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Töne zur Zeit. Aribert Reimann, 1936 in Berlin geboren, komponierte schon als Zehnjähriger – und schreibt gerade an seiner neunten Oper (Uraufführung an der Berliner Staatsoper 2014). Der Siemens-Musikpreis ist mit 200 000 Euro dotiert.
© Manu Theobald

Interview mit Aribert Reimann: „Der Klang sucht mich“

Einzelgänger mit Echo: Der Berliner Komponist Aribert Reimann wird mit dem Siemens-Musikpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ein Gespräch.

Darf ich beginnen? Sie haben mir in Ihrer „Medea“-Kritik ...

... Ihre Oper „Medea“ nach Grillparzer ist vor einem Jahr sehr erfolgreich an der Wiener Staatsoper uraufgeführt worden ...

... einen bildungsbürgerlichen Impetus unterstellt. Ich stünde mit meinem Oeuvre im Gegensatz zu vielen Kollegen im konservativen, akademischen Eck.

Sie haben sich immer an großer Literatur orientiert, an Shakespeare, Ibsen, Lorca – und Sie haben in der Wahl Ihrer Mittel nie danach gefragt, in welche Richtung das ästhetische Fähnchen weht. Das könnte man bewahrend nennen, konservativ.

Ich weiß nicht ... Ich wollte mit meiner Musik nie in einer bestimmten Ecke stehen oder nicht stehen. Sonst hätte ich künstlerisch gar nicht überleben können. Deshalb ärgern mich solche Kategorisierungen, sie scheren meine Arbeiten fürs Musiktheater über einen Kamm. Das wird der Sache nicht gerecht, denn die „Melusine“ hat eine vollkommen andere Sprache als der „Lear“ oder die „Medea“. Ich könnte nie zweimal das Gleiche komponieren, im Sinne einer bestehenden Grammatik. Ich muss mir immer ein fremdes, neues Terrain erschließen, sonst verhungere ich.

Dennoch gibt es einen Reimann-Ton, einen unverkennbaren Stil, vor allem, was die Oper betrifft. Die Stimmen sind bei Ihnen oft hoch expressiv, um nicht zu sagen exzentrisch: wilde Koloraturen, bizarre Intervall-Sprünge, ein Ausloten und Ausbeulen des gesungenen Wortes.

Aber für jede Figur ganz verschieden! Koloraturen haben doch einen Sinn! Nehmen Sie Medea und ihre Rivalin Kreusa. In dieser Beziehung gibt es einen unerhört wichtigen Moment, wenn Kreusa zu Medeas Kindern sagt: „Kommt her, ihr heimatlosen Waisen. Ich will euch Mutter sein.“ Und die leibliche Mutter, Medea, steht daneben! Etwas Grauenvolleres kann man sich nicht vorstellen. Die Frage für den Komponisten ist, was geht in Medea vor? Kreusa mag ein bisschen einfältig sein. Medea aber vibriert, permanent, das ist ihre Art, sich in einer fremden Welt zu behaupten – und sie fasst einen Plan, ohne Worte. Diesen Plan muss ich hörbar machen, das sind bestimmte Flageolett-Akkorde in den Streichern, die man wiedererkennt, wenn Kreusa im Palast in Flammen aufgeht. Das heißt, die Musik spiegelt Medeas Inneres. Das ist ja überhaupt der Sinn von Oper. Dass ich mehr erfahre über die Menschen da auf der Bühne, als wenn sie „nur“ zu mir sprechen wie im Schauspiel.

Und wenn ich heute so gar nichts weiß von Medea und von Grillparzer und vom Goldenen Vlies, was erfahre ich dann?

Hoffentlich eine große Fremdheit, nicht mit dem Musiktheater, sondern mit der Figur. Grillparzers Medea ist unglaublich heutig, sie ist die Fremde, die Nicht-Angenommene. Das klingt jetzt blöd, aber ich wusste gar nicht, wie aktuell ich mit dieser Wahl bin. „Medea“ ist keine Migrationsoper, das wäre zu schlicht. Aber ich kann nun einmal nur Stoffe vertonen, die etwas mit unserer Zeit zu tun haben. Das war immer so, auch bei „Troades“ nach den „Troerinnen“ des Euripides. Das ist, wenn Sie so wollen, meine Anti-Kriegs-Oper. 1945 war ich neun Jahre alt, ich habe den Krieg als Kind sehr bewusst erlebt ... Aber Sie haben es sicher wieder auf den Bildungsbürger abgesehen, stimmt’s?

Wäre das so schlimm?

Ich empfinde mich nicht als solchen, jedenfalls nicht mit dem Unterton, den dieser Begriff heute hat. Für mich gab es nie etwas anderes als Literatur und Musik. Mein Vater war Leiter des Berliner Staats- und Domchors, meine Mutter Sängerin, ihre Schüler, die ich sehr früh schon am Klavier begleitet habe, gingen bei uns ein und aus. Bach und Schubert, das war für mich wie Essen und Trinken. Und als wir ausgebombt wurden, erst in Berlin, dann in Potsdam, und mit einem Handkarren gen Westen flohen, den brandschatzenden Russen oft nur wenige Kilometer voraus – da war das, was man im Kopf und im Herzen trug, das Einzige, was blieb. Das sind existenzielle Erfahrungen.

Beschäftigt Sie die Vergangenheit heute stärker als früher?

Nein. Ich kenne Menschen meiner Generation, die leben nur in der Vergangenheit, das finde ich fürchterlich. Ich muss nach vorne schauen, ins Ungewisse.

Spielt das Alter für Sie eine Rolle?

Abgesehen vom einen oder anderen Zipperlein: nein. Im oben genannten Sinn.

Warum singt der Mensch?

Um in Schichten seines Bewusstseins vorzudringen, die mit der Ratio allein nicht aufzuschließen sind. Um sich mitzuteilen, nonverbal. Wenn der Gesang einsetzt, muss das Wort weggehen, sonst verstehe ich nicht, warum gesungen wird. Die Verlängerung des Wortes ist das Entscheidende, durch Melismen, durch das Orchester, den Raum. Sonst habe ich ja nur Silbe auf Ton, eine Art gesteigerte Deklamation. Ich selbst singe übrigens immer, wenn ich komponiere, ganz gleich ob für Stimme oder für Instrumente. Mit Wolfgang Rihm habe ich mich darüber einmal unterhalten, dem geht es genauso.

Woher kommt dieser innere Gesang, wie und wo entstehen Ihre Klänge?

In meinem Kopf. Plötzlich ist da eine Farbe, eine Konstellation, der ich nachgehen muss. Manchmal mache ich mir Notizen, wenn es sich um ein größeres Werk handelt, sprachliche, keine Noten. Das Seltsame ist, dass ich das Gefühl habe, der Klang sucht mich, nicht ich suche den Klang – und dass er von außen kommt, von sehr weit weg.

Als sei er nicht von dieser Welt?

Ich bin kein Esoteriker, aber vielleicht trifft es das ganz gut. Wobei ich beim Komponieren auch nicht ganz von dieser Welt bin. Es ist, als träte ich aus mir heraus. Ein schwebender, flüchtiger Zustand. Was nichts damit zu tun hat, dass die handwerkliche Arbeit viel mit dispositionellen Überlegungen und mit der Organisation des jeweiligen Materials zu tun hat. Meistens geht das gut auf. Nur einmal habe ich erlebt, als ich Anfang der Neunzigerjahre für Brigitte Fassbaender den Lieder-Zyklus für Solo-Stimme „Eingedunkelt“ nach Paul Celan geschrieben habe, dass sich hinter jeder Note ein Überschuss an Musik ansammelte, der in den Liedern allein nicht unterzubringen war. Eine tolle Erfahrung, ich habe gleich im Anschluss neun Orchesterstücke geschrieben, ohne Stimme wohlgemerkt.

Sie sind ein Frauen-Komponist: Melusine, Hekabe, Bernarda Alba, Medea …

Die weibliche Stimme hat einfach mehr Möglichkeiten. Sie ist flexibler, geht leichter an Grenzen und darüber hinaus …

Frauen sind hysterischer?

Das haben Sie gesagt.

Konnten Sie immer komponieren, was Sie komponieren wollten?

Ja, weil ich nicht davon leben musste, ein Luxus. Das habe ich meiner Mutter zu verdanken, die gesagt hat, du brauchst ein zweites Standbein. Das war für mich das Klavier, als Liedbegleiter ...

... von Dietrich Fischer-Dieskau, Rita Streich, Ernst Haefliger, Elisabeth Grümmer, Brigitte Fassbaender, Barry McDaniel, Catherine Gayer und anderen ...

... war ich in der ganzen Welt unterwegs, außerdem habe ich wahnsinnig gerne unterrichtet, Lied, nicht Komposition, in Hamburg und in Berlin. Es war mir ein großes Anliegen, junge Sänger und Pianisten an die neue Musik heranzuführen. Anfangs habe ich in Wien sogar noch Musikwissenschaft studiert, aber das Akademische war nichts für mich.

Hat es Sie geschmerzt, dass Sie zur Avantgarde nach 1945 nie richtig dazugehört haben? Die Diskurshoheit hatten damals Komponisten wie Stockhausen, Nono und Boulez, was wichtig und richtig war, wurde in Donaueschingen verhandelt.

Die Donaueschinger Musiktage haben bis heute kein einziges Stück von mir uraufgeführt, damit muss ich leben (lacht). Im Ernst: Ich habe früh begriffen, dass ich nicht nur nicht so war, wie die Szene es gerne gehabt hätte, sondern dass ich gar nicht so sein konnte. Serielle Musik sagte mir nichts. Wobei ich mich selbstverständlich informiere, bis heute, was machen die Kollegen, was machen die Jungen. Aber ich habe auch genau gespürt, dass ich mir selbst folgen musste.

Ist der Siemens-Musikpreis für Sie nicht zuletzt ein Lohn fürs Durchhalten?

Erstens habe ich nicht im Traum damit gerechnet, wirklich nicht. Und zweitens bin ich kein Mensch, der vom Guten ausgeht, ich denke immer, es kann ja noch alles schiefgehen. In meinem Leben gibt es viele Zittermomente. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich beim „Lear“ in München mit meinem Librettisten Claus H. Henneberg vor den Vorhang musste, oder wie der Intendant der Wiener Staatsoper, Ioan Holender, mich letztes Jahr bei der „Medea“ ganz allein rausgeschickt hat – da habe ich beide Male gedacht: Jetzt bist du dran, jetzt kommt das große Buhgewitter. Kam aber nicht. Über den Preis habe ich mich natürlich sehr gefreut. Dass man sich selbst verwirklichen kann und wahrgenommen wird, dass man als Einzelgänger ein Echo findet, das ist eine schöne Anerkennung.

Das Gespräch führte Christine Lemke- Matwey.

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