachers Film bezieht sich auf einen wahren Fall aus den frühen neunziger Jahren, als die italienische Justiz in einer Provinz noch eine solche „Plantage“ entdeckte. Aber „Glücklich wie Lazzaro“ verfällt nie in den predigenden Ton eines Ken Loach. „Mich interessieren keine rhetorischen Gesten, etwa über das Scheitern einer Revolution“, erklärt Rohrwacher. „Ich will zeigen, dass die Scheinwerfer der Öffentlichkeit nur auf die Armen der Gesellschaft gerichtet sind, wenn sie – symbolisch – einen Fluss überqueren müssen.“
Vom Leibeigenen zum Lumpenproletariat
Die Passage symbolisiert in „Glücklich wie Lazzaro“ eine soziale Kontinuität: Die befreiten Bauern waten durchs Wasser, um am anderen Ufer als modernes Lumpenproletariat anzugelangen. Lazzaro hingegen durchkreuzt diese Logik: Er stirbt bei einem Sturz, reist durch die Zeit und trifft im Mailand der Gegenwart auf die Überlebenden von Inviolata (unter ihnen Alba Rohrwacher und Sergi López), die sich mit Diebstählen und Betrügereien durchschlagen. In der Stadt begegnet Lazzaro auch dem zwanzig Jahre älteren Tancredi (Tommaso Ragno) wieder. „Die Vorstellungskraft des Menschen ist wie ein Muskel, den wir ständig trainieren müssen“, hat Rohrwacher über „Land der Wunder“ gesagt. Mit „Glücklich wie Lazzaro“ grundiert sie ihr Sozialmärchen nun in einer scharf konturierten Lebenswirklichkeit.
Diese Verankerung wird immer wieder ausgehebelt von den körnigen Texturen des 16-mm-Materials, dem das Naturlicht ein zauberhaftes Leuchten entlockt. „Lebendig“ nennt Rohrwacher die Eigenschaften der analogen Fotochemie. Dieses Leuchten schreibt sich in die Bilder ein, aber es schwebt auch auratisch über ihnen, entwickelt ein Eigenleben. So wie die tiefen Klänge der Orgel, die in der wunderbarsten Szene des Films die Kirche verlassen und Lazzaro durch die Stadt folgen.
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