Karneval: Der Geist der Anarchie
Warum es lohnenswert sein könnte, sich in den Kölner Karnevalstrubel zu stürzen statt ihn zu fliehen, erschließt sich nur aus der Nähe. Eine Erinnerung.
Ungeordnet bewegte sich der Zug durch die Nacht. Einige trugen Kerzen, und immer wieder ertönte ein heulendes Jammern. Der, über den sie Wehklage erhoben, wurde vorneweg getragen. An einem dunklen Platz legten sie ihn ab. Als sich alle versammelt hatten, zündeten sie ihn an. Seine Kleider waren klamm, doch da sie ihn mit Spiritus übergossen hatten, brannte die mannshohe Strohpuppe im Nu. Der Vorsteher nahm eine Klobürste, tauchte sie in einen Eimer und besprengte den lodernden Leib mit Wasser. Während die Flammen höher schlugen, eröffnete er den Wechselgesang und stellte in theatralisch singendem Tonfall Fragen, auf die die Gemeinde offenbar vorbereitet war, denn aus hundert Stimmen kam immer wieder dieselbe Antwort: „Dat wor dä Nubbel!“
Zu Deutsch: Das war der Nubbel – was rheinisch ist und nichts anderes bedeutet als irgendeiner. Ihm, dem Sündenbock, wurden alle Laster und Verfehlungen angedichtet, der Brummschädel vom vielen Kölsch, das Fremdgehen, der Streit, der Katzenjammer, die Raserei, der sich diese Menschen sechs Tage kollektiv überantwortet hatten – der Nubbel war an allem schuld.
Ein wenig unheimlich war mir schon zumute, als ich diesem Opferbrauch erstmals beiwohnte, mit dem jeweils in der Nacht zum Aschermittwoch der Karneval zu Grabe getragen wird. Aber die Prozession, die die katholische Liturgie in der Parodie auf ihre heidnischen Ursprünge zurückbog, faszinierte mich auch. Obwohl ich nur eine halbe Stunde entfernt von Köln aufgewachsen war, erwartete mich an meinem Studienort eine fremde Kultur – etwas Dionysisches, vom Mittelmeer Herrührendes, denn nicht ungern nennt der Kölner seine Stadt die nördlichste Italiens.
Ob nun die römischen Saturnalien oder keltische Riten zur Winteraustreibung den Ursprung bilden, ist umstritten – uralt aber ist der Karneval in jedem Fall. Das Christentum gab ihm den Sinn der letzten Ausschweifung vor der vierzigtägigen vorösterlichen Fastenzeit. Doch seine Wildheit ist trotz der organisatorischen Überformung, die ihm auferlegt wurde, als das Rheinland preußische Provinz war, nie ganz verschwunden.
Im Fernsehen teilt sich dieser Zauber nicht mit. Wenn man sich auch in diesen Tagen bis zur Besinnungslosigkeit durch Umzüge und Sitzungen zappen kann – warum es sich lohnen könnte, sich in diesen Trubel zu stürzen, statt ihn zu fliehen, erschließt sich nur aus der Nähe. Einige Jahre brauchte ich, bis der Funke übersprang. Dass sich die Menschen in den Kneipen förmlich stapelten und der Anblick der Straßen morgens kein appetitlicher war, überzeugte allein noch nicht.
Aber am Rosenmontag 1990 änderte sich alles. Sturm war angesagt, der Zug, hieß es, falle vielleicht sogar aus, Orkanböen peitschten durch die Straßen. In einer Gruppe von zwanzig Leuten, gemischtes Künstlervolk, einige kostümiert, andere nicht, quetschten wir uns unter die Jecken am Zugweg und warteten. In Düsseldorf und in Mainz war schon abgesagt worden, Köln stand auf der Kippe – als dann aber der befreiende Ruf „D’r Zoch kütt!“ (Der Zug kommt!) erscholl, ging eine Welle der Begeisterung durch die Wartenden und riss alle Zurückhaltung mit sich fort. Ich sang die Lieder mit aus vollem Hals und merkte so erst, dass ich sie alle kannte. Die ergreifendsten und die mit dem meisten Mutterwitz waren stets die der „Bläck Fööss“, jeder kennt sie in dieser Stadt, wo man „den Dom in Kölle“ lässt, weil er eben dorthin gehört.
Ein Jahr später sollte der Rosenmontagszug tatsächlich ausfallen, zumindest der offizielle. Der erste Golfkrieg hatte begonnen und man hielt es nicht für angezeigt, den Frohsinn wie üblich auf die Straßen zu tragen, auf denen Demonstranten „Kein Blut für Öl!“ verlangten. Als sich die Fernsehsender zurückzogen und nicht übertrugen, blies das Festkomitee alle Umzüge ab. Damit aber waren viele Jecken keineswegs einverstanden. Ein bisschen friedensbewegt waren die meisten obendrein, und wenn man ohnehin schon auf der Straße war…? Aus unorganisisiert umherstreifenden Gruppen formierte sich so am Rosenmontag 1991 unter dem Motto „Kamelle statt Bomben“ der ungewöhnlichste Festzug, den die Stadt je gesehen hatte. Zwischen den herkömmlichen Kostümen sah man Gasmasken und andere gespenstisch anmutende Verkleidungen, und so ging dieses Happening als erster „Geisterzug“ in die Annalen ein. Karnevalisten und Kriegsgegner waren sich singend einig: „Mir klääve am Lääve“ (Wir kleben am Leben).
Die unvermutete Wiedergeburt des bunten Treibens aus dem Geist der Anarchie veränderte die Haltung, die Intellektuelle zum Karneval einnahmen. Hatte BAP-Sänger Wolfgang Niedecken in seinem von Eifeler Tönen unterwanderten Kölsch noch Anfang der achtziger Jahre sinngemäß erklärt, er könne echt nicht darüber lachen, wenn die fragen, die sonst nichts ohne Schlips und Kragen machen, ob ihre Pappnase richtig sitzt, so war der Karneval plötzlich eine Sache der Alternativen. Wie es aber in Köln so geht, wird kritischer Gegenkarneval wie die politisch links situierte „Stunksitzung“ recht schnell zum Teil des Establishments, das in Köln auch Klüngel genannt wird und in dem das Mitmachen in Vereinen bis heute eine karrierefördernde Maßnahme sein kann. Auch der Geisterzug wurde vom Protest zur Institution – in diesem Jahr fällt er allerdings zum zweiten Mal in Folge aus.
So plötzlich mich die Begeisterung für den Karneval gepackt hatte, so allmählich ebbte sie wieder ab. Man muss mit den richtigen Leuten unterwegs sein und keine Angst vor Menschenmassen haben. Einmal, an Weiberfastnacht auf dem Alten Markt, wurden wir im Geschiebe fast zerdrückt. Wie es einmal der entschieden massenfeindliche Dichter Stefan George mit Blick auf die Gläubigen auf dem Petersplatz formulierte: Auch die Menge kann schön sein, „wenn das Wunder sie ergreift“; freilich nur dann. Heute, sieben Jahre und 600 km von den Quellen des rheinischen Frohsinns entfernt, regt sich wieder mein Interesse. Seit ich aus der Ferne miterleben musste, wie das Stadtarchiv in einer Grube für den U-Bahn-Bau versank, merke ich, dass man „niemals so ganz“ aus Köln weggehen kann, wie es in einem der unzähligen Lieder heißt, mit denen die Stadt sich selber feiert.
Von der Autorin Ute Wegmann, die seit Jahr und Tag in der Kölner Südstadt lebt, wo das Mediterrane des Kölners gleichsam zu sich selbst kommt, möchte ich wissen, ob es Neues gibt – abgesehen davon, dass mir die vor den Kneipen aufgestellten Garderoben und die schiere Menge der Dixie-Klos, mit denen die Stadt sich für den Ausnahmezustand rüstet, unvertraut vorkommen. „Loss mer singe“, erzählt sie, sei jetzt das große Ding: Lasst uns singen!
Monate vor dem Straßenkarneval treffen sie sich sonntags in den Kneipen, um das Liedgut einzuüben, weniger die alten Lieder als die neuen, die für jede Session frisch komponiert werden. Eine Initiative, die in einer Wohnküche im Stadtteil Nippes ihren Ursprung haben soll. Die Leute seien süchtig danach, gerade die Facebook-Generation, so Wegmann, sehne sich nach solchen Gemeinschaftserlebnissen. Das diesjährige Motto lautet: „Mer bruche Kölsch“ – wir brauchen Kölsch. Eine lustige Stadt ist das, deren Sprache so heißt wie ihr Bier.
„In unserem Veedel“ (in unserem Viertel), so behauptet die Weise, durchaus sentimental, hält man eben immer noch zusammen. Ob es auch stimmt, ist eine andere Frage – aber zumindest dann, wenn sie singen, glauben die Kölner es Wort für Wort. Ihre Lieder lassen sich auch in die Ferne mitnehmen, keine andere Stadt in Deutschland hat ein solches Repertoire. Sprache als Heimat: Meine achtjährige Tochter kennt sie schon auswendig, wenn sie auch noch nie beim Rosenmontagszug war.
Norbert Hummelt
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