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Claudio Abbado dirigiert das Orchestra Mozart.
© Universal

Zum Tod von Claudio Abbado: Der große Dirigent war ein Menschenfreund mit unerschütterlichem Idealismus

Er war einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit, von 1989 bis 2002 leitete er die Berliner Philharmoniker. Im Alter von 80 Jahren ist der italienische Dirigent Claudio Abbado nun in Bologna gestorben.

„Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen, und einen Herbst zu reifem Gesange mir!“ Wie oft mag Claudio Abbado in den vergangenen 15 Jahren an diese Worte seines Lieblingsdichters Friedrich Hölderlin gedacht haben? Die Parzen, die Schicksalsgöttinnen, haben es wahrlich gut mit ihm gemeint. Als kurz vor der Jahrtausendwende die Krebsdiagnose kam, als dem italienischen Dirigenten daraufhin große Teile des Magens wegoperiert werden mussten, als er hart am Randes des Tod stand, da wurde ihm ein zweites Leben geschenkt. Zu reifem Gesang. Der 1933 geborene Mailänder hat diese Fristverlängerung voll ausgekostet, demütig und dankbar. Um sich und seinen Verehrern, seinem Publikum viele bewegende Abende zu schenken.

Sein Geist triumphierte über den Körper

Die Musik hat ihn damals gerettet, so hat er es immer formuliert. Seine Weigerung, den Taktstock aus der Hand zu legen, die Partituren zuzuklappen. Wie zerbrechlich, ja hinfällig sah er damals aus, die ohnehin zarte Gestalt zur asketischen Silhouette abgemagert. Doch die ungebrochene geistige Präsenz triumphierte über die körperliche  Hinfälligkeit. Zuletzt absolvierte Claudio Abbado ein Arbeitspensum, das den künstlerischen Aktivitäten in seinen vitalsten Phasen kaum nachstand. Die erste Hälfte des Jahres 2013 war ein einziger Sturm von Konzert zu Konzert, von Ort zu Ort.

Rund um seinen 80. Geburtstag am 26. Juni schien nichts und niemand ihn aufhalten zu können, bei der Eröffnung des Lucerne Festivals am Vierwaldstättersee im August elektrisierte er den Saal förmlich mit seiner energetischen Entschlossenheit. Doch schon im zweiten der beiden Programme, die er hier seit 2003 mit seinem handverlesenen Lucerne Festival Orchestra zu geben pflegte, schwanden die Kräfte. Er konnte zwar noch dirigieren – doch hinterher, beim tosenden Schlussapplaus, wirkte er durchscheinend wie Pergament.

Die Ärzte erzwangen eine Ruhepause, Woche um Woche mussten lange geplante Auftritte abgesagt werden, in Dortmund und Baden-Baden, London, Wien. Dennoch hörte Abbado nicht auf, Pläne zu machen. Ja, vergangene Woche noch erklärte er, die Tournee mit dem Orchestra Mozart nach Dubai im Februar solle stattfinden. Am Freitag dann wird sein Zustand plötzlich kritisch, in aller Eile wird die große Patchworkfamilie an sein Bett gerufen. Am Montagmorgen ist Claudio Abbado in Bologna gestorben.

Er wollte mit Musik die Welt besser machen

Die Musikwelt verliert einen großen Humanisten. Einen Menschenfreund, der mit unerschütterlichem Idealismus daran glaubte, dass Musik die Seele erheben kann – und die Welt besser machen. Stürmisch hat er in jungen Jahren für diese Überzeugung gekämpft, Seite an Seite mit dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Komponisten Luigi Nono. Zu dritt wollten sie die Klassik aus den bürgerlichen Tempeln hinaustragen, hin  zum Volk, die Leute abholen mit Konzerten in den Fabriken, Kultur für alle machen. Aber nicht als populistisches Crossover, als Volksbelustigung gar, sondern ohne Abstriche bei der Qualität, der gedanklichen Tiefe der Interpretationen. Ort und Optik galten nichts, hinfort mit stuckstarrenden Sälen und Herrschaften in Anzug und Abendkleid! Wer zuhörte, war willkommen, wer sich konzentrieren wollte auf die Inhalte.

Lange haben die drei Revoluzzer das nicht durchgehalten. Vielleicht fühlten sich die Malocher auch von der zeitgenössischen Musik überfordert, die das feingeistige Trio ihnen mitbrachte. Blieb also nur der Marsch durch die Instanzen. Claudio Abbado hat ihn am konsequentesten verfolgt, über Jahrzehnte, bei seinen Chefpositionen in Mailand, London, Wien, Berlin, durch die Gründung von neuen Orchestern.

Sein Ziel: Mit jungen Leuten Musik machen

Mit jungen Leute einfach nur Musik machen, das war sein Ziel. Ohne die Last ungeschriebener Traditionsgesetze, ohne die Routine des Klassikbetriebs. In seinem zweiten Künstlerleben, in den letzten 15 Jahren konnte Claudio Abbado diesen Traum tatsächlich leben. Weil die Institutionen mitmachten, ihm Freiräume schufen. Als Anerkennung für seine singuläre Lebensleistung auf dem Gebiet der klassischen Musik.

„Unser Zuhause war immer von Klängen erfüllt, von denen der Schüler meiner Mutter, die Klavierunterricht gab, und von denen meines Vaters, der Geigenlehrer war“, erinnerte sich Claudio Abbado an eine Kindheit im Mailänder Akademikermilieu. Er ist das dritte von vier Kindern, mit sieben Jahren wird er erstmals mitgenommen zu einem Konzert ins Teatro alla Scala. Die Familie durchschreitet nicht den prachtvollen Haupteingang, sondern nimmt die unscheinbare Treppe, die ganz nach oben führt, zu den Stehplätzen im Loggione. Von dort aus lauschen sie Claude Debussys impressionistischen Orchesterstücken „Nocturnes“. Ein Wunder, ein Erweckungserlebnis für den kleinen Claudio. Seit diesem Tag kennt er nur noch ein Ziel: gemeinsam mit so vielen Musikern diese Klänge hervorzubringen. „Ich wollte auch so zaubern können.“

Ab 1949 studiert er Dirigieren, Komposition und Klavier am Mailänder Konservatorium, doch 1957, mit drei Diplomen in der Tasche, fühlt er sich noch nicht reif für die Bühne. Also bewirbt er sich in Wien beim  legendären Maestromacher Hans Swarowski. Weil die Proben der Wiener Philharmoniker auch für Musikstudenten geschlossen bleiben, tritt er mit seinem Kommilitonen Zubin Mehta dem Singverein bei – so kann er die großen Dirigenten wenigstens bei chorsinfonischen Werken aus nächster Nähe beobachten.

Auch als Weltstar bleibt Abbado scheu

In den USA gewinnt Abbado den Koussewitzky-Preis, doch die Karriere läuft langsam an, auch weil der skrupulöse Newcomer konsequent alle Angebote ausschlägt, die ihm künstlerisch unergiebig erscheinen. 1960 darf er dann erstmals an der Mailänder Scala dirigieren, 1964 tritt er in Berlin auf, im Rahmen der Reihe „RIAS stellt vor“, am Pult des Radio-Sinfonie-Orchesters. Herbert von Karajan sitzt im Publikum und lädt den jungen Italiener zu den Salzburger Festspielen ein. 1966 folgen Debüts in London, beim Edinburgh Festival, bei den Berliner Philharmonikern sowie in Luzern. Dort beobachtet der Orchesterwart Walter Stenz einen jungen Mann in Lederjacke und Jeans, der sich im Gang hinter der Bühne herumdrückt. Er möge doch bitte den Künstlerbereich unverzüglich verlassen, da gleich eine Orchesterprobe stattfinde, ruft er dem Eindringling zu. „Ja, ich weiß“, antwortet er in gebrochenem Deutsch, „Ich bin der Dirigent.“

Jenseits der Routine Musik zu machen, das war stets Abbados Ziel.
Jenseits der Routine Musik zu machen, das war stets Abbados Ziel.
© Universal

Scheu im Umgang mit der Öffentlichkeit wird Claudio Abbado auch als Weltstar bleiben. Er gibt ungern Pressekonferenzen, hasst Empfänge, muss zu jedem Interview überredet werden. Um so lieber tauscht er sich mit Schriftstellern, Schauspielern und Philosophen aus, aber auch mit Politikern wie Richard von Weizsäcker. Als ihn die Berliner Philharmoniker 1989 zum Nachfolger des verstorbenen Herbert von Karajan wählen, kann der vielseitig Interessierte seine Lust am Zusammendenken unterschiedlichster Genres endlich voll entfalten. Während draußen auf den Straßen die Wiedervereinigungseuphorie regiert, versucht Abbado, durch thematische, in alle Bereiche des Geisteslebens ausgreifende Zyklen nachhaltig, Nachdenklichkeit herzustellen.

Warum er in Berlin seine Erfüllung fand

In Berlin findet er eine Atmosphäre vor, eine Offenheit des Publikums gegenüber dem Ungewohnten, wie er sie sich immer erhofft hatte. Wie hart musste er sowohl als Musikchef der Mailänder Scala wie der Wiener Staatsoper darum ringen, Strukturen aufzubrechen, Ohren zu öffnen. Für die zeitgenössische Musik, aber auch für die Notwendigkeit, Zuhörerkreise jenseits der bildungsbürgerlichen Abonnenten zu erreichen. „In Berlin gibt es das alles bereits, ein Publikum, das nicht nur Society ist, junge Leute in den Aufführungen“, schwärmte er 2002 rückblickend im Tagesspiegel-Interview. „Den Erfolg, den Nonos Werke in Berlin gehabt haben – in anderen Städten undenkbar!“

Und noch etwas schätzt Claudio Abbado an den Philharmonie-Besuchern: Die Fähigkeit, am Ende einer Aufführung nicht sofort in plakativen Jubel auszubrechen. „Der Dirigent spürt sofort, wenn das Publikum gepackt ist, wenn alle gebannt lauschen. In Berlin ist mir das besonders häufig passiert. Stille wahren zu können, bedeutet, besonders intensiv zugehört zu haben.“

Anders als Karajan sieht Abbado seine Position nicht als Lebensstellung an, erklärt 1998, er werde seinen Vertrag nicht über den Sommer 2002 hinaus verlängern. Reibungen mit den Musikern mögen diese Entscheidung befördert haben. Vielen Philharmonikern ist Abbados Probenstil zu defensiv. Er ist wortkarg, erklärt nicht präzise, was er will, lässt eine Stelle, mit der er unzufrieden ist, einfach noch einmal spielen. Weil er möchte, dass auch im großen Orchesterverband jeder einzelne so aufmerksam auf die anderen hört, als spiele er ein Kammermusikwerk.

„Was zählt, ist doch die Aufführung, und da haben Sie nur die Hände und die Augen, um zu kommunizieren“, verteidigt Abbado seine Arbeitsweise im Tagesspiegel. „Dann muss sich dieser Magnetismus einstellen, die Spannung, die sich aufs Orchester überträgt. So bin ich gemacht, es ist mir angeboren.“ Kein Wunder, dass die Mitglieder der „Abbadiani itineranti“, seinem international vernetzten Fanclub, versuchen, bei jedem Konzert so zu sitzen, dass sie ihrem Idol während der Aufführung ins Gesicht blicken können.

Nach 618 gemeinsamen Konzerten verlässt er die Philharmoniker

Nach 618 gemeinsamen Konzerten verabschiedet sich Claudio Abbado von den Berlinern – in die künstlerische Unabhängigkeit. Fortan wird er nun noch Konzerte dirigieren, bei denen er die Bedingungen selber diktieren kann. Nachdem er 1978 bereits das European Union Youth Orchestra initiiert hat, sowie 1981 das Chamber Orchestra of Europe, 1986 das Gustav Mahler Jugendorchester und 1997 das Mahler Chamber Orchestra, gründet er zwei weitere Ensembles nach seinem Gusto. In Bologna das Orchestra Mozart für Werke des Barock und der Wiener Klassik, sowie das Lucerne Festival Orchestra, mit dem er jeden Sommer zwei großsinfonische Programme realisiert.

Man mag es prophetisch nennen, dass er im vergangenen August zuerst Beethovens „Eroica“ aufs Programm setzte - wobei diese Musik bei ihm vor allem von den Schattenseiten heroischer Taten erzählte – und dann eine Woche später zwei Fragmente, Schuberts „Unvollendete“ zum einen und die neunte Sinfonie von Anton Bruckner zum anderen, die der Komponist erst bis zum dritten Satz vorangetrieben hatte, als ihm der Tod den Stift aus der Hand nahm.

Nun ist auch Claudio Abbado verstummt, sein scheinbar unerschöpflicher Klangstrom versiegt. Nun gilt es, dieses Ende eines erfüllten Künstlerlebens nachhallen zu lassen: eingedenk seiner Überzeugung, dass die Stille genuiner Bestandteil jeder Musik ist, ja in unseren lauten Zeiten vielleicht sogar ihr wertvollstes Gut. Ein kostbarer Moment. Lauschen wir!

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