Deutsche Oper: Der letzte Schwan
Bunker und Klunker: Klaus Florian Vogt rettet Wagners „Lohengrin“ an der Deutschen Oper. Und doch hört man förmlich, wie Götz Friedrich sich stöhnend in seinem Grab umdreht.
Hier ein kleines Brevier all jener Dinge, die der Opernliebhaber im Allgemeinen und der Wagnerianer im Besonderen auf einer Bühne nie, nie wieder sehen möchte. Verboten gehören: 1. Stücke von hinten zu erzählen, wenn alle schon tot sind, sodass die Belegschaft mit Schusswunden in der Herzgegend und Mullbinden um die Schädel durch asphaltgraue Unterwelten stapft, ganz gleich ob es sich um „Idomeneo“ (Komische Oper), „Lulu“ (Staatsoper) oder „Lohengrin“ an der Deutschen Oper handelt. 2. Helden, die, weil sie Helden sind, ausschließlich zentralperspektivisch auf- und abtreten und im Trockeneisnebel die Fäuste recken. 3. Choristen oder Statisten, die auf Knopfdruck in stummes Gestikulieren ausbrechen, Schulterklopfen, Kopfnicken oder -schütteln, huldreiches Umarmen usw. 4. Kostüme, die a) Männern Tornister wahlweise aus dem Dreißigjährigen oder dem Ersten Weltkrieg umschnallen und b) Frauen in bruegelsche Kutten stecken. 5. Böse Frauen, die an roten Langhaarperücken und klappernden Klunkern zu erkennen sind. 6. Jede Form von Theater im Theater im Theater.
Spaß beiseite. Seit 2011 leitet der Däne Kasper Holten – keine 40 Jahre alt, 60 Inszenierungen – Londons Opernhaus Covent Garden. Warum er jetzt auch an der Bismarckstraße Regie führen muss, das beantworte, wer ihn engagiert hat (Kirsten Harms? Operndirektor Christoph Seuferle? Donald Runnicles persönlich?). In Barcelona oder Valencia, in Tokio oder Santa Fé mag solcher global trash irgendwie durchgehen, in London mit Knirschen vielleicht auch. In Deutschland, in Berlin geht so etwas nicht, gerade bei Wagner nicht. Der Skandal ist nicht, dass sich über die versammelten handwerklichen Lieb- und Fantasielosigkeiten kaum hinwegsehen lässt. Der Skandal ist, dass die Leitung der Deutschen Oper offenbar damit rechnet, dass der konservative Zuschauer genau dies tut. Eine repertoiretaugliche Inszenierung sei, was möglichst weit hinter den Anspruch und die Tradition des Hauses zurückfällt? Man hört förmlich, wie Götz Friedrich sich stöhnend in seinem Grab umdreht.
Dabei lohnt es nicht, sich in die Details zu versenken. Lohengrin, der Schwanenritter, schreitet als eine Art Erz- oder Friedensengel durch die romantische Intrige, mit weißen Rucksack-Flügeln, die alle größeren darstellerischen Regungen seinerseits unterbinden. In der Szene vor dem Münster im zweiten Akt wallt ein roter Theatervorhang herunter, und die Kirche selbst erscheint, schief abgelichtet, hinter einem kleinen güldenen Bühnenportal (Vorsicht: Kitsch!). Das Brautgemach spielt um ein weißes Bett (180 x 90), das sich alsbald als Sarkophag entpuppt, und der kleine Gottfried, an dessen Verschwinden sich das ganze Stück entzündet, kehrt schließlich als Kinderleiche heim nach Brabant. Krieg bleibt Krieg, da helfen keine Helden? Oder sind die Helden gar selbst schuld an der Metzelei, weswegen Lohengrins Schwan am Ende als silbrigschwarzes SA-Emblem am Himmel prangt? Apropos: Statt „Führer“ wird natürlich „Schützer von Brabant“ gesungen, so viel politische Korrektheit muss sein.
Wir wollen hier nicht von den „Lohengrin“-Regie-Großtaten eines Peter Konwitschny in Hamburg oder eines Hans Neuenfels in Bayreuth sprechen (und auch nicht von Götz Friedrichs Vorgänger-Inszenierung), aber es nimmt schon Wunder, wie ein ganzes Ensemble eine derartige konzeptionelle Dünnbrettbohrerei offenbar klaglos erträgt.
Der Chor hat’s an diesem Abend bequem, keine Frage, und honoriert sein ungestörtes Geradeaussingendürfen mit einer berückend konzentrierten Leistung (Einstudierung William Spaulding). Ein Pianissimo-Einsatz wie „Nun fasst uns selig süßes Grauen“ nach Lohengrins Ankunft im ersten Akt bleibt in überirdischer Zärtlichkeit über der Szene schweben, und selbst die zahllosen „Heil!“-Rufe der Partitur kippen klanglich nie in blödes, metallisches Blöken um. Wenn’s rhetorisch etwas kleinteiliger wird (in heiklen Doppelchören wie „In Früh’n versammelt uns der Ruf“), fehlt bisweilen die letzte rhythmische Schärfe und deklamatorische Präzision. Aber das sind Mäkeleien auf einem Niveau, das so derzeit wohl nur in Bayreuth anzutreffen ist.
Während das Orchester der Deutschen Oper sich glücklich schätzen kann, tief unten im Graben nichts Szenisches mitzubekommen und seinerseits sehr schön spielt, vor allem die Streicher, muss Donald Runnicles dreieinhalb Stunden lang auf Steffen Aarfings erbärmliche Bunkerausstattung starren. Ob eine andere Ästhetik seine Interpretation beflügelt hätte, mehr silbriges A-Dur-Gestäub im Vorspiel, flüssigere Tempi, geschmeidigere, inspiriertere Übergänge und Klangvaleurs vor allem im Leisen?
Angesichts der erschwerten Umstände möchte man dem Schotten so manche wenig lohengrinöse Bodenständigkeit und Sicherheitsleine gerne nachsehen. Nur an der Bühnenmusik sollte er unbedingt feilen: Entweder diese kommt kaum hörbar irgendwo aus dem Off, oder das Blech darf – wie im Reitermarsch – im Proszenium und in zwei Zuschauerlogen Platz nehmen, weshalb der Rest der Musik gnadenlos überschmettert wird. Beides ist so von Wagner nicht gemeint.
Hätte man Klaus Florian Vogt nun nicht in letzter Minute für den stimmlich überforderten Marco Jentzsch eingeflogen, auch die sängerische Leistung wäre zu beweinen gewesen. Zwar bemüht sich Petra Lang um eine dämonisch die Zähne bleckende Ortrud, in der Mittellage verfügt sie auch über ein paar erotisch flutende Hexentöne, an der dramatischen Kontur und Höhe aber, am Biss mangelt es noch. Davon wiederum hat Ricarda Merbeths Elsa eher zu viel – was ihr an lyrischer Süße fehlt, sucht sie mit Druck und einem wenig konsistenten Legato zu kompensieren, was den Liebreiz der Figur nicht eben erhöht. Bei den Männern schaut es finster aus: Weder Albert Dohmens Vokale kauernder König noch Gordon Hawkins raubautziger Telramund noch Bastiaan Everinks unausgegorener Heerrufer erfüllen auch nur annähernd das Profil ihrer Partien.
Klaus Florian Vogt aber überstrahlt sie alle, alle. Mit seinem Unschuldstimbre wie von einem anderen Stern, so rein, so frei, so mühelos. Gänsehaut überläuft einen gleich beim ersten „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!“, als flüsterte er es dem Saal ins Ohr. Und auch sein „Fühl ich zu dir“ im Brautgemach atmet eine Sinnlichkeit, wie man sie einem Außerirdischen kaum zutrauen würde. Dynamisch könnte der Norddeutsche fast weniger geben, vor allem in der Gralserzählung. Seine Stimme trägt ja faktisch immer und hat an Farben und heldischem Schmelz mächtig zugelegt, seit er in der Rolle 2009 in Stefan Herheims gleichfalls verunglückter Inszenierung an der Staatsoper zu erleben war.
Ein Tenor entwickelt sich, frisst sich Selbstbewusstsein, Kraft und Klugheit an, passt in Zukunft hoffentlich gut auf sich auf – und rettet ganz nebenbei eine Aufführung, die ohne ihn vollständig in die Grube gefahren wäre. Dass es so etwas (noch) gibt, stimmt einen dann fast schon wieder milde.
Wieder am 19., 22., 25. und 28. April
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