Ausstellung: "Avantgarde!": Der Jahrhundertsturm
Die Brüche, die zum Ersten Weltkrieg führten, haben sich nicht erst 1914 ereignet. Am Kulturforum zeigt die Schau „Avantgarde!“, wie Gesellschaft und Kunst lange vor der Katastrophe brodelten.
Außer der Kernspaltung und der Atombombe, außer der Monstrosität von Auschwitz und der Schoah, außer dem Fernsehen und dem Triumph des Computers hatte die Menschheit bis zum Schicksalsjahr 1914 alles Große, Schöne oder Schreckliche schon gedacht und gemacht. Alles, was das 20. Jahrhundert im Grunde erschütterte und bewegte.
Man kann es, mit einiger Aufmerksamkeit, auch in der Ausstellung „Avantgarde!“ erkennen, mit der sich die Berliner Kunstbibliothek, die Staatlichen Museen und die Staatsbibliothek in ungewohnter Trinität in den Sonderausstellungshallen am Kulturforum direkt neben der Gemäldegalerie präsentieren. Die Schau der etwa 500 Exponate soll ein Pendant sein zur Weltkriegsausstellung im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden, wo die Militaria dominieren und Kultur und Gesellschaft der Zeit beinahe völlig ausgeblendet werden. Im Logo der „Avantgarde“ gibt’s darum zur Jahreszahl 1914 die Losung „Aufbruch / Weltbruch“.
Doch von Brüchen ist erst einmal wenig zu sehen. Die zweigeteilte Ausstellung beginnt mit der „Welt von Gestern“ und präsentiert zunächst die Plakat- und Buchkunst der „Moderne 1890–1914“. „Gestern“ soll hier wohl suggerieren, dass der „Weltbruch“ und das „Heute“ erst mit der Wendung zum Krieg im Sommer ’14 begonnen habe – was angesichts aller technischer, sozialer und politischer Auf- und Umbrüche, die den Krieg mitbedingt hatten, etwas willkürlich erscheint. Zumal der zweite Teil im Untergeschoss, betitelt „Worte in Freiheit. Rebellion der Avantgarde 1909–1918“ die Vorbereitungen und Vorahnungen früher sieht.
Das Medium ist die Botschaft - das galt erstmals um 1900
„Gestern“ ist auch gar nicht die Kernbotschaft der ersten Sektion, weil sie den Blick auf die neue, bis heute im Prinzip dominante Welt der Bilder eröffnet. Dass das Medium die Botschaft sei, gilt zum ersten Mal, als um die Jahrhundertwende in den nunmehr auch nachts beleuchteten Großstädten die Plakatwerbung boomt, als die Werbegrafik zur eigenen Kunstform wird und der Gebrauchsdesigner sich als plakativer Universalkünstler fühlen darf. Und so schwelgt das Auge im frechen Strich und den grandiosen Farben der berühmten (oder hier zu entdeckenden) Propagandisten.
Propaganda, so hieß alle Werbung noch, bis zum Krieg. Also werfen nicht nur die Pariser Can-Can-Girls ihre Röcke für Monsieur Toulouse-Lautrec. Es umschwirren schon Zeppeline und Doppeldecker die Dome von Frankfurt und München, 1905 verheißt man ein „Konkurrenz-Fliegen der ersten Aviatiker der Welt“ auf dem Flugplatz Berlin-Johannisthal, Ullstein wirbt für seine gleichnamige Wochenschrift „Die praktische Berlinerin“, Osram preist die „Neue elektrische Glühlampe“ mit „70 Prozent Stromersparnis“, „6-Tage-Rennen“. Tennisbälle, Schreibmaschinen, Filme, Autos werden ebenso beworben wie die „Internationale Ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr Berlin 1911“, für die ein im Habitus an Sherlock Holmes gemahnender Gentleman mit Mantel, Pfeife, Baedecker detektivisch die große neue Welt erkundet.
Emil Orliks grafische Kunst gilt der Eröffnung von Max Reinhardts sezessionistischem Kabarett-Theater „Schall und Rauch“, Asta Nielsen lockt als Weißclown ins Kino der „Komödianten“ – und darunter, fast verloren, auch ein Plakat von Käthe Kollwitz, das anlässlich einer politischen Versammlung mahnt: „600 000 Gross-Berliner wohnen in Wohnungen, in denen jedes Zimmer mit 5 und mehr Personen besetzt ist. Hunderttausende Kinder sind ohne Spielplätze!“
Im zweiten Teil geht es um Worte, Schriften, Ideen, um künstlerische Ismen
Politische Plakate (keine Kunst?) fehlen ansonsten völlig. Stattdessen schöne Entwürfe und Druckkunst von Van de Velde, Mucha, Gustav Klimt, Heinrich Vogeler oder eben sehr Bekanntes vom lasziven Aubrey Beardsley. Bezeichnend auch: Bernhard Pankoks wunderhübsche jugendstilige Vignetten zum deutschen Katalog für die Pariser Weltausstellung 1900 lassen nichts ahnen von den technischen Revolutionen, die damals 50 Millionen (!) Menschen in die Hallen unter dem neu erbauten Eiffelturm zogen.
Das Tolle der „Avantgarde“ findet sich erst im zweiten Teil, im Untergeschoss der im unwirtlichen Kulturforum doch sehr besuchenswerten Schau. Es geht dort mehr um Worte, Schriften, Ideen, um die künstlerischen Ismen vom Futurismus bis zum Dadaismus. Und es gibt wahre Entdeckungen: etwa den bei uns fast unbekannten britischen „Vorticism“ (von „vortex“ = Wirbel), zu dessen Protagonisten auch der später skandalisierte amerikanische Jahrhundertpoet Ezra Pound gehörte, der in einer Vitrine mit einem Frühwerk aus dem Jahr 1916 vertreten ist.
Wandbeherrschend das vergrößerte Faksimile der Titelseite des Pariser „Figaro“ vom 20. Februar 1909 mit Marinettis „Futuristischem Manifest“: diesem Ausbruch von Technikgläubigkeit, Kriegs- und Revolutionslust, von Machismo und Maschinismus (der mit in den italienischen Faschismus führte). Man hört Marinetti sogar mit einer bombenkriegspropagandistischen Ansprache von 1914 voller Fantasieworte: „Buuum ciaciaciaciaaak... aerostatico Kadi-Keuy!“
Gegenübergestellt werden im Hauptteil die zwei wichtigsten Berliner Literatur- und Kunstzeitschriften der Zeit mit den Titelblättern des Jahrgangs 1914: Herwarth Waldens „Der Sturm“ und „Die Aktion“ des sozialistisch-pazifistischen Publizisten Franz Pfemfert. Während im „Sturm“ sich nichts vom Orkan des ersten Weltkriegsjahrs abbildet, meldet „Die Aktion“ immerhin den frühen Kriegstod des Dichters Ernst Stadler und zeigt als Titelbild gegen Ende des Jahres Ludwig Meidners „Schlachtfeld“. Pfemfert hatte selbst schon in einem Leitartikel vom 26. Februar 1912 unter der Überschrift „Europas Wahnsinn“ das „Morden auf Kommando als Pflicht der ,nationalen Ehre’’’ vorausgesehen. Gegen staatsanwaltschaftliche Verbote der „Aktion“ protestierten in einem Aufruf vom Mai 1914 immerhin so unterschiedliche Geister wie Heinrich und sein (zu diesem Zeitpunkt noch sehr deutschnationaler) Bruder Thomas Mann, Hugo Ball, Kandinsky und Frank Wedekind.
Neben einem der ganz seltenen Manuskripte des später von den Nazis als Geisteskranker vergasten Jakob van Hoddis, der 1911 das berühmte expressionistisch-apokalyptische Gedicht „Weltende“ veröffentlich hatte, ist die Präsentation von Künstler-Briefen an den „Sturm“-Herausgeber Herwarth Walden außerordentlich. Wer die Handschriften von Guillaume Appollinaire, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Marinetti, Kandinsky oder Paul Klee nicht gleich zu entziffern vermag, kann sie im glänzenden Katalog und gleichfalls in einer kostenlosen Broschüre nachlesen. Und trifft so auf eine Sensation: Franz Marc schreibt am 1. März 1916 mit Bleistift einen Feldpostbrief an Walden, der um ein neues Foto des Malers gebeten hatte. Marc: „Ich bin mitten in der fürchterlichsten Aktion im Westen – es ist gar nicht zu beschreiben, was man hier erlebt!“ Er möchte sich da gar nicht oder nur von hinten noch abgebildet sehen und legt ein Foto von sich als Schatten zwischen Trümmern bei. Es ist sein letztes Lebenszeichen. Drei Tage später fällt der erst 26-jährige Genius des deutschen Expressionismus bei Verdun. Auch das ein Weltbruch, einer von vielen.
„Avantgarde!“ im Berliner Kulturforum, bis 12. 10. (Di–So), Infos zum Rahmenprogramm: www.smb.museum, Katalog 38 €. Mehr zum ersten Weltkrieg unter www.tagesspiegel.de/themen/erster-weltkrieg/