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Regisseur Todd Phillips (links) und sein Hauptdarsteller Joaquin Phoenix verstehen die Welt nicht mehr. Mit „Joker“ gewinnt erstmals ein Superheldenfilm den Goldenen Löwen.
© Foto Alberto Pizzoli/AFP

Filmfestival Venedig 2019: Der Goldene Löwe geht an den Superheldenfilm „Joker“

Beim Filmfest von Venedig gab es handfeste Überraschungen: Auch der umstrittene Regisseur Roman Polanski wird mit dem Großen Preis der Jury geehrt.

Als Ende Juni die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel als Jury-Präsidentin der 76. Filmfestspiele von Venedig vorgestellt wurde, war die Vorfreude groß. Martel gehört mit gerade mal vier Spielfilmen zu den kompromisslosesten und eigenwilligsten Regisseurinnen im Weltkino. Ihre Berufung an die Spitze der Venedig-Jury sahen viele auch als Abkehr von der bisherigen Politik des künstlerischen Leiters Alberto Barbera, der sein Festival in den vergangenen Jahren stark in Richtung Hollywood ausgerichtet hatte. Venedig gilt seit einigen Jahren als Startrampe für die Oscars.

Lucrecia Martel, die am Samstagabend – eine üppige Sonnenbrille auf der Nase – im Palazzo del Casinò auf dem Lido die Preisträger verkündete, hat die Filmwelt dann tatsächlich überrascht – jedoch ganz anders als erwartet. Der Goldene Löwe geht in diesem Jahr an den Superheldenfilm „Joker“ des Komödienregisseurs Todd Phillips („Hangover“), der in allen Kritikerumfragen vorne lag, dem aber niemand eine realistische Chance ausgerechnet hatte.

Zwar hatte erst vor zwei Jahren mit dem Monsterliebesfilm „The Shape of Water“ ein Genrefilm den Hauptpreis gewonnen – aber unter Lucrecia Martel ...? Die Autorenfilmerin Martel war selbst schon im Gespräch für einen Marvel-Film gewesen, hatte aber wieder abgesagt, als das Studio vorschlug, dass ein erfahrener Regisseur die Actionszenen drehen könnte.

Zwischen wahnhafter Erkenntnis und Realitätsverlust

„Joker“ ist ein überraschender Sieger, aber er ist auch ein außergewöhnlicher, düsterer und politisch aufgeladener Studiofilm. Mit einem bravourös derangierten Joaquin Phoenix als zukünftigem Batman-Widersacher. Der  Preis ist sicher auch ihm zu verdanken.

Phillips verwandelt das New York der frühen Achtziger in eine atmosphärisch formidable Gotham City, in Anlehnung an Scorseses „Taxi Driver“. In den Straßen haben sich Müll, Gewalt und Wut auf die Reichen aufgestaut. Da braucht es schon eine ausgewachsene Wahnfantasie, um sich aus diesem Moloch als neuer Messias der Entrechteten zu erheben. Ein abgemagerter Phoenix wandelt als psychisch labiler Möchtegern-Komiker, der sich mit Auftritten als Clown über Wasser hält und seine Mutter pflegt, auf dem schmalen Grat zwischen wahnhafter Erkenntnis und Realitätsverlust. Es ist faszinierend zu sehen, wie er Phillips Film in einem permanenten Zustand des Deliriums hält.

Interessant an der Entscheidung ist auch, dass die beiden Netflix-Filme in der Konkurrenz, Noah Baumbachs Scheidungskomödie „Marriage Story“ mit Adam Driver und Scarlett Johansson und Steven Soderberghs Satire „The Laundromat“ über die „Panama Papers“-Enthüllungen, leer ausgingen. Barbera hat sich damit eine erneute Debatte erspart, nach dem Gewinn von „Roma“ im vergangenen Jahr stand er in der italienischen Filmindustrie unter heftiger Kritik, weil Netflix sich lange Zeit weigerte, seine Eigenproduktionen in die Kinos zu bringen. Gerade „Marriage Story“ galt als Mitfavorit für einen der Hauptpreise.

Am Ende gewannen jedoch Luca Marinelli für „Martin Eden“ und Ariane Ascaride für die proletarische Familiengeschichte „Gloria Mundi“ vom französischen Festivalveteranen Robert Guédiguian die Darstellerpreise. Der Regiepreis ging an den schwedischen Regisseur Roy Andersson und „About Endlessness“, eine stoische Farce, die in stillleben-artigen Vignetten von der existenziellen Vergeblichkeit und Überforderung des Menschseins erzählt. Es ist sein zweiter Preis in Venedig nach „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach”, für den er 2014 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde.

Beide Regisseurinnen gehen leer aus

Hauptpreise für eine Hollywood-Produktion und drei sehr unterschiedliche europäische Arthouse-Filme, dazu der Große Preis der Jury für Roman Polanskis Biopic „J’accuse“ über die Dreyfus-Affäre. Die Einladung von Polanskis Film hatte vorab bereits für Unverständnis und Empörung gesorgt. Auch Lucrecia Martel hatte sich kritisch gegenüber Festivalleiter Barbera und dem polnisch-französischen Regisseur geäußert, der wegen eines Auslieferungsgesuchs der USA nicht nach Venedig gereist war.

Die Bilanz von Venedig 2019 fällt insgesamt also durchwachsen aus. Auch unter der resoluten Jury-Präsidentin Martel dominiert das klassische Erzählkino. Und von den zwei einzigen Filmen von Regisseurinnen gewann immerhin Shannon Murphys Coming-of-Age-Film „Babyteeth“ den Nachwuchspreis – für Hauptdarsteller Toby Wallace. Es war aber auch, das muss so klar gesagt werden, nicht mehr rauszuholen.

Dieses Manko ist jedoch nicht allein der Filmindustrie anzukreiden, wie es Barbera in der vergangenen Woche bei einem Workshop zu den Themen „Geschlechtergleichheit“ und dem „Pay Gap“ in der Branche andeutete. Filmfestivals stehen ebenso in der Verantwortung. Durch eine erhöhte Sichtbarkeit von Regisseurinnen haben sie sogar die einmalige Chance, den Wandel in der Industrie selbst zu moderieren. Erst wenn dieser Schritt vollzogen ist, weiß man, ob die dreiste Behauptung von Leuten wie Barbera oder Cannes-Chef Thierry Frémaux, dass mehr Frauen im Wettbewerb die Qualität mindern, noch haltbar ist. Zwei Regisseurinnen im Wettbewerb sind nicht mehr als ein Lippenbekenntnis.

Sehnsucht nach Handwerkskunst

Mit dem Preis für den 86-jährigen Roman Polanski hat die Jury ein Zeichen gesetzt. Martel hatte zu Beginn des Festivals selbst gesagt, dass sie Polanski, bei aller Kritik an seiner Person, für einen bedeutenden Regisseur hält. Erst im vergangenen Jahr hatte ihm die Oscar-Academy wegen des 40 Jahre alten Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen die Mitgliedschaft aufgekündigt. In dem Jurypreis kommt vielleicht aber auch die Sehnsucht nach souveräner Handwerks- und Erzählkunst zum Ausdruck, der Film verströmt förmlich in jeder Szene fünfzig Jahre Regieerfahrung.

Polanski rekapituliert in „J’accuse“ die Dreyfus-Affäre aus Sicht des antisemitischen Majors Picquart (Jean Dujardin) im Stile eines historischen Kriminalfilms mit Elementen des Verschwörungsthrillers. Formal konventionell, aber auch mit einem ausgeprägten Sinn für die Kriminalistik des Fin de Siècle. Der Preis für Polanski dürfte ein Signal in Richtung der Filmbranche senden – oder für allgemeines Stirnrunzeln sorgen.

Auch hier wäre es anders gegangen. Für gehobene Handwerkskunst hätte die Jury statt Polanski ebenso das Kolonialdrama „Waiting for the Barbarians“ des Kolumbianers Ciro Guerra auszeichnen können, das zwischen Historienfilm und politischer Allegorie changiert. Oder den Darstellerinnenpreis statt Ariane Ascaride der chilenischen Newcomerin Mariana Di Girolamo geben können. Pablo Larraíns Drama „Ema“ über eine junge Adoptivmutter, die mit Flammenwerfer und Straßentanz ihre gesellschaftlichen Freiräume behauptet, ging leer aus, dabei war er dank der unberechenbaren Impulsivität seiner Hauptfigur einer der eindrucksvollsten Filme im Wettbewerb. Venedig benötigt wieder mehr solcher Filme, um sein Profil als Festival zu stärken, das nicht nur auf die Oscars schielt, sondern auf dem man auch originelles, überraschendes Kino entdecken kann.

Das gilt gleichermaßen für das italienische Gesellschaftstableau „Martin Eden“ von Pietro Marcello, das – frei nach Jack London – die Lebensgeschichte eines ungebildeten Bauernsohnes erzählt, gedreht auf wunderbar haptischem 16mm-Material. Marcello vermengt kongenial die italienische Filmgeschichte (vor allem Bertolucci und Visconti) und die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Das Amalgam aus revolutionärem Pathos und radikalem Individualismus führt direkt in die Selbstzerstörung. Der Preis für Luca Marinelli war das mindeste. Der Vergleich zwischen seinem Spiel und dem von Joaquin Phoenix verrät aber auch, welche Art von Kino man in Venedig präferiert.

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