Hip-Hop: Der Glamour des Kaputten
Entwicklungsroman und Hymne auf Compton: Das Debütalbum des Hip-Hoppers Kendrick Lamar, dem angeblich neuen König der Westcoast.
Den Westcoast-Hip-Hop-Sound der neunziger Jahre muss Kendrick Lamar mit der Muttermilch aufgesogen haben. Er wurde nicht nur 1987 in Compton geboren, dem berühmt-berüchtigten, seinerzeit von Gang-Kriegen heimgesuchten und durch viele Rapper von Coolio bis Eazy-E besungenen und gefeierten Problembezirk in Los Angeles. Nein, Lamar hat sich auch, wie es seine deutsche Plattenfirma verrät, schon im Alter von acht Jahren am Set des Videodrehs zu Dr. Dres und 2Pacs Hitsingle „California Love“ herumgetrieben, „ein bedeutendes Ereignis, an das sich Kendrick Lamar gerne zurückerinnert“.
Ob es so bedeutend war, dass von diesem Set eine direkte Linie zu Lamars in den USA und auch hierzulande bejubelten Album „Good Kid, m.A.A.d. City“ führt? Muss wohl. Denn bei dem Personal, das die junge, musikalische Vita von Lamar bevölkert, fühlt man sich sofort in die goldene Ära des Westküsten-Hip- Hops zurückversetzt: Snoop Dogg und The Game sind Mentoren von Lamar, Dr. Dre hat das Album produziert und bei seinem Aftermath-Label veröffentlicht, und zu allem Überfluss, das findet Lamars Plattenfirma ebenfalls erwähnenswert, haben diese drei ihn auch noch zum „New King of The Westcoast“ gekürt.
Dieses Hip-Hop-Debütalbum kann also nur gut sein – lehrt einen zunächst aber das Fürchten. Braucht man dieser Tage, gerade nach den vielen Quantensprüngen im Hip-Hop-Genre Richtung Space und Pop, nach all den Timbalands, Pharells und Kanye Wests, wirklich noch einen jungen Rapper von Dr. Dres Gnaden? Einen, der mit einer Comptoner Lokalgröße wie MC Eiht oder mit Dre selbst seine Heimatstadt besingt, der in Tracks wie „Money Trees", „Real“ oder „Swimming Pool“ noch einmal die ganze Rhetorik des Gangsterraps zum Besten gibt? Also ein Album, das die neunziger Jahre des Westcoast-Hip-Hops formal und inhaltlich hochleben lässt? Natürlich braucht das kein Mensch.
Immerhin: Kendrick Lamar ist einerseits viel zu reflektiert, um ein zerrüttetes Viertel und dessen Gang-Unwesen einfach zu feiern und in einem strahlenden Pop-Licht erscheinen zu lassen wie einst ein Snoop Dogg, ein Warren G. oder ein Dre. Andererseits kann auch er es nicht lassen, seine Herkunft gewinnbringend einzubringen, wie es schon bei der Gestaltung des Covers ersichtlich wird. Darauf sieht man Lamar als drei- oder vierjährigen Knirps im Kreis dreier männlicher Verwandter, seines Großvaters und zwei seiner Onkel, deren Gesichter ein schwarzer Balken ziert. Warum? Die Onkel sitzen inzwischen im Gefängnis. Lamar erzählt nun in den Stücken seines Albums, das er mit „A short film by Kendrick Lamar" untertitelt hat, sein Leben in mehreren Akten. Zum Beispiel wie er mit dem Auto seiner Mutter als 17-Jähriger eine Freundin besucht: „Baby, don’t kill my vibe“. Wie er mit seinen Freunden abhängt und immer in der Gefahr schwebt, in kriminelle Handlungen verwickelt zu werden. Oder wie er sich überhaupt als „good kid“ („Fresh of out school, 'cause I was a high-school grad…“) in besagter „mad city“ zu behaupten versucht.
Es geht hier also um einen jungen Mann, der in einer extrem problematischen Umgebung aufwächst – und dann tatsächlich kein Gangster wird. Ein Entwicklungsroman mit Happy End. Wobei Lamar ja erst 25 ist. Das Ganze erinnert an das inzwischen legendäre Debütalbum des jungen, damals 20 Jahre alten Ostküsten-Rappers Nas, „Illmatic“, wenn gleich hier musikalisch sanft rollende Gangster-Funk-Beats dominieren, die ganz alte, aber immer noch effektive Schule. Viele Tracks haben was Elegisch-Schleppendes, gemächlich, aber entschlossen geht es voran, insbesondere das über zehn Minuten dauernde „Sing About Me, I’m Dying Of Thirst“, getragen von Lamars melancholisch anmutenden, mitunter stimmlich verfremdeten Reimen. „Good kid, m.A.A.d. City“ ist eine grundsolide Dre-Produktion mit einem talentierten Rapper am Mikrofon, die das Genre allerdings nicht groß weiterbringt, insbesondere von der Thematik her: Der Entwicklungsroman gehört zu den beliebtesten Gattungen des Hip-Hops.
Warum Lamar und Dre am Ende noch einmal Compton hymnisch besingen müssen („Compton, Compton, ain’t no city quite like mine"), quasi als krönender Abschluss des Albums, wird nicht ganz klar. Genauso lässt sich fragen, ob Lamar für sein Cover nicht einfach ein Jugendfoto ohne Onkel und Großvater hätte auswählen können, ganz zu schweigen von den provokativ platzierten schwarzen Balken in deren Gesichtern? Dass Compton Lamars Geburtsort und Heimat ist, mag das Eine sein. Das Andere ist der Glamour eines verrufenen Stadtteils, dem sich der junge Rapper bei aller Distanz nicht entziehen kann.
„Good Kid, m.A.A.d. City“ ist bei Universal erschienen.
Gerrit Bartels
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