Kultur: Der irrationale Rest
Katharina Schüttler liebt die Extreme. An der Schaubühne ist sie ein Star – jetzt kommt ihr neuer Film ins Kino
Seit Thomas Ostermeiers Ibsen-Inszenierung „Hedda Gabler“ mit Katharina Schüttler in der Titelrolle zum Theatertreffen eingeladen war und jetzt auch noch ihr neuer Kinofilm „Wahrheit oder Pflicht“ startet, vergeht so gut wie kein Tag, an dem die 26-Jährige nicht in irgendeinem Medium zur neuen Hoffnung des deutschen Films oder des deutschen Theaters oder am besten zu beidem ausgerufen wird. Und zum zigten Mal verjährte Teenie-Anekdoten über sich lesen muss. Zum Beispiel, wie sie während eines High-School-Jahres in den USA mit Freundinnen auf einem Garagendach vor einem Gefängnis herumblödelte und bei dieser Gelegenheit ein bisschen strippte.
Eigentlich müsste sie inzwischen Schreikrämpfe bekommen, wenn man in ihrem frühjugendlichen Erinnerungsschatz herumstochert. Oder ihre Biografie herunterschnurren wie ein Kindergedicht: aufgewachsen in Köln in einer Künstlerfamilie, Vater Regisseur und lange Zeit Landesbühnenchef in Dinslaken und Schauspieldirektor in Würzburg, Mutter Autorin, erste Rolle mit elf Jahren im Kinderkinofilm „Die Lok“... Weil es schlicht und einfach keinen Satz mehr gibt, den sie nicht schon siebenundzwanzigmal gesagt hat.
Nichts dergleichen! „Es ist ja mit jedem Journalisten anders, und wenn die Fragen nicht doof sind, macht es auch Spaß“, strahlt Schüttler. Sie steht vor der Tür im Nieselregen. Das „Kakao“ am Helmholtzplatz, ihr Lieblingscafé, ist hoffnungslos überfüllt – und Ausgangspunkt einer lustigen Odyssee durch ein halbes Dutzend Prenzlauer-Berg-Lokale, in denen wir ebenfalls keinen Platz finden.
Man muss höllisch aufpassen, dass einem die bezaubernde Gesprächspartnerin nicht abhanden kommt. In jedem zweiten Laden stürzt ein freudiger junger Mann auf die Schauspielerin zu: lauter Neuberliner Bens und Markos, mit denen Schüttler in Hannover auf der Schauspielschule war oder dort am Theater spielte. Kürzlich soll sie während eines Interviews zwanzig Minuten verschwunden sein. „Stimmt“, lacht Schüttler, „da habe ich auf dem Weg zur Toilette eine Freundin getroffen, die gerade ein Kind bekommen hat!“
Als wir beim siebten Versuch in einem kleinen Asia-Imbiss auf der Kastanienallee einen Platz bekommen, ist das Gespräch in der Berliner Gegenwart angekommen: an der Schaubühne, wo die Schauspielerin vor vier Jahren in Luk Percevals Mayenburg-Inszenierung „Das kalte Kind“ debütierte, inzwischen Hauptrollen in Ostermeier-Produktionen wie „Zerbombt“ oder „Trauer muss Elektra tragen“ spielt und einen als „Hedda Gabler“ schlichtweg umhaut. „Ich habe eine ganze Woche gebraucht, bis ich das zugesagt habe!“, gesteht Schüttler. Nicht, dass sie nicht überglücklich gewesen wäre über Ostermeiers Angebot. „Aber ich wusste, dass ich eine sehr untypische Hedda-Besetzung bin. Und wie krass der Vergleich zu ,Nora‘ sein wird“ – Ostermeiers international tourendem Erfolgsschlager mit der großartigen Anne Tismer. Dafür, dass er dieses Risiko eingegangen ist, sei sie Ostermeier unglaublich dankbar: „Meistens wirst du ja besetzt, weil die Leute dich vorher schon mal so gesehen haben; weil sie wissen: das kannst du.“ (Sie meint diese Kindfrauen und jugendlichen Turnschuhrollen.) Dass sie „dich als Schauspielerin wollen und dann mit dir was ausprobieren möchten“, sei die ersehnte Ausnahme.
Katharina Schüttlers Hedda – ein schlecht gelauntes Nörgelgirlie, das sich am Wohlstandsdasein zu Tode langweilt und die Männer inbrünstig dafür verachtet, dass sie sich für sie anstrengen – ist selbst dann noch großartig, wenn die Schauspielerin, wie kürzlich bei einem Gastspiel in Wiesbaden, zum Schweigen verurteilt ist: Wegen einer Kehlkopfentzündung spielte sie – um die Vorstellung nicht platzen zu lassen – stumm, während Ostermeier die Rolle einlas. Darauf, dass wenig später, ausgerechnet beim Theatertreffen, einige Aufführungen aufgrund ihrer Krankheit ausfallen mussten, spricht man sie am besten gar nicht an: Das sei so ziemlich das Schlimmste, was einem in diesem Beruf passieren könne; und die einzige Möglichkeit, einigermaßen damit klarzukommen, bestehe darin, nicht mehr ständig daran zu denken.
Also Themenwechsel. Zu einem Sujet, über das Katharina Schüttler sehr gern und wunderbar leidenschaftlich spricht: ihre Lust auf extreme Rollen; auf außergewöhnliche Drehbücher und ebensolche Regisseure und Produzenten. Was bei vielen ihrer Kollegen eine vollmundige Behauptung bleibt, ist bei Schüttler eine erwiesene Tatsache. Michael Hofmanns Film „Sophiiiie!“ dokumentiert das grandios, die Geschichte einer jungen Frau, die am nächsten Morgen einen Abtreibungstermin hat und sich die ganze Nacht einem verzweifelten Selbstzerstörungstrip hingibt. Schüttler heult, kotzt und blutet in Taxis, Toiletten und den Stammkneipen tätowierter Männer, wird in Autos missbraucht, liegt zugedröhnt in S-Bahnen – und unterläuft dabei das für Frauen vorgesehene Klischee-Repertoire mit einer Selbstverständlichkeit und Konsequenz, die man selten zu sehen bekommt im deutschen Kino.
Auf dem Münchner Filmfest 2002 wurde „Sophiiiie!“ zu Recht preisgekrönt; Oskar Roehler, der in der Jury saß, hat dem Team „die Füße geküsst“. Die Münchner Schickeria nicht. Die verließ in ihren Cocktailkleidchen scharenweise die Preisverleihung, sofern sie – wirklich wahr – nicht schon vorher ohnmächtig vom Stuhl gekippt war!
Derartiges ist beim gerade angelaufenen Film „Wahrheit oder Pflicht“ von Arne Nolting und Jan Martin Scharf nicht zu befürchten. Die Story um eine Zwölftklässlerin, die kurz vorm Abi von der Schule fliegt und ihren ehrgeizigen Eltern – statt das Versagen zu gestehen – das nicht eben neue Spielchen vom rechtschaffenen Bürger vorgaukelt, der morgens brav an seine Schaffensstätte geht, ist streckenweise ganz charmant, tut aber in keiner Sekunde weh. Schüttler allerdings macht als Bredouillen-Teenie mit Grandezza die Nettigkeit und Vorhersehbarkeit des Plots wett. „Ich fand es spannend“, erzählt sie, „welche Macht so eine Lüge über dein Leben bekommen kann; wie du immer mehr in die Abhängigkeit deines eigenen Konstrukts gerätst und immer unfreier wirst. Zumal ich im echten Leben eine total schlechte Lügnerin bin!“
Wenn man sie so spielen sieht, mag man kaum glauben, dass jede Arbeit mit durchschlagender Ratlosigkeit beginnt: „Wenn ich Sachen lese, sind mir immer alle anderen Figuren sofort klar. Nur die, die ich spielen soll, nicht. Deswegen bin ich auch immer bereit, alles auszuprobieren. Ich glaube, ich gehe da sehr unintellektuell heran.“ Ewige Diskussionen seien ihre Sache nicht. Vielleicht mag sie auch deshalb am liebsten Rollen, in denen es eine Art irrationalen Rest gibt.
Wie eben Ibsens „Hedda Gabler“: „Das Spannende an ihr finde ich, dass du sie nicht hundertprozentig erklären und verstehen kannst. Man kriegt da vielleicht sechzig, siebzig Prozent raus, und dann bleiben dreißig, wo man denkt: Wie tickt denn die?!“ Irrationalität ist harte Arbeit. Sie muss plausibel sein, wenn sie einen über Stunden fesseln soll. Bei Katharina Schüttler starrt man auf die Bühne wie bei einem Film von Hitchcock.
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