Kino: Der Meisterdenker aus Iran
Seine Filme sind philosophische Versuchsanordnungen, die betont schmucklos daherkommen - über das Leben, den Tod und die Liebe. Ihr eigentlicher Gegenstand ist der Zuschauer selbst. Zum 70. Geburtstag des großen Filmemachers Abbas Kiarostami.
Kaum hatte Abbas Kiarostami beim jüngsten Festival von Cannes „Copie conforme“ vorgestellt, hob unter den internationalen Kritikern eine nahezu kriminalistische Deutungsschlacht an. Erzählte der in der Toscana gedrehte Film mit Juliette Binoche und dem Opernsänger William Shimell die Romanze zweier im mittleren Alter, die sich soeben kennengelernt haben, wie es seine erste Hälfte suggeriert? Oder sind, wie es die zweite Hälfte nahelegt, die Kunsthändlerin und der Schriftsteller ein einander entfremdetes Ehepaar, das sich nur noch einmal wiederbegegnet? Indizien für die eine Lesart sowie gewichtige Gegenargumente wurden aufgeführt, und das Ganze endete bald ermattet und reichlich unentschieden.
Kein Wunder, von einer am Fernsehkrimi und seriellen Leinwandthriller geschulten Wahrnehmung ist jemand wie Kiarostami weit, weit entfernt. Nicht nur, weil sein Kino ausdrücklich auf schnelle Schnitte und das dialogische Schuss-Gegenschuss-Draufhalten verzichtet, sondern weil es sich – ungeachtet einer schmucklos chronologischen, dramaturgisch scheinbar geheimnislosen Erzählweise – jedweder Simplifizierung verschließt. Im Gegenteil: Gerade die lineare Erfassbarkeit des Geschehens verführt den Zuschauer zum Spaziergang in jenes unsichere Gelände, in dem das Abenteuer des Denkens beginnt.
Was also, wenn die zwei in „Copie conforme“ beide Geschichten gleichzeitig spielen, wenn also die eine Geschichte visuell die konforme Kopie der anderen ist und doch ihr Gegenteil bedeutet? Dann ist man mitten in einem philosophischen Spiel, das die Reiz-Reaktions-Schemata der amourösen Verstrickung mit analytischer Gelassenheit anhand von zwei konträren Konstellationen misst und zum Ergebnis allseitiger Anwendbarkeit kommt. Und wenn man Glück hat, ist man hingerissen von einem Film, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht, so plötzlich und irreversibel wie die Liebe.
Abbas Kiarostamis Filme sind Versuchsanordnungen, und ihr Zuschauer ist nichts Geringeres als ihr eigentlicher Gegenstand. In „Der Geschmack der Kirsche“, womit Kiarostami 1997 in Cannes die Goldene Palme gewann, geschieht nicht viel mehr als die Zickzackfahrt eines Mannes im Range Rover durch kahles Hanggelände außerhalb von Teheran und seine zufällige Begegnung mit ein paar Menschen. Das Unerhörte, das er von ihnen erbittet – sie sollen gegen guten Lohn anderntags 20 Schaufeln Erde auf seine Leiche werfen, das Grab hat er schon ausgehoben –, bringt er mit äußerster Gelassenheit vor. Ein junger Soldat fürchtet den Auftrag, ein Seminarist verdammt den Selbstmord islamgetreu, ein alter Mann erinnert ihn, indem er den Geschmack der Kirschen besingt, an den sinnlichen Zauber des Lebens. Und wie würde man selber auf den sanften Wunsch des Fremden reagieren – und, vor allem, mit welcher Begründung?
„Der Geschmack der Kirsche“ endet mit anderthalb Minuten Schwarzfilm und einer Auflösung im filmischen Spiel. In „Der Wind wird uns tragen“ (1999) kommt ein Drehteam in ein Dorf, um nach dem Tod einer alten Frau die Begräbniszeremonie zu filmen – aber weil sie einfach nicht sterben will, löst sich das Vorhaben so langsam wie rückstandslos auf. Darf man folglich sagen, dass Kiarostamis Filme das Leben preisen? Vielleicht lächeln sie eher, über das Leben und den Tod, der dem Leben innewohnt, und über die Liebe sowieso.
Heute wird Abbas Kiarostami 70, und zu seiner Weltberühmtheit ist der Iraner so selbstverständlich gelangt, wie seine Filme entstehen. Zehn Jahre lang hat der Sohn eines Freskenmalers, der zuerst selber Malerei studierte, unter der SchahDiktatur Filme gedreht, dann zehn Jahre unter den Mullahs, und erst 1989 entdeckte man ihn im Westen. Das Interesse an Kiarostami, befeuert durch Hymnen so unterschiedlicher Cineasten wie Kurosawa oder Tarantino, weckte die Neugier für das iranische Kino insgesamt – für seine parabelhafte Sprache, die den Sinnsuchern des Westens ebenso entgegenkommt, wie sie die Bedingungen der Zensur geschickt zu erfüllen scheint.
Im Falle Kiarostamis führt wohl beides in die Irre. Über die Zensur ist er auf seine Weise erhaben: „Wenn eine Tür geschlossen ist, dann versuche ich andere zu öffnen“, sagte er unlängst. Und seine Filme führen geradewegs in die Erkenntnis der vollendeten Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. In seinen Bildern ist sie ausgezeichnet auszuhalten.
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