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Englands Größe. Noel und Liam Gallagher (von links) können sich kaum ertragen, doch mir ihrer Band Oasis lassen sie ihr Land noch einmal von einer einheitlichen Kultur träumen.
© Mike Clarke / AFP (Montage Tsp)

20 Jahre Britpop: Der große Bluff

Seit die Beatles die Welt eroberten, gilt britische Popmusik als die bessere. Und hatten sie auf der Insel nicht auch Punk erfunden? Doch die Weltherrschaft ging verloren. Bis im August 1994 "Definitely Maybe" von Oasis erschien. Was 20 Jahre später von der ganzen Aufregung um Britpop geblieben ist

Wo es Gewinner gibt, da muss es Verlierer geben. Doch als im Sommer 1994 das Album „Definitely Maybe“ erscheint, fragen sich viele, warum es ausgerechnet die Gallaghers sein müssen, die triumphieren? Warum diese beiden hirnlosen Rüpel und ihre Band Oasis? Mit nur einer Platte machen sie allem anderen den Garaus.

Noch zwei Jahre zuvor war ein ganz anderer Männertypus als Rockstar glorifiziert worden. Kurt Cobain. Nirvana, seine Band, beeinflusste eine Generation weißer Mittelstandskinder mit schmerzverzerrtem Gitarrenlärm und selbstquälerischer Agonie. Lange Haare, zerschlissene Jeans und ausgebeulte Second-Hand-Shirts trug Cobain, und Rockstar wollte er gar nicht sein. Er verabscheute die Posen und das Geld. Seine Botschaft an die Welt lautete: „Here we are now, entertain us.“ Was eine sehr defensive Art war zu sagen, das Leben ist nicht fair.

Vor allem war es ein Verrat an den Idealen des Rock’n’Roll, einer aufrührerischen Musik der Selbstermächtigung, die sich wenig darum schert, was andere von ihr halten, und noch weniger, was andere von einem wollen. Cobain, der in einem Trailer-Park zur Welt gekommen und in zerrüttete Familienverhältnisse hineingeboren worden war, wollte zwar auf der richtigen Seite stehen. Aber er fand es nicht fair, dass Punk schon vorbei war, dass er Hardcore verpasst hatte, die Beatles sowieso. Nun versuchte er das Kunststück fertig zu bringen, die rohe Energie des Gitarrenlärms zu erhalten und trotzdem den Zweifel junger Menschen zu erfassen, sich nicht stark genug für dieses Leben zu fühlen. Es sollte für ihn selbst nicht gut ausgehen.

In dieser Zeit hatte die britische Popmusik, die immer ein bisschen schlauer, gewitzter, abgeklärter als die amerikanische gewesen war, dem düsteren Krach des Grunge nichts entgegenzusetzen. Cobains Heimat Seattle im Nordwesten der USA war Pop-Hauptstadt der Welt; in Berlin gewann das Bumm-Bumm-Bumm der Techno-Bewegung mit der Love-Parade an Kraft. Aber England? Ein paar verschrobene, bleiche Burschen, die beim Gitarrespielen auf die eigenen Schuhe starrten.

Blur, eine Band von Londoner Kunststudenten, hatte 1991 einen ersten bescheidenen Hit gelandet. Die vier wurden auf eine Konzerttour durch 44 US-Städte geschickt und waren schockiert. Niemand nahm Notiz von ihnen. Schlimmer. Selbst in England ergingen sich Bands in US-Rock-Verherrlichung. Wieder in der Heimat schworen Blur-Sänger Damon Albarn und seine Mitstreiter deshalb, „Grunge loszuwerden“ und „Amerika den Krieg zu erklären“. Fortan galt: Sich auf die glorreichen britischen Wurzeln, auf den Sixties-Pop der Beatles, Rolling Stones, Kinks und The Who zu besinnen.

Wie Blur dachten Anfang der 90er Jahre viele Musiker. Neben ihnen gab es Suede, Pulp und eben Oasis, Letztere hatten von allen die schlechtesten Voraussetzungen.

Rock'n'Roll Star. Liam Gallagher (hier 1997) wurde zum Posterboy des Britpop, denn ihn kleideten schnell die Insignien britischer Mode.
Rock'n'Roll Star. Liam Gallagher (hier 1997) wurde zum Posterboy des Britpop, denn ihn kleideten schnell die Insignien britischer Mode.
© AFP

Zunächst gelang Suede 1993 mit ihrem ersten Album ein Nummer-eins-Hit. In der „Schlacht für England“, wie das Musikmagazin „Select“ titelte, galt Suede-Sänger Brett Anderson mit seiner androgynen Erscheinung als schönster Mann des Landes. Sein Song „Stay Together“, mit dem er seinen Ruf als Pop-Naturtalent weiter festigte, war eine Hymne in vollendeter Eleganz. Aber Anderson wird bald zur tragischen Figur. Erst verliert er seine Freundin an Blurs Damon Albarn. Dann setzt Blur mit „Parklife“ auch musikalisch neue Maßstäbe. „Am Anfang las ich Nabokov“, sagt Albarn, „und nun begeistern mich Fußball, Hunderennen und Essex-Girls.“

„Plötzlich begann jemand“, berichtet Britpop-Chronist John Harris, „über die schäbigen Vororte Englands zu singen oder wie es ist, sein Geld in Glücksspielautomaten und schlichten Imbiss-Restaurants zu verbraten. Da dachte ich, ,Aha, ja, das kapier’ ich’.“ Popmusik hatte wieder etwas mit dem Alltag zu tun. „Das erinnerte die Menschen sowohl an ihr eigenes Leben als auch an den nichtssagenden Soundtrack, der dieses Leben die vergangenen zehn Jahre begleitet hatte.“

Musik für Kerle, für die absolut nichts läuft, weil sie keine Kohle haben

Obwohl „Parklife“ eine Sozialstudie ist, wie sie nur Kunststudenten zustande bringen, rosig, romantisierend und überbelichtet – wie die Farbtableaus des englischen Fotografen Martin Parr – wird die Platte ein durchschlagender kommerzieller Erfolg. Dabei sind Oasis viel näher dran an dieser grell-tristen Wirklichkeit. Aber sie singen nicht darüber, sondern davon, im Bett zu liegen und die Zeit mit Tagträumen vom eigenen Ruhm zu verdaddeln. Andere Bands zählen für sie nicht. Nur Blur macht ihnen Schwierigkeiten. Nicht, dass sie es mit Musikern zu tun zu haben glauben, die mehr können als sie selbst. Aber die reden Cockney, die harte Sprache von Londons Arbeitervierteln, dabei handelt es sich doch um Studenten. Das bringt Oasis-Frontman Liam Gallagher richtig gegen sie auf. Für seinen fünf Jahre älteren Bruder Noel ist nur die Musik wichtig. Aber Liam weiß, dass es auch eines Images bedarf, eines wasserfesten, hitzebeständigen, luftdichten Images. Blur benutzt die Sprache, die ihm, Liam, gehört. Gossensprache.

In einem Pub in Camden stoßen die Gallagher-Brüder auf Albarns Bandkollegen Graham Coxon, bauen sich vor ihm auf und grölen „Bluuur are cocknee, cocknee cunts!“ Coxon lässt sie hinauswerfen, so dass sie in einem Pub gegenüber eine Schlägerei anzetteln. Herrlich. „Blur sind Cockney-Fotzen!“ Das klingt lange nach.

Oasis stammt aus Burnage, einem Vorort von Manchester. Aus der alten Textilmetropole war schon länger nichts von Belang mehr hervorgegangen. Man wurde dort entweder Fußballer, sagte Noel Gallagher einmal, oder Industriearbeiter. „Obwohl, so viel Industrie gibt es nicht mehr.“ Was wäre für ihn übrig geblieben? Die so genannte „Madchester“-Szene, die sich auf den Club Hacienda gestützt hatte und durch Gruppen wie The Stone Roses und Happy Mondays kurz aufgelebt war, hatte sich wieder zurückgezogen. Die „Goldene Generation“ der Fußballer um David Beckham und Paul Scoles hatte mit Manchester United zwar den FA Youth Cup gewonnen, aber sie war noch nicht so weit, sich in der ersten Mannschaft des Vereins durchzusetzen. Schließlich sprach bei den Gallaghers selbst einiges dafür, dass sie Hilfsarbeiter bleiben würden. In England gelangt man als Schulversager, Raufbold und Sozialfall nicht mal so eben in den Pop-Olymp. Wenn Noel und Liam von der heimischen Musikpresse als Schwachköpfe verhöhnt werden, so gibt es Mitte August 1994 keinen Grund, daran zu zweifeln.

„Wir schreiben Musik für Typen“, lässt Noel Gallagher seine Landsleute kurz vor Veröffentlichung des Debütalbums wissen, „die jeden Tag zum Laden an der Ecke laufen, um sich einen Scheiß ,Daily Mirror' zu kaufen und ein paar Kippen, und für die gar nichts läuft, die absolut keine Kohle haben. Selbst wenn solche Leute es sich nicht leisten können, unsere Platte zu kaufen, wenn sie aber das Radio einschalten, während sie zuhause aufräumen, mitpfeifen und dann sagen, ,Mann, hast du den Song gehört?’, dann ist es genau das, was wir erreichen wollen.“

Das Land klopft sich den Thatcher-Staub aus den Kleidern

Duo Infernale. Die Brüder Gallagher in New York 1996. Noel (links) hat entschieden, die Band zu verlassen. Er tut es dann doch erstmal nicht.
Duo Infernale. Die Brüder Gallagher in New York 1996. Noel (links) hat entschieden, die Band zu verlassen. Er tut es dann doch erstmal nicht.
© Reuters

Als einer dieser „Typen“ am 9. August 1994 nur noch wenige Wochen vor dem Erscheinen von „Definitely Maybe“ in Newcastle zu der Band auf die Bühne steigt und mit der Faust auf Noels Gesicht losgeht, bekommen sie eine Ahnung davon, was Ruhm anrichten kann. Auch mit ihnen. Erst vermöbeln sie den Angreifer. Dann flüchten sie in die Garderobe. Das Konzert wird abgebrochen, die Menschenmasse ergießt sich in die umliegenden Straßen, frustriert, verärgert und darauf aus, Schlimmeres anzurichten. Die Musiker verstecken sich in einem Kleinbus, der sie ausfährt. Verantwortung wird das sein, was sie nie annehmen werden.

Als „Definitely Maybe“ erscheint, setzt sich sofort an die Spitze der britischen Musikcharts, dort hält es sich wochenlang, ist das bis dahin sich am schnellsten verkaufende Album in der britischen Musikgeschichte. Ein Meilenstein, der Britpop groß und für eine ganze Weile unbezwingbar macht. Bald schon wird es weitere Rekordumsätze geben, Drogenopfer als heilige Helden, Rosenkriege, Todesflüche und einen Pakt mit Tony Blairs New Labour. England verwandelt sich in Cool Britannia, hat die teuersten Künstler, die wildesten Models. Das Land klopft sich den Staub der Thatcher-Jahre aus den Kleidern. Und Oasis sind die Taktgeber.

Ob es zu dieser kollektiven Selbsthypnose gekommen wäre, wenn sich Kurt Cobain nicht 1994 erschossen hätte? Oasis sind gerade in der englischen Provinz unterwegs, als sie von Cobains Tod erfahren. Sie widmen ihm an dem Abend im April „Live Forever“. Der Song ist Noels Erwiderung auf Grunge und das Gegenbild zu dessen Pathos des Scheiterns. Oasis schmeißt lieber Pillen ein, die einen voll aufdrehen lassen, und singt darüber, zertrümmert Kneipeninventar, und singt davon, dreht die Gitarre auf und schreit „Maybe I just want to fly / I want to live I don’t want to die“.

Fair Play? Liam Gallagher (links) und Damon Albarn bei einem Fußballturnier 1996, mit dem Bands wie Pulp, Oasis und Blur Geld für eine musiktherapeutische Einrichtung sammelten.
Fair Play? Liam Gallagher (links) und Damon Albarn bei einem Fußballturnier 1996, mit dem Bands wie Pulp, Oasis und Blur Geld für eine musiktherapeutische Einrichtung sammelten.
© Str Old / Reuters

Das klingt nach Cobains Verzweiflungstat ziemlich plausibel. Oasis sind das ungetrübte Rock’n’Roll-Gefühl. Die Selbstfindungskomplexe junger Männer wischt die fünfköpfige Band beiseite und steigert sich mit wachsendem Publikum in ihre Scheiß-egal-Stimmung hinein. Mit der bald für ihn typischen nörgelnden Stimme klärt Liam die Welt darüber auf, wo er seine Zeit zu verbringen gedenkt: in „Sunsheeeeeine“.

Und ist es nicht sowieso besser, statt ausgeleierte Dritte-Welt-Klamotten zu tragen, mit Fred-Perry-Shirts und im Duffelcoat durch die Straßen zu ziehen? Oasis werden zu Vorbildern des Ladism, ein Wort, abgeleitet von „Lad“, was so viel heißt wie Kumpel, das sich in Männermagazinen wie „Loaded“ als neues Draufgängertum gebärdet. VIVA-Moderator Markus Kavka schreibt später: „Mir steckten das Depressive eines Kurt Cobain und das Weiche der Slacker in den Knochen, doch irgendwie fühlte ich mich unwohl damit. Dann kamen Oasis und (...) zeigten, du kannst jeden Samstag im Stadion grölen und trotzdem die coolste Frisur haben; du kannst nachts mit Bierbüchsen werfen (in Maßen) und die Mädchen finden dich trotzdem toll.“

Mehr kann man über den Erfolg einer Rockband nicht sagen.

Ein Jahr nach Beginn des Britpop-Hypes kommt es zu einem denkwürdigen Treffen. Damon Albarn, Blur-Frontman und mit 27 eine der berühmtesten Figuren in England, steigt in ein Taxi, um sich zum Westminster Palace fahren zu lassen. Er folgt der Einladung John Prescotts, des Wahlkampfstrategen Tony Blairs. Im Büro des schwergewichtigen Mannes mit den tief hängenden Tränensäcken werden Albarn Drinks angeboten, man plaudert, bis schließlich die Tür aufgeht und Blair selbst hereinspaziert.

Der Pakt mit Blair - oder wie Britpop sein gewissen verlor

Blair war im Vorjahr zum Vorsitzenden der Labour-Partei gewählt worden, nun verfolgt er das Ziel, die Arbeiterpartei als New Labour attraktiv zu machen. „So“, eröffnet er das Gespräch, „was geht da draußen ab in der Szene?“

Es folgt eine nachmittägliche Unterhaltung in kleiner Runde, von der nicht klar wird, was sie bezwecken soll. Blur bereiten gerade ein Konzert für 18000 Menschen in einem alten Londoner Stadion vor. Blair lobt „Parklife“, Albarn spricht von den Vorzügen staatlicher Bildungsprogramme. Es geht ungezwungen zu. Den Labour-Politikern genügt vorerst, dass ihr Gast überhaupt gekommen ist. Da stellt einer von ihnen plötzlich die Frage: „Was, wenn du es dir auf dem Absatz anders überlegst und sagst, ,Tony ist ein Wichser?’“. Bevor Blair einschreiten kann, versichert Albarn, dass das niemals passieren werde.

Die kleine Szene, die Autor John Harris in seiner Britpop-Chronik „The Last Party“ schildert, ist ein Schlüsselmoment. Nicht nur versicherte sich der aufstrebende sozialdemokratische Politstar, der die Wurzeln seiner Partei zur sozialistischen Linken kappen will, der Unterstützung des wichtigsten Popstars jener Zeit. Es ist auch die Synergie zweier Machtsphären absehbar, und die Protagonisten spüren das. Albarn und Blair, so Harris, treibe eine glühende Sehnsucht nach Macht und Erfolg an, da beide es satt haben, „das schöne Leben von Dissidenten zu führen“. Sie wollen den Mainstream, die Mitte der Gesellschaft gewinnen.

Doch während es Blair nur mit John Major, dem blassen Nachlassverwalter des Thatcherismus, zu tun hat, taumelt der Blur-Sänger in eine ganz andere Auseinandersetzung. Blur fordern Oasis heraus, indem sie ihre Single "Country House" zeitgleich mit "Roll With It" von der Konkurrenz veröffentlichen wollen. Stichtag des Duells ist der 14. August 1995. Ein Montag, an dem in England die beiden Singles erscheinen. Sogar die BBC berichtet in den Sechs-Uhr-Nachrichten über das Ereignis.

Trophäenjäger. Blur räumen bei den Brit Awards 1995 ab. Den Preis für die beste Band will Damon Albarn (Mitte) mit Oasis teilen.
Trophäenjäger. Blur räumen bei den Brit Awards 1995 ab. Den Preis für die beste Band will Damon Albarn (Mitte) mit Oasis teilen.
© Reuters

Noch im März 1995, als die britische Musikbranche ihre Trophäen für das Vorjahr verteilt, gewinnen Blur vier Brit Awards. Keine Band vor ihnen hat das je erreicht. Als sie schließlich auch den Preis für die beste Band des Jahres entgegennehmen soll, sagt Sänger Damon Albarn, dass sie sich „den hier mit Oasis teilen sollten“. Es ist ehrlich gemeint, verfehlt aber seine Wirkung. Ein böser Zufall hat Liam im Publikum neben Blur-Gitarrist Graham Coxon platziert. Mit jedem Triumph, den Blur an diesem Abend erlebt, werden Gallaghers Albereien unverschämter. Oasis werden als „Best British Newcomer“ geehrt, aber jeder weiß, wie machtvoll "Definitely Maybe" war.

Während beide Bands fieberhaft an nächsten Alben arbeiten, spitzt sich die Rivalität zu. Und Noel Gallagher versteigt sich zu dem Satz, er wünschte, dass der Bassist und der Sänger von Blur Aids bekommen und sterben würden. Es ist mehr als eine verbale Entgleisung, es zeigt, wie charakterlos Oasis mit ihrer Macht umgehen.

Blur kann den in der Presse als „British Heavyweight Championship“ titulierten Wettstreit zunächst für sich entscheiden. Man verkauft 61000 Singles mehr als die Rivalen. Aber Blur hat sich drängen lassen, und das bekommt der Band nicht gut. Schon die Party, die sie im Siegestaumel schmeißt, endet beinahe im Fiasko. Coxon will sich aus dem Fenster stürzen, Freunde halten ihn gerade noch auf. Es plagt die vier nicht nur der öffentliche Druck. Jeder in der Band will etwas anderes. Andere, mutigere Musik. Statt sich sagen zu lassen, wie ein Hit klingen muss. Sie finden ihr angekündigtes Album „The Great Escape“ total misslungen. Nur entstanden, weil Oasis ebenfalls ein Album herausbringt. Die Gosse, aus der Oasis gekommen ist, hat die talentiertesten Musiker, die England seit Jahrzehnten gesehen hat, ruiniert.

Noch 1997 wird ein Interviewer Noel Gallagher ungläubig darauf ansprechen, dass der Kampf ja wohl abgesprochen gewesen sei, um die Platten beider Bands zu hypen. Worauf Noel sagt: "Wir hassen einander wirklich, verdammt noch mal, wir verachten uns. (...) Es war lustig, die Schwanzköpfe zu verarschen und sie dann zu vernichten."

Und alles nur, weil ein unerbittlicher Bruderzwist ein paar der tollsten, gefährlichsten Songs des Jahrzehnts hervorbringt.

Die Gallaghers - eine dysfunktionale Familie

In den Nuller Jahren sind nur noch Liam (Mitte) und sein Bruder Noel (rechts hinter ihm) aus der Anfangsbesetzung von Oasis übrig.
In den Nuller Jahren sind nur noch Liam (Mitte) und sein Bruder Noel (rechts hinter ihm) aus der Anfangsbesetzung von Oasis übrig.
© Lawrence Watson

Die beiden Söhne von Peggy und Thomas Gallagher waren schon früh eine Schicksalsgemeinschaft, teilten das Kinderzimmer, nur der Älteste, Paul, hatte eines für sich. Die Jungs litten unter dem Vater, einem Bauarbeiter und Trinker, der die Kinder und seine Frau oft schlug. Er entzog sich der Familie, verbat sich aber Nachfragen, bis in die Morgenstunden zwang der Choleriker seine Jungs, mit ihm Karten zu spielen. Vor allem Noel bekam es ab. Er zog den Zorn des Vaters geradezu auf sich mit seiner grimmigen Auflehnung. Peggy sah in ihm den herzensguten Jungen. Der raubte einen kleinen Laden aus, da war er 13, hing mit den Hooligans im Viertel rum, flog mit 15 von der Schule. Er steckte die Prügel ein wie etwas, das er vermutlich verdiente. Während Liam sich nichts bieten ließ, von niemandem. Peggy rang lange mit der Trennung, sie war Irin, und in ihrer Vorstellung verlangte das: über die Maßen loyal zu sein. 1982 zog sie dann doch aus und nahm die Söhne mit. Noel war 16, Liam zehn und derjenige, für dessen Betragen sich die Mutter schämte, der am meisten nach Aufmerksamkeit gierte.

Sie hätten niemals in derselben Band spielen dürfen. Dass es doch dazu kommt, liegt 1991 daran, dass Noel als Roadie von einer USA-Tour nach Manchester zurückkehrt und meint, er müsste seinen Bruder mal wieder vor sich selbst beschützen. Der war Frontman einer wenig beeindruckenden Band geworden. Noel findet, dass die keine guten Songs besitzt. Er hat da bereits einiger seiner Hits geschrieben, ist 26 und es wird für ihn höchste Zeit. Also steigt er ein. Sie nennen ihn "The Chief".

Doch die beiden Brüder bleiben in inniger Hassliebe zerstritten, gehen sich wegen Nichtigkeiten an die Gurgel. Vor allem wenn sie der Außenwelt ihre Rollenverteilung erklären sollen, zerbricht das labile Gebilde. In einem MTV-Interview, das zeitgleich mit der "Definitely Maybe"-Veröffentlichung ausgestrahlt wird, tönt Liam: Sein Bruder habe "die Kontrolle über die Songs übernommen, aber weder über die Band an sich noch darüber, wie ich mein Leben zu führen habe." Um giftig hinzuzufügen: "Mich kontrolliert er nicht."

"Doch, tu ich."

Schon auf der ersten USA-Tournee entgleitet Noel die Kontrolle, es nervt ihn, sie überhaupt ständig ausüben zu müssen, damit Liam nicht alles vermasselt, indem er Label-Manager und Leute vergrätzt, die sie vielleicht noch brauchen könnten in diesem seltsamen Land, in dem es so sehr auf Äußerlichkeiten ankommt. Noel sieht die Sinnlosigkeit des Unterfangens ein, haut ab. Niemand weiß, wo er ist. Er hat ein Nummer-Eins-Album in den Charts, ist endlich, was er immer sein wollte, ein Rockstar, und folgt seiner eigenen düsteren Prophezeihung, die er in dem frühen Song "Hello" so zusammengefasst hat: "We live in the shadows / And we had the chance but threw it away." - Wir leben im Schatten, wir hatten eine Chance, aber wir warfen sie weg.

Wo ist die Britpop-Herrlichkeit abgeblieben?

Wegwerfen, das ist eine Lieblingsvokabel im Oasis-Universum. Auch in "Don't Look Back In Anger", dem besten Oasis-Song, kommt sie vor. Der Song ist eine Warnung an alle, die ihnen zu nahe kommen könnten: "Don't put your life in the hands of a rock'n roll band / They'll throw it all away", heißt es da

Die Ironie des Oasis-Erfolges ist, dass die zweite Platte „(What’s the Story) Morning Glory?“ sogar noch besser ist als die erste. Dass die Musiker stets tun, als verkörperten sie die Tugenden der Arbeiterklasse. Dabei sind sie die Avantgarde des Neoliberalismus. Aus nationalen Symbolen wie dem Union Jack, den sich Noel auf die E-Gitarre malen lässt, machen sie Verkaufsargumente, und sie klauen musikalische Ideen, wo sie nur können.

Warum das niemandem auffällt? Ihr Trick ist, sich so sehr daneben zu benehmen, dass sich das Establishment abgestoßen fühlt. Aber das amoralische Rowdytum der Gallaghers ist weniger Ausdruck eines proletarischen Stolzes als vielmehr die Eintrittskarte in die Welt des Glamours und der exzentrischen Selbststilisierung. Ihr absoluter Hedonismus ist nur eine Art von Gedankenlosigkeit. In Liams Worten: „Mir ist scheißegal, was ihr von mir denkt.“

Als Tony Blair 1997 die Wahl gewinnt und in die Downing Street einzieht, ist zu dem Empfang auch Noel Gallagher geladen. Es gibt Fotos von der Begegnung. Noel hält ein Sektglas. Danach wünscht er sich nicht mehr, dass der Sitz des Premierministers von einer Bombe getroffen werde. „Nein, nicht Downing Street Nr. 10, da wohnt jetzt mein Kumpel Blair.“

Damon Albarn kehrt 1997 noch einmal nach Westminster zurück. Er beteiligt sich an den Protesten gegen die Erhöhung der Studiengebühren. Und der „New Musical Express“ listet in einem langen Artikel die uneingelösten Versprechen New Labours an die Jugend auf. Ein Bild von Blair prangt auf der Titelseite mit der Zeile: „Je das Gefühl gehabt, verarscht worden zu sein?“

Jetzt, 20 Jahre später, fragt man sich, was von der ganzen Britpop-Herrlichkeit geblieben ist?

Schon in den Jahren 1997 bis 1999 geht Britpop an seinem eigenen Maximalismus zugrunde. Die Bands sind erschöpft, trotzdem bringen sie immer opulentere Alben heraus. Sie wollen Größe verkörpern und gleichzeitig persönlicher werden. Blurs Musik gerät unter den Einfluss von Albarns Heroin-Sucht, mit "13" nehmen sie schließlich ihr bestes Album überhaupt auf, das von den zerstörerischen Folgen des Ruhms erzählt. Aber das will kurz vor dem Millennium niemand mehr so richtig hören.

Historisch markierte Britpop den Auftakt zu einer noch viel mächtigeren Bewegung – des Retro-Pop. Von Mitte der 90er Jahre an greifen Musiker gezielt auf frühere Epochen des Pop zurück, um sie zum ästhetischen Ideal der Gegenwart zu machen. Für Blur und Oasis  sind es die Sixties, späteren Bands wie Franz Ferdinand und Arctic Monkeys liegt der New Wave der 80er Jahre näher. „Retromania“ hat der englische Musikjournalist Simon Reynolds diese „Abhängigkeit des Pop von seiner eigenen Vergangenheit“ genannt, die seither immer stärker geworden ist durch die neuen technischen Möglichkeiten. Die digitale Allverfügbarkeit hebt die Grenze nicht nur zwischen Stilen und Genres auf, sondern auch zwischen historischen Phasen. Der Musikertypus der Gegenwart hat sein Pop-Wissen nicht in Plattenläden erworben, wo er nach seltenen Exemplaren einer bestimmten Platte suchte. In seinem iPod ist die Musik gespeichert, die er braucht.

Dabei ist schon, als Britpop passiert, eine ganz andere Musik aus England viel besser geeignet, die Widersprüche des Landes und seine Ängste vor den anstehenden Veränderungen auszudrücken. Die unruhig flackernden Speed-Beats des Drum’n’Bass etwa oder die unterkühlte Paranoia des Trip-Hop. Beide Stile werden von Migrantenkindern geprägt, deren Eltern aus Afrika oder der Karibik nach England eingewandert waren. Latinos, Schwarze, Weiße – in einer Gruppe wie Massive Attack aus den Sozialbauten von Bristol zeigt sich ihr fordernder Klangraum. So glorifizieren die britische Kultur nicht mehr, sondern verändern sie.

So ist Britpop vor allem als Fantasma einer Nationalkultur groß geworden, die sich ein letztes Mal im Glanz der Einheitlichkeit sonnte. Als solche hat sie nicht lange überlebt. Die Gallaghers hielten es immerhin 15 Jahre miteinander bei Oasis aus. Aber bald schon wurden sie von Bands wie Coldplay in ihrer internationalen Bedeutung abgelöst, von Typen, die "aussehen, als kämen sie direkt von der Polizeiakademie", wie Noel Gallagher über Coldplay höhnte. So ist das, was Britpop groß gemacht hat, im Nachhinein bloß das Gegenbild zur heutigen Fragmentierung. Bands werden nun nicht einmal mehr bedeutsam genug, als dass man sich über sie ärgern müsste.

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