zum Hauptinhalt

Kultur: Der lange Schlaf Europas

Ausgrenzung oder Integration? Ein Berliner Symposium untersucht die Lebensbedingungen der Roma, der größten Minderheit des Kontinents

Europa als Wertegemeinschaft – das scheint längst eine Leerformel. Auf dem kleinen Kontinent liegen sich die mittel- und nordeuropäischen Verteidiger des Sozialstaats mit ihren britischen Zertrümmerern in den Haaren, die strikt Säkularen mit den Befürwortern kirchlicher Sonderrechte. Und auch Europas Demokratierhetorik klingt neuerdings hohl, seit Regierungen der „nationalen Einheit“ wie in Griechenland erzwungen werden oder gewählte Regierungen, etwa in Portugal, ihr (Spar-)Programm von Brüssel diktiert bekommen.

Die schrecklichsten Erfahrungen mit dem Abstand zwischen Predigt und Realität der Union hat aber vermutlich Europas größte Minderheit gemacht: Die zehn bis zwölf Millionen Sinti und Roma, die, wo immer in Europa sie leben, bestenfalls EU-Bürger zweiter, meist dritter Klasse sind. In den letzten 20 Jahren hat sich ihre Lage eher verschlechtert. Seit der Eiserne Vorhang fiel, brennen wieder ihre Hütten, treffen sie wieder Pogrome und einzelne Morde – in Ungarn waren es nachweislich allein elf im Jahr 2009. „Wir kamen zurück, das Haus war nicht angetastet“, zitiert die Nobelpreisträgerin Herta Müller in einer Reportage aus den frühen Neunzigern einen rumänischen Rom, der die Vernichtungslager der Nazis überlebt hatte. „Und jetzt brennt man uns unsere Häuser über dem Kopf ab.“

Müller las den Text soeben zum Auftakt eines Berliner Symposiums, mit dem die Allianz-Kulturstiftung und die Bundeszentrale für politische Bildung das lange vernachlässigte Thema groß auszuleuchten suchten. Die Hälfte der Panels des Symposiums „Was heißt denn hier Zigeuner? Bild und Selbstbild von Europas größter Minderheit" sind der Kunst und Musik der Roma gewidmet. Und ihrer Literatur, die es erst seit kurzer Zeit gibt. Nahezu ohne Schulbildung, zudem aus Angst, sich an die Mehrheitsgesellschaft zu verraten, begannen Roma erst vor rund hundert Jahren zu schreiben.

Indem man die Ressourcen und Leistungen der Roma in den Vordergrund stelle, habe man sie „bewusst nicht zu einem Problem machen“ wollen, sagt Michael Thoss, der Geschäftsführer der Stiftung. Der guten Absicht setzen freilich die geladenen Künstler und Kulturmanager selbst kritische Lichter auf. Was Roma-Kunst sei? Der Brite Daniel Baker muss passen: Sie habe wohl weniger eigene Gegenstände als einen bestimmten Blick. Noch grundsätzlicher Kritisches kommt aus dem Publikum: Roma-Kunst sei mündlich, lebe von einer außerordentlichen Vielsprachigkeit und vom raschen Wechsel, bemerkte ein Roma-Aktivist und Künstler. Und mahnt die Kollegen auf dem Podium, nicht die vermarktende Sicht der Galerien einzunehmen. Das Label „Roma-Künstler“ tauge bestenfalls für eine Übergangszeit, warnt die in den Niederlanden tätige Kuratorin Maria Hlavajova, Organisatorin des zweiten RomaPavillons auf der Venedig-Biennale in diesem Jahr. Auch der Pavillon brauche ein Verfallsdatum. „Irgendwann müssen wir sagen können: Mission erfüllt.“

Im Fall der Roma-Künstler könnte das länger dauern: Die meisten jungen RomaIntellektuellen und Künstler seien derzeit in politische Aktionen eingebunden, sagt die Ungarin Timea Junghans, 2007 Kuratorin des ersten Roma-Pavillons in Venedig. Sie organisierten Demos, Kampagnen, seien Teil der Bürgerbewegung gegen Antiziganismus und Rechtsdrift der Politik in Ungarn. „Das ist eine sehr andere Lage als die der westlichen Kunstszene. Sie ist dramatisch.“

In Zahlen: Eine Million der Ungarn und damit 7,5 Prozent der Bevölkerung sind Roma, zwei Drittel von ihnen leben in Armut, mindestens die Hälfte in tiefer Armut. Und trotz wachsender Bildung – 95 Prozent durchlaufen die ersten acht Schulklassen, 70 Prozent lernen weiter, weit mehr als der EU-Schnitt von 40 Prozent – sperrt der Arbeitsmarkt sie praktisch aus. Das Rentenalter erreicht ohnehin kaum ein Rom; sie sterben im Schnitt zehn Jahre früher als andere Ungarn, die bereits eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als die Durchschnittseuropäer haben. Die tristen Daten nannte in Berlin ein offizieller Vertreter Ungarns, Zoltán Balog, Staatsminister für soziale Inklusion und damit RomaVerantwortlicher der rechtskonservativen Regierung Orbán.

Der lange Schlaf Europas könnte jetzt beendet sein, das private „Open Society Institute“ des Finanzjongleurs und Mäzens George Soros, bisher der wesentliche Akteur für die Sache der Roma, steht nicht mehr ganz allein. Nachdem die EU-Grundrechtekommissarin Viviane Reding sich im Sommer 2010 im Alleingang Sarkozys Roma-Abschiebepolitik entgegenstellte, haben sich nun alle Mitgliedsländer zu nationalen Roma-Konzepten verpflichtet. Dass sich auch Deutschland nicht entspannt zurücklehnen kann, unterstreicht in Berlin Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma: Hierzulande würden Flüchtlinge vom Balkan Opfer von Mietwucher und Arbeitssklaverei, gegen die sie sich wegen ihres höchstens prekären Aufenthaltsstatus nicht wehren könnten. Bis zu 68 Prozent der Deutschen bekennten sich zudem zu ihren Zigeuner-Vorurteilen; dabei seien 500 000 europäischer Sinti und Roma ebenso dem Holocaust zum Opfer gefallen wie sechs Millionen Juden: „Wer Antisemitismus ächtet und Antiziganismus toleriert, hat aus der Geschichte nichts gelernt.“ Zoltan Balog sekundiert: Wenn er eines Tages nicht mehr ministerieller Diplomatie verpflichtet sei, werde er über seine Verhandlungen mit Deutschland zur europäischen Roma-Politik berichten.

Die Köpfe neu zu justieren: Dazu gehört freilich mehr, als die Laufzeit europäischer Kohäsionsprogramme vorsieht. Europa habe sich seine Zigeuner als zivilisationsunfähig, ohne Wert und Menschenwürde, schließlich selber erfunden, sagt der Bielefelder Germanist Klaus-Michael Bogdal. Seit dem ersten Auftauchen von Rom vor 600 Jahren, zu Beginn der europäischen Neuzeit, hätten die Europäer diese überaus heterogene, wiewohl kleine Gruppe stets als ihr „Anderes“ definiert und an ihr das Maß der eigenen Zivilisiertheit genommen. In Zeiten einer gesamteuropäischen Identitätskrise dürfte der Bedarf nicht geringer geworden sein.

Andrea Dernbach

Zur Startseite