„In den Gängen“ im Berlinale-Wettbewerb: Der Frischling und die Süßwaren-Fee
Großartiger Gabelstaplerwalzer: Thomas Stubers „In den Gängen“ ist der vierte deutsche Film im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale.
Als Musik genommen, wäre dieser Film wohl ein Walzer. Und nicht nur, weil er so anfängt: Peitschenleuchten, diese modernen Symbole der Heimatlosigkeit, vor grauem Himmel über leeren Parkplätzen. Utopia also, nur dass kein Ferment von Hoffnung darin ist, ein Nicht-Ort also, ein Anti-Ort. Jeder kennt ihn, so sieht es aus vor unseren großen Einkaufsmärkten. Und in diese Szenerie fallen die ersten durchsichtig-zarten Ton-Tropfen des Donauwalzers. Es ist ein musikalischer Weltaufgang, und ja, wir fahren ein in den Bauch des Marktes, die Lichter flackern auf, der Großmarkt beginnt einen neuen Tag, zwischen den Gängen der endlosen Regale. Der erste Gabelstapler kommt, ein zweiter kreuzt seine Bahn, ihre jaulenden Töne mischen sich unter den Johann Strauss. Was für ein Gabelstaplerwalzer!
„In den Gängen“ ist ein Film über Menschen, über die normalerweise keine Filme gemacht werden. Nicht mehr. Früher in der DDR hätte man sie noch „die Werktätigen“ genannt, und es klang Anerkennung darin; heute ist ein Lagerarbeiter nur jemand, der es nicht geschafft hat, der irgendeine Kurve in seinem Leben nicht bekommen hat. So wie Christian (zum zweiten Mal in diesem Wettbewerb Franz Rogowski).
Seine Arme sind tätowiert, der Mann, den alle im Markt den „Häuptling“ nennen, rät ihm, sie gut zu verstecken. Christian bekommt einen blauen Kittel, drei Kulis und ein Namensschild: Fertig ist ein neues Leben. Man könnte es auch Verurteilung nennen, aber das Kino-Wunder geschieht, der Walzer geht weiter, vorerst.
Beseelung des Unbeseelbaren
Früher hätte sich vielleicht der sozialkritische Film dieses jungen Mannes angenommen. Er versprach kein Vergnügen und bereitete meist auch keins. „In den Gängen“ ist keiner. Traumsicher gelingt Thomas Stuber etwas, das man auch die Beseelung des Unbeseelbaren nennen könnte.
Was ist das? Eine neue Verschwörung Ost? Stuber wurde 1981 in Leipzig geboren, sein Drehbuchautor Clemens Meyer kurz vorher in Halle, Hauptdarstellerin Sandra Hüller 1978 in Suhl und Peter Kurth in Güstrow, das ist schon etwas länger her. Nur Rogowski fällt aus dem Rahmen: Freiburg im Breisgau. Aber das passt trotzdem sehr gut, schließlich ist er der Neue hier, „der Frischling“, wie die Süßwaren-Fee Marion ihn nennt. „Eh, Frischling, komm’ mal her ...!“ So ungefähr.
Seit Sandra Hüller in „Toni Erdmann“ die tendenziell unberührbare Geschäftsfrau spielte, ließ sich das Bild der Unternehmensberaterin Ines Conradi vor dem inneren Auge nicht mehr löschen, Körpertemperatur: gefühlte minus 37 Grad. Aber jetzt braucht es nur Augenblicke, und diese Marion ist da, eine Frau, die sich vom Leben nimmt, was sie braucht, eine ruppige Verführerin auch. Rogowskis Christian beobachtet die Süßwaren-Auffüllerin durch die Regale der Getränkeabteilung. Dabei widersteht „In den Gängen“ in jeder Szene der Versuchung, selbst zur Süßware zu werden. Auch erwecken Rogowski und Hüller niemals den Eindruck, als seien an ihnen zwei Akademiker verlorengegangen. Das ist sehr uneitel gespielt, und Rogowski brauchte schon allein sprachlich eine ziemlich große Portion Uneitelkeit.
Die Beseelung des Unbeseelbaren also. Oder ist es das, was überall passiert, wo Menschen miteinander arbeiten? Sandra Hüller hat einmal gesagt, sie stelle immer wieder fest, dass ihr „bestimmte Dinge wichtiger sind als Leuten, die von woanders herkommen.“ Die Kern-Belegschaft der Lagerarbeiter ist DDR-ursprünglich, aus ausgemusterten Fernfahrern wurden Gabelstaplerfahrer. So wie Bruno, Christians Mentor in der Getränkeabteilung. Peter Kurth ist großartig in seinem rauen Understatement, er war zuvor der alte Boxer in Thomas Stubers erstem großen Erfolg „Herbert“, der ebenfalls auf einem Drehbuch von Clemens Meyer basierte.
Sklaven der modernen Arbeitswelt
Die Schatten über Clemens, Marion und Bruno werden länger, es sind wie die meisten Schatten solche der Vergangenheit. Was als Walzer beginnt, geht über in den Radetzkymarsch der Spielautomatenfassung, und dann in die Musik der Sklaven Amerikas.
Die Zeit-, Leih- und Lagerarbeiter sind die Sklaven der modernen Arbeitswelt, kaum qualifiziert, universell austauschbar, beschäftigt auf Widerruf. „In den Gängen“ implantiert ihr gleichsam eine fremde Seele, die Seele von Menschen, die es noch immer gibt, und setzt damit wie beiläufig der Arbeitswelt der DDR ein Denkmal, ihrer Grundsolidarität. Lobende Erwähnung verdient auch ein großer Nebendarsteller, oder ist er gar ein Hauptdarsteller: der Gabelstapler, sehr komisch und bedrohlich zugleich. Und manchmal, wenn man ihn ganz aus- und dann sehr langsam wieder einfährt, klingt er wie ein Meer und ein Strand.
24.2., 12 Uhr (Friedrichstadt-Palast) u. 15 Uhr (Haus der Berliner Festspiele), 25.2., 21 Uhr (Berlinale Palast)
Kerstin Decker