Kultur: Der harte Kern
Alle reden über die Krise der Akademie der Künste. Ihr Archiv ist davon unberührt. Ein Besuch beim Herrn der Schätze
Zur Kehrseite jedes veröffentlichten Werks gehören misslungene und aufgegebene Projekte, Korrespondenzen und Alltagszeugnisse. Wolfgang Trautwein, Direktor des Archivs der Akademie der Künste, kennt daher allerlei skurrile Geschichten, die sich bei Verhandlungen über Vor- und Nachlässe von Künstlern zugetragen haben. Geschichten, die er allerdings nicht preisgeben darf. Wer solche Intima aus der Hand gibt, damit sich die Nachwelt ein eigenes Bild machen kann, muss Vertrauen haben. Diskretion ist die erste Archivarspflicht.
Die zweite Pflicht lautet: Öffentlichkeit herstellen. Die Voraussetzung dafür ist geduldige Kontaktpflege. Denn 886 Einzelarchive auf mehr als 6000 Regalmetern, 25 000 Blatt Bühnenbild- und Theatergraphik, 1300 Rollen mit Bauplänen, der Inhalt von 380 Planschrank-Schüben sowie rund 550 000 Fotos trudeln nicht einfach so ein. Dennoch schildert Trautwein die Arbeit der 74 Mitarbeiter auf buddhistische Weise: „Wenn man es geschickt anstellt, kommen die Sachen von selbst. Ein Fluss sucht sein Gefälle.“
Und wie stellt man es geschickt an? 1992 richtete die Akademie eine kleine Ausstellung für die Fotografin Ellen Auerbach aus, die in den frühen Dreißigerjahren für ihren Bauhausstil berühmt war und nach der Emigration beinahe vergessen wurde. Seit der Ausstellung blieb man mit der in einer New Yorker Dachkammer lebenden Exilantin in Verbindung. Als Auerbach 2004 starb, vermachte sie der Akademie 4,5 Meter Fotografien und Schriftstücke, außerdem 200000 US-Dollar für Fotografen-Stipendien. Beides wird Ende April mit einer erneuten Auerbach-Ausstellung gewürdigt.
Archivare brauchen einen langen Atem und freundliche Beharrlichkeit. Wolfgang Trautwein erzählt von Nachfragen, Besuchen und jahrelangen Verhandlungen mit Strohmännern wie bei der Sammlung des Schweizer Journalisten Victor Cohen mit 2500 Blättern von und zu Bertolt Brecht. Und von Archivaren, die malochen wie eine Neuköllner Trödlerbrigade, wenn etwa die Witwe von Bernhard Minetti aus ihrem Haus auszieht. Binnen fünf Tagen räumten die Mitarbeiter Stockwerk für Stockwerk aus. „Die besten Stücke fanden wir im Keller und auf dem Dachboden“, schwärmt Trautwein. Manchmal wird er auch umgarnt: Walter Kempowski gestand kürzlich, den Achivdirektor mit einem Essen „bestochen“ zu haben. Die Höhe des kulinarischen Schmiergeldes: 353 Euro.
Der Schriftsteller hatte Erfolg, die Akademie auch: Das 471 Meter Regalmeter umfassende Kempowski- Archiv mit Manuskripten, Aufzeichnungen, Fotos und Autobiografien Unbekannter wanderte in die Keller des Gebäudes am Robert-Koch-Platz. Über die getroffene „komplexe Vereinbarung“ ist freilich nur zu erfahren, dass Kempowski sich alle Materialien zusenden lassen kann und 2007 mit einer Ausstellung geehrt wird. Das ist eine übliche Gegenleistung, denn der Etat für Zukäufe beträgt nur 170 000 Euro. „Unsere bevorzugte Erwerbsstrategie“, sagt Wolfgang Trautwein mit unnachahmlicher Eleganz, „ist die Schenkung.“ Seit 1993 hat das Archiv außerdem mehr als 120 Ausstellungen, 240 Veranstaltungen und 90 Veröffentlichungen organisiert.
Die Krise, in die die Akademie nach dem Rücktritt ihres Präsidenten Adolf Muschg geraten ist und die am kommenden Wochenende mit der Wahl seines Nachfolgers beendet werden soll, betrifft das Archiv nicht. Die Sammler der Hinterlassenschaften gelten als der lebendigste Teil der Institution. Dem gern jungenhaft scherzenden Trautwein ist solches Lob ein wenig peinlich. Von der Akademie-Krise will der Mann, der einst Assistent bei Walter Höllerer war und über das Literarische Colloquium zur Akademie kam, selbstverständlich nicht profitieren. Anfang der Neunzigerjahre haben er und sein Ost-Kollege Volker Kahl, jetzt sein Stellvertreter, die Zerschlagung ihrer Häuser durch Bonner Politiker verhindern können.
Nun ist das Archiv gesamtdeutsch wie kein anderes. Und es hat eine lange Geschichte: Seit den Anfängen der Preußischen Akademie der Künste 1696 sammelt es Literatur, Musik, Darstellende, Bau- und Bildende Kunst, während das Deutsche Literaturarchiv in Marbach oder das Theatermuseum in München nur ein Sammelgebiet pflegen. Schwerpunkte in Berlin sind Literatur, das Exil während des Nationalsozialismus, Kunst und Kultur der DDR sowie Neue Musik.
Nach der Vereinigung von Ost- und West-Akademie 1993 gab es 15 Depots, nun sind es noch vier, zwei sollen es werden: am Robert-Koch- und am Pariser Platz. Doch erst verkaufte der Senat das für das Archiv vorgesehene Gelände am Brandenburger Tor, dann befiel Schimmel die vier Ersatz-Tiefgeschosse unter Günter Behnischs gläsernem Neubau. Trautwein ist jedoch zuversichtlich, noch in diesem Jahr den mittlerweile schimmelfreien Keller beziehen zu können.
Christa Wolf, Günter Grass, Imre Kertész und Walter Jens haben zu Lebzeiten Archive in der Akademie eingerichtet. Bei George Tabori schaut Trautwein regelmäßig vorbei. Wie auch Opernregisseur Peter Konwitschny lässt der Schriftsteller und Theatermacher abholen, was zur jeweils letzten Inszenierung entstanden ist. „Und was fangen Sie jetzt mit dem leeren Zimmer an?“ fragte Trautwein einmal, nachdem er eine stattliche Anzahl Kartons hinausgeschleppt hatte. „Na, ich schreibe ja schon wieder was Neues.“ Einige der besten Geschichten schreibt das Leben, wenn es archiviert wird.
Jörg Plath
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