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Bossa Nova: Der Klang von Ipanema

João Gilberto hat in Brasilien eine melancholische Musik erfunden: die Bossa Nova. Zwei Jazzer bringen sie an die Spitze der US-Charts und machen den Stil 1962 weltberühmt. Von Legenden, Drogen und akkuraten Bügelfalten.

Charlie Byrd ist begeistert von dem, was er da hört. Was ist das? Eine Mischung aus Jazz und Samba, irgendwie aus dem Rhythmus gefallen. Diese sanften Klänge, der schwebende, fast geflüsterte, poetische Gesang: Der Jazz-Gitarrist nimmt im Sommer 1961 alle Platten mit, die er finden kann, um sie nach seiner Rückkehr in die USA Freunden vorzuspielen. Das Außenministerium hat Byrd gemeinsam mit anderen Musikern auf Gastspielreise nach Lateinamerika geschickt, sie sollen dort den Jazz vermarkten. Das Ergebnis aber ist das genaue Gegenteil: Charlie Byrd begegnet in Rio de Janeiro und São Paulo einer fremdartigen Musik und bringt diese „Neue Welle“ in die USA: die „Bossa Nova“.

„Ich habe mich sofort in sie verliebt“, wird Stan Getz später sagen, Jahre nachdem ihm Charlie Byrd seine Entdeckung aus Rio vorgespielt hat. Jahre nachdem sich die ganze Welt in die Art und Weise verliebte, wie er diese brasilianischen Klänge auf seinem Tenorsaxofon spielte. Am 13. Februar 1962 gehen er und Byrd ins Studio, um einige der Songs aufzunehmen, die Byrd mitgebracht hat. Ihre Platte nennen sie „Jazz Samba“, sie wird bis auf Platz eins der US-amerikanischen Charts steigen und eines der meistverkauften Jazzalben aller Zeiten werden.

Die Geschichte der Bossa Nova beginnt schon früher. 1950 zieht ein musikverrückter 19-Jähriger aus dem Bundesstaat Bahia nach Rio, um vom Spiel auf seiner Gitarre zu leben. Es ist João Gilberto. Sein Vater will, dass er Arzt oder Rechtsanwalt wird, doch João hat nur Musik im Kopf. Als Einziger der sieben Geschwister macht er keinen Schulabschluss und zieht, sobald er kann, nach Rio de Janeiro.

Wann und wie genau er erstmals die neuen Rhythmen, die ungewohnte Harmonik spielt, darüber existieren einige Legenden. Etwa die, dass João Gilberto die Bossa Nova auf der Toilette erfand.

Anfangs hat der Zugereiste in Rio nicht viel Glück, er schlägt sich durch, singt zeitweise für ein Vokalquintett, wird jedoch wegen Unzuverlässigkeit gefeuert. Er gilt als exzentrisch und launisch, vor allem jedoch als besessen davon, einen neuen Stil zu erfinden. Ohne festen Wohnsitz schläft er meist bei Freunden auf der Couch, raucht Unmengen Marihuana. Nach Jahren erfolgloser Auftritte in der Zona Sul, im Süden Rios, flüchtet Gilberto 1955 vorübergehend zu seiner Schwester Dadainha nach Minas aufs Land. Dort spielt er den ganzen Tag Gitarre, sogar im Badezimmer. Er stellt fest, dass in diesem nur fünf Quadratmeter großen Raum die Akustik am besten ist. Nächtelang sperrt er sich dort ein, spielt immer und immer wieder denselben Akkord, überzeugt davon, dass es ihn geben kann, den neuen Stil. In diesem Badezimmer in Minas passt endlich alles zusammen: der Rhythmus und sein sanft gehauchter Gesang, der fast komplett ohne Vibrato auskommt.

Als Gilberto, weg von den Drogen und mit neuem Selbstbewusstsein, zwei Jahre später nach Rio zurückkehrt, beginnen die Goldenen Jahre Brasiliens. Die Aufbruchstimmung ist Ende der 50er Jahre deutlich spürbar. Die neue Hauptstadt Brasilia wird gebaut, der sozialistische Präsident Juscelino Kubitschek modernisiert das Land, die Fußball-Nationalmannschaft wird zweimal in Folge Weltmeister. Auch in Film, Malerei, Theater und Literatur entwickeln sich neue Strömungen. Und João Gilberto liefert den Soundtrack dafür. Allerdings nicht allein.

In einer Bar der Zona Sul, nicht weit entfernt von dem später besungenen Ipanema-Strand, trifft Gilberto zufällig auf jenen Mann, der ihm die größten Hits schreiben wird: Antonio Carlos Jobim, genannt Tom Jobim. Aufgewachsen hier, in Ipanema, als Sohn eines Diplomaten und Enkel eines Senators, prägten Jobim vor allem französische Klassikkomponisten und Jazz. Als er Gilberto begegnet, ist Jobim zwar als Komponist von Sambarhythmen recht erfolgreich, jedoch auf der Suche nach neuen Ideen. Eine perfekte Kombination, denn Gilberto ist zwar ein begnadeter Sänger, jedoch ohne großes Talent für Komposition. Der mutmaßlich erste Bossa-Nova-Song, aus der Feder Gilbertos, gilt heute als weitgehend vergessen. Die Geschichte seiner Entstehung ist hingegen umso klangvoller: Eines Nachmittags sieht João Gilberto am Ufer des Rio São Francisco den Wäscherinnen bei der Arbeit zu. Sie balancieren die Kleiderbündel auf ihren Köpfen und wiegen ihre Hüften im beschwerten Takt ihrer Schritte. Bim-bom, Bim-bim-bom, imitiert Gilberto leise singend ihre Bewegungen und zupft dazu verträumt auf seiner Gitarre. Bim-bom, bim-bim-bom / Bim-bom, bim-bim-bom, heißt es später im Lied „Bim Bom“. 1:16 Minuten, verewigt 1959 auf Gilbertos Debütalbum „Chega de saudade“. Es gilt als die erste reine Bossa-Nova-Platte, sie enthält größtenteils Stücke seines Partners Tom Jobim – darunter bereits eines seiner größten, das drei Jahre später in den USA auch Stan Getz und Charlie Byrd aufnehmen werden: „Desafinado“.

Im Text dieses Lieds taucht zum ersten Mal der Begriff „Bossa Nova“ in seiner heutigen Bedeutung auf. Zuvor war er immer negativ konnotiert, als Schmähung von allem Modernen. Mit der Veröffentlichung von „Desafinado“ wird Bossa Nova zum Lebensgefühl.

Dabei wäre das Album beinahe gar nicht veröffentlicht worden. Álvaros Ramos, Geschäftsführer der größten Ladenkette für Schallplatten, der damals den brasilianischen Musikmarkt kontrollierte, zerschlug das Vinyl zunächst wütend an der Tischkante und brüllte: „Das ist also die Scheiße, die wir aus Rio kriegen? Warum nehmen sie jemanden mit Erkältung?“ So jedenfalls schildert es Ruy Castro in seinem ausführlichen Standardwerk „Bossa Nova – The Sound of Ipanema“. Erst ein persönliches Treffen mit Gilberto, dem attraktiven, jungen Sänger mit Hundeblick, kann Ramos überzeugen. Er nimmt die Platte ins Vertriebsprogramm seiner Kette.

Die Jugend identifiziert sich mit den neuen Klängen. Sie ist die voluminös sentimentalen, fast opernartigen Gesänge des Sambas leid, durchsetzt von antiquierter Sprache, weit weg von der Ausdrucksweise ihrer Generation. Bossa Nova gleicht einer Revolution, ähnlich wie die Verbreitung des Rock ’n’ Roll in den USA. Hier wie dort definiert die Jugend fortan ihre Existenz über die neue Musik – mit dem Unterschied, dass Bossa Nova eher in den Wohnungen der weißen, intellektuellen Oberschicht entsteht und nicht in Kellern oder Garagen.

Musikalisch ist die Bossa Nova weit komplexer als der Rock ’n’ Roll, was auch an ihrer Nähe zum Jazz liegt. Die Harmonik ist für Popverhältnisse äußerst kompliziert. Der weiche, fließende Charakter der Musik wird durch chromatische Folgen befördert. Die vielen unaufgelösten Dissonanzen und der ständige Wechsel zwischen Dur und Moll erzeugen die bossa-typische Melancholie. Der Rhythmus vermeidet schwere Akzente, wodurch beim Hörer das Gefühl entsteht, die Akkorde kämen zu früh oder zu spät. Da die Melodien zudem ungewöhnliche Betonungen enthalten, wird die Bossa Nova von Kritikern gerne als „Musik für verstimmte Sänger“ beschimpft. „Es klingt absichtlich schräg“, hält Tom Jobim entgegen. „Es ist eine Kritik, die nur Experten vorbringen. Der Typ von nebenan trifft zwar den Ton nicht, aber ist in ein Mädchen verknallt, und er kann es ihr ruhig sagen, weil die Liebe entscheidender ist als die richtige Tonlage. Einige Leute treffen immer den richtigen Ton, aber sie lieben niemanden.“

In Jobims Verteidigung klingt bereits an, dass in den Texten der Bossa Nova nicht, wie häufig angenommen, immer nur die sommerliche Leichtigkeit des Strandlebens besungen wird. Allein das Wort „Saudade“, eigentlich unübersetzbar, beschreibt eine Form des Weltschmerzes, eine Sehnsucht nach etwas Geliebtem, das verloren ging.

All das versuchen die US-Amerikaner Stan Getz und Charlie Byrd im Februar 1962 in ihre Aufnahme zu legen. Ähnlich wie Gilberto hat Getz, 35, zu diesem Zeitpunkt bereits heftige Krisen durchlebt. Der Sohn jüdischer Einwanderer ist im Alter von 16 Jahren von zu Hause durchgebrannt, um sich ganz der Musik und seinem Saxofonspiel hinzugeben, er wird aus Bands geworfen und verfällt den Drogen. Vom Heroin kommt er später los, die Alkoholsucht wird ihn bis zu seinem Tod 1991 begleiten. Anfang der 50er Jahre muss Getz sogar ins Gefängnis, weil er versucht hat, in einer Apotheke Betäubungsmittel zu rauben. Er hat die Verkäuferin bedroht und behauptet, eine Waffe zu tragen. Als die Frau ihm nicht glaubt, flieht er. Später ruft Getz in der Apotheke an, um sich zu entschuldigen. Der Anruf wird zurückverfolgt, der Gitarrist verhaftet.

Obwohl es ihm nach seiner Freilassung gelingt, in der Musikbranche Fuß zu fassen und mit einigen namhaften Künstlern zu spielen, bleibt der kommerzielle Erfolg zunächst aus. Erst die brasilianischen Rhythmen, von Charlie Byrd aus Rio in die Heimat importiert, geben seiner Karriere eine völlig neue Wendung.

Am 13. Februar treffen sich Byrd und Getz in der All-Souls-Kirche in Washington, D.C., um die acht Stücke für ihr gemeinsames Album einzuspielen. Die Aufnahmen dauern bloß vier Stunden, danach fliegt Getz sofort nach New York zurück. „Jazz Samba“ wird sich 70 Wochen in den Pop-Charts halten. Allein der Titelsong „Desafinado“ verkauft sich eine Million Mal, im folgenden Jahr erhält Getz dafür einen Grammy in der Kategorie „Best Jazz Performance“. Die sanften Klänge seines Tenorsaxofons sind nun landesweit bekannt, ebenso die Bossa Nova.

Von der nordamerikanischen Welle sollen jetzt auch die brasilianischen Musiker profitieren, die das Genre begründet haben. Das US-Außenministerium organisiert mit einer Plattenfirma ein Bossa-Nova-Festival in der New Yorker Carnegie Hall, um „The New Brasilian Music“ endgültig beim Publikum zu etablieren. Die Bossa- Elite Brasiliens fliegt am 21. November 1962 nach New York. Unter ihnen sind auch Sergio Mendes („Mas Que Nada“) und Luiz Bonfá. Und natürlich João Gilberto und Tom Jobim, die an diesem regnerischen Abend das Finale spielen sollen. Ihretwegen kommen die US-amerikanischen Jazzgrößen der Zeit: Tony Bennett, Dizzy Gillespie, Miles Davis, Gerry Mulligan, Erroll Garner und Herbie Mann sitzen zwischen 3000 weiteren Musikliebhabern, mehr als 1000 blieben enttäuscht vor der ausverkauften Carnegie Hall stehen. „Ein Ort, an dem Weichen für Weltkarrieren gestellt werden“, sagt Sergio Mendes später. „Einen solchen Ort gibt es in Rio nicht. Für mich waren die USA das Paradies.“

Tom Jobim, mit 35 einer der Ältesten, verlässt für das Gastspiel zum ersten Mal Brasilien. Er sorgt sich vor allem wegen der Masse der Musiker. Viele haben kaum Erfahrung vor großem Publikum, Jobim fürchtet, das Konzert könne in einem Desaster enden. João Gilberto sorgt sich mehr um die Bügelfalte seiner Hose. Hinter der Bühne nervt er die Kollegen. Sitzt die Falte nicht perfekt, werde jeder nur auf seine Hose achten, nicht auf sein Gitarrenspiel, fürchtet er. Es findet sich ein Bügeleisen und Gilberto wartet in Unterhose in der Garderobe, bis die Theaterschneiderin seine Falte gerichtet hat.

Das Konzert gerät zum Triumph. Mehrere Radiostationen in Amerika und Europa übertragen es, im Publikum applaudieren die Jazzgrößen. Viele Gastmusiker erhalten Einladungen, in den USA aufzutreten oder aufzunehmen. Gilberto unterschreibt einen Plattenvertrag, Jobim wird als Arrangeur verpflichtet. Beide bleiben dauerhaft in den USA. Zwei Wochen nach dem Auftritt folgt ein weiteres Konzert in Washington, D.C., mit anschließendem Empfang bei Jacqueline Kennedy im Weißen Haus.

Als viel bedeutender jedoch gilt eine Begegnung, die sich bereits bei den Proben zum New Yorker Konzert ereignet: Stan Getz trifft zum ersten Mal auf João Gilberto und Tom Jobin, die zwei Männer, deren innovative Klänge ihn ein Jahr zuvor inspiriert haben. Gilberto zeigt sich wenig begeistert davon, wie Getz ihr Lied „Samba de Uma Nota Só“ interpretiert hat. Er spielt ihm vor, wie es eigentlich klingen sollte.

Dann beschließen sie, ein gemeinsames Album aufzunehmen. Jobim hat schon den passenden Song parat: „Garota de Ipanema“, besser bekannt als „The Girl from Ipanema“. Auch dieses Lied wird Nummer eins der Charts, bringt einen Grammy als „Single des Jahres“ ein. Heute ist „The Girl from Ipanema“ der meistgespielte Popsong nach „Yesterday“.

Charlie Byrd hat mit alldem nichts mehr zu tun. Für die Arbeit am Album „Jazz Samba“ hat er nur eine Standard- Gage bekommen. 1964 geht er gerichtlich dagegen vor. Nach drei Jahren Prozess erhält er eine Umsatzbeteiligung in Höhe von 50 000 Dollar. Zusammen auftreten werden sie nicht mehr.

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