Matthew Herbert an der Deutschen Oper: Der Klangbraumeister
"Musik dient nur noch dazu, die unsere krisengeschüttelte Welt zu bemänteln", sagt der britische Produzent Matthew Herbert - und mixt seit langem dagegen an. Jetzt erstellt er mit seiner Band und den Besuchern eine CD in der Deutschen Oper - eine Woche lang.
Da kocht jemand auf der Bühne. Der Geruch brutzelnder Zwiebeln hängt schwer in der Luft. Alles andere, was hier geschieht, ist dafür von nonchalanter Leichtigkeit. Musiker tüfteln an ihren Rechnern, das Publikum plaudert. Die Deutsche Oper hat den britischen Produzenten und Klangkünstler Matthew Herbert in die Tischlerei geladen, um im Verlauf einer Woche eine CD herzustellen: „The Recording“ heißt das Projekt. Gerade sind Besucher auf die Straße geschickt worden, um dort Alarmtöne jeglicher Couleur aufzunehmen.
Für Herbert muss Musik vor allem authentisch sein. Dem Leben abgerungen. Also: Keine Synthesizer. Kein Sampeln von Musik anderer. Nur selbst eingefangene, im Original dokumentierte Klänge. Das hat er sogar in einem eigenen Manifest niedergelegt. Klingt erst mal wahnsinnig theoretisch, hat aber einen ernst zu nehmenden Hintergrund. „Musik ist zur Dekoration verkommen“, erklärt er. Im Flieger, im Aufzug, im Supermarkt. „Sie soll dir einflüstern: Alles ist okay.“ Und dabei die realen Krisen bemänteln. Wie kann Musik, Kultur überhaupt aus dieser dienenden Funktion befreit, zum Agenten einer Umwälzung gemacht werden? Herbert kommt nicht mit Antworten nach Berlin. Sondern mit Fragen. Es ist eine Suche nach dem Echten, dem Vitalen, dem, was man „Wahrhaftigkeit“ nennen könnte. Deshalb auch die Köchin auf der Bühne. Die Band versteckt sich nicht in der Garderobe, sondern isst vor aller Augen.
Für die Zuhörer ist es ein Wechselspiel aus Aufregung und Langeweile. Herbert schickt eine Besucherin – es hat sich tatsächlich eine gefunden, Tina – auf fünftägige Fahrt nach Bratislawa, Budapest und Bukarest, Orte, aus denen sie Klänge mitbringen soll. Im nächsten Moment zieht er sich komplett zurück, versenkt sich im Laptop. Dann passiert: nichts. Man verzeiht es ihm, weil seine Persönlichkeit irgendwie die Fäden zusammenhält. Und das junge Publikum – lauter digitale Kids – stört’s nicht. Gibt doch Bier.
Nach zwei Stunden: das eigentliche „Recording“. Die Besucher haben schließende U-Bahn-Türen von ihrer Exkursion mitgebracht, Handyklingeln, Autohupe. Besonders gefallen Herbert die Alarmtöne der U-Bahn. Er erfindet eine Melodie dazu und mixt am Rechner eine tranceartige Musik, in der die Ursprungslaute bald nicht mehr erkennbar sind: Klangbraumeister, Schamane, Magier, Kobold. Schön, dass Intendant Dietmar Schwarz auf der anschließenden Podiumsdiskussion, unter anderem mit Tim Renner und Detlef Diederichsen, daran erinnert, warum dieses Zwitterding aus Konzert und Performance gerade hier stattfindet: „Für uns ist alles Oper“.
bis 24. September, täglich 16.30–22 Uhr, Record-Release-Party am 25. September, 20 Uhr