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Der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez ist im Alter von 87 Jahren gestorben.
© reuters

Gabriel García Márquez: Der Magier

Als Kind wollte Gabriel García Márquez Zauberer werden. So etwas Ähnliches wurde er dann tatsächlich. Seine Kunststücke waren Sprachkunststücke. Nun ist die Stimme Lateinamerikas mit 87 Jahren gestorben.

Manchmal, in tiefster Nacht oder gar in sehr frühen Morgenstunden, klingelte es an Gabriel García Márquez' kubanischer Villa. Der Schriftsteller wusste dann immer schon, wer das war, der ihm zu so außergewöhnlicher Uhrzeit einen Besuch abstattete: Fidel Castro. Der Revolutionsführer hatte Redebedarf, wieder einmal. Also sprachen sie zusammen über Politik, die Welt und Gott (obwohl dies vielleicht eher selten). Vor allem aber hatte Castro Hunger. Also tischte García Márquez auf, einmal, erzählte er, habe der hohe Besuch 28 Eiskugeln am Stück verspeist.

Viele Jahre später saßen der Dichter und der Revolutionsführer einmal beim Frühstück, als sie eine sensationelle Nachricht erreichte. Die beiden – mittlerweile jenseits der 80 – sprangen auf und liefen, so schnell sie konnten zum Fernseher. Dort verfolgten die Freunde live auf „CNN en Español“ die spektakuläre Befreiung der Politikerin Ingrid Betancourt aus den Händen einer kolumbianischen Guerrillabewegung, die sie einige Jahre zuvor entführt hatte. „Wenn ich so etwas schriebe, würde es doch keiner glauben“, ließ García Márquez, selbst Kolumbianer und mittlerweile jedes Jahr zum Urlaub auf Kuba, wissen.

„Hundert Jahre Einsamkeit“ machte García Márquez weltberühmt

Das war natürlich kokett. Denn in García Márquez’ Geschichten wimmelt es von Wundern und fantastischen Begebenheiten, von Mädchen etwa, in deren Adern grünes Blut fließt, wie in der Kurzgeschichte „Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter“, einem ja selbst schon ziemlich märchenhaften Titel. Und dann ist da natürlich der vielzitierte geringelte Schweineschwanz, mit dem ein Junge in „Hundert Jahre Einsamkeit“ geboren wird – diesem epochalen Roman und Bestseller, mit dem García Márquez 1967 berühmt wird und die Literatur Lateinamerikas, ja den gesamten Kontinent für das breite westliche Publikum aufschloss, das in dem üppigen Stil des Autors die wahre Realität des anderen, des viel größeren Amerikas südlich des Rio Grande, erkennen wollte, welches vom Blutvergießen der Eroberung, von der erotischen Sinnlichkeit seiner Natur und seiner Menschen, von epischen Revolutionen und Träumen vom Paradies geprägt zu sein schien.

Ließ sich dafür eine andere Sprache finden als die des sogenannten Magischen Realismus (hat ein Widerspruch jemals mehr Sinn ergeben?), als dessen größter Exponent García Márquez bald galt. Márquez vereinte nun den Erfolg bei der Kritik und den beim Publikum. Bis heute hat er 40 Millionen Bücher verkauft, die in 36 Sprachen übersetzt worden sind. 40 Millionen! García Márquez hat, wenn man so will, ein eigenes, fantastisches Land begründet.

García Marquez und seine Freundschaft mit Fidel Castro

In diesem Land sollte, wenn es nach dem Dichter gegangen wäre, der Sozialismus herrschen, den er sich „von ganzem Herzen für die Welt“ wünschte. Vielleicht war der Wunsch nur logisch, denn obwohl es in seinen Büchern nie explizit macht, so sprechen sie doch immer von einer Unruhe über die große Ungerechtigkeit, über die Unterdrückung der Lateinamerikaner durch eine pervers ungleiche Verteilung des unvorstellbaren Reichtums ihres Kontinents, die bis heute fort existiert. So ist García Márquez andauernde Freundschaft mit Fidel Castro zu verstehen, über die er sich mit dem anderen großen, zeitgenössischen Autoren Lateinamerikas, mit seinem ins neoliberale Camp abgedrifteten Nobelpreisträgerkollegen und einstmals großen Freund Mario Vargas Llosa zertritt. Es soll sogar zu Handgreiflichkeiten und Ohrfeigen zwischen den beiden gekommen sein.

García Marquez, der 1927 in einem Städtchen mit dem zauberformelhaften Namen Aracataca geboren wurde, begann sein Schreiben als mutiger Reporter. Hier erlebte er die Geschichten, die so unglaublich waren, dass sie einfach wahr sein mussten. Als junger Mann und dem Sozialismus zugewandt, der in Lateinamerika anders als in Westeuropa nicht als Bedrohung, sondern als größte Hoffnung auf Befreiung wahrgenommen wurde, bereiste er in den 50er Jahren den Ostblock. In einem alten Renault fuhr er nach Prag, er berichtete über die Folgen des Volksaufstandes in Ungarn. Aus Moskau schrieb er über das Festival der Jugend und betrachtete im Stalin-Mausoleum "die zarten Frauenhände" des Siegers über Hitler und Schlächter seines Volkes. Damals war García Márquez auch in Deutschland, in der DDR. In glänzenden Reportagen skizzierte er eine Bevölkerung, die zwar rein formal die Macht übernommen habe, aber dennoch „das traurigste Volk geblieben war, das ich je gesehen hatte“.

Auf Kuba schien der Sozialismus magisch

Die wilden kubanischen Revolutionäre waren da schon mehr nach seinem Geschmack. Nachdem Castro, Ernesto Che Guevara und die anderen Bärtigen triumphierend in Havanna eingezogen waren, luden sie Journalisten aus aller Welt ein. Diese sollten sich selbst ein Bild vom Segen machen, der die Revolution für Kuba bedeutete. Auch García Márquez reiste natürlich nach Kuba – und ließ sich vom Aufbruchsgeist des kubanischen Experiments mitreißen. Auf Kuba schien der Sozialismus magisch – verrückt genug war die Story um die Handvoll Guerilleros aus dem Dschungel ja –, und die weltweiten Sympathien für Kuba und die nun wie Pilze aus dem fruchtbaren Boden Lateinamerikas schießenden Befreiungsbewegungen waren in den späten 60er Jahren von entscheidender Bedeutung für den Boom der lateinamerikanischen Literatur in Europa und den USA

Als letztere 1973 mithalfen, in Chile Salvador Allende zu ermorden und nun der Faschist Augusto Pinochet an die Macht kam, begann García Márquez, diesen mit seinen Mitteln zu bekämpfen. In „Der Herbst des Patriarchen“ von 1975 beschrieb García Márquez den starken Mann Lateinamerikas als das „große mythologische Ungeheuer“, das der Kontinent hervorgebracht habe. Dieses zweite große Buch von García Márquez über den Diktator in einem „Scheißland“ auf dem Gipfel von Macht und Einsamkeit ist das avantgardistischste, vielleicht sogar das beste Buch des Kolumbianers, auch wenn es in der öffentlichen Wahrnehmung von anderen Werken überschattet wird – natürlich insbesondere von „Hundert Jahre Einsamkeit“ (dessen epischer Titel heute, genau wie „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ oder „Chronik eines angekündigten Todes“, fast schon ein geflügeltes Wort geworden ist).

Er litt unter dem Fluch des Erfolgs

Dennoch sagte García Márquez zehn Jahre nach seinem phänomenalen Erstling „Ich fühle dem Buch gegenüber so etwas wie Groll“. Das war fünf Jahre, bevor er 1982 den Nobelpreis für Literatur erhielt. „Es ist mir, als wäre es ins Haus eingedrungen, um alles in Beschlag zu nehmen.“ Er litt unter dem Fluch des erfolgreichen, alles in Beschlag nehmenden Erfolgs.

Márquez war eines von 16 Kindern und Sohn des Telegraphisten von Aracataca. Der Ort trat mit dem neokolonialen Ausbeutermodell der US-amerikanischen United Fruit Company in die Geschichte ein. Plötzlich spülte es Ströme von Menschen in das Bananen-Eldorado. Doch als Gabo, so García Márquez’ Spitzname, geboren wurde, war es mit dem Boom schon wieder vorbei. Er wuchs in einem auf ihn gespenstisch wirkenden Haus der Großeltern auf, das seine Fantasie ebenso anregte wie die Erzählungen seiner Großmutter Tranquilina, in denen sich die Realität mit dem Märchen vermischte. Im bewussten Rekurs auf das Erzähltemperament der Großmutter beschrieb er später seine Poetologie und erfand mit Macondo einen heute in der Geografie der Weltliteratur festverankerten Ort.

García Márquez hat einen herzzerreißenden Abschiedsbrief hinterlassen

García Márquez war ein Meister im Anerzählen gegen den Tod. Auch gegen den beschworenen Tod der Literatur: „Der Vulkan spie Träume, Tausendundeine Nacht kamen aus seinem magischen Schlund“, schrieb der große chilenische Dichter Pablo Neruda über den Freund. Obwohl sich mit der lawinenartig anschwellenden Leserschaft sich natürlich die Kritiker einfanden, die Gárcia Márquz trivial nannten. Sie misstrauten der Fähigkeit, in Bildern zu sprechen, und nannten die Art, wie hier ein Bild fast das andere jagt, melodramatisch.

Als sich Ende der 1990er Jahre ein junger Biograf daran machte, Marquez' Leben aufzuzeichnen, riet er diesem, so zu schreiben, als ob der Protagonist des Buches schon gestorben sei. Und als Márquez seine lange angekündigte Autobiografie im Jahr 2002 doch noch vorlegte, tat er es nicht ohne den Hinweis, es handle sich dabei um „falsche Memoiren“. Sein Leben hatte er da schon fast gelebt. 1999 raubte ihm eine erste Krebserkrankung so viel Kraft, dass auch seine geistige Leistungsfähigkeit zu schwinden begann. 2012 erklärte sein Bruder Jaime, dass Gabo unter schwerer Alterdemenz leide. Ein neues Werk sei nicht mehr zu erwarten.

Im Internet zirkuliert seit einigen Jahren ein Abschiedsbrief von García Márquez. Darin heißt es gleich zu Beginn: „Wenn Gott für einen Moment vergessen könnte, dass ich nur eine Marionette aus Stoff bin und er mir ein Stückchen Leben schenkte, würde ich sicherlich nicht alles sagen, was ich denke, aber ich würde definitiv alles denken, was ich sage. Ich würde die Dinge Wert schätzen, nicht für das, was sie kosten, sondern für das, was sie bedeuten. Ich würde weniger schlafen und mehr träumen." Der Brief hat einen Schönheitsfehler: García Márquez hat ihn nie geschrieben, jemand hat sich einen fantastischen Scherz mit ihm erlaubt.

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