200-jähriges Jubiläum: Der Fall Richard Wagner
Am Mittwoch wäre Richard Wagner 200 Jahre alt geworden. Der Germanist und Romantik-Experte Norbert Miller schreibt hier über den umstrittenen Komponisten - den Pionier des Regietheaters, der für heutige Regisseure Chance und Bürde zugleich bedeutet.
Denkjahre und Jubliäumsfeiern haben die Tendenz, ihren Gegenstand entschlossen ins Vergessen zu stoßen – über dem Versuch, jedes Indiz des Fortlebens wie einen altmodischen Fidibus zum Anzünden der behaupteten Aktualität zu präparieren. „Non e morto!“ versichert der Reiseführer am Vesuv, wenn er eine Zeitung in eine gerade noch rauchende Spalte hält und sich über das kleine Feuer freut. „Non sono morti!“ – das gilt 2013 für drei Dramatiker des Jahrgangs 1813, deren Präsenz auf den Bühnen der Welt noch ungefährdet ist: Giuseppe Verdi und Richard Wagner, die Antagonisten von damals, in der Fernwirkung auch Georg Büchner.
Bei allen drei werden die größten Anstrengungen unternommen, den Jahrestag als Ereignis sichtbar zu machen. Werkausgaben drängen ihrem Abschluss zu, den sie wie üblich nicht erreichen. Immerhin, die letzten Bände der 1968 von Carl Dahlhaus begründeten Wagner-Gesamtausgabe, die dramatischen Jugendwerke betreffend, stehen vor der Fertigstellung. Die provisorisch begonnene Sammlung der Briefe ist auf gutem, wenn auch noch langem Wege. Und rechtzeitig zum Jubiläum sind die öffentlichen Mittel bereitgestellt, um die Dichtungen und Schriften aus den Quellen in einer kritischen Gesamtausgabe neu zu erschließen. Wenn auch bei Verdi die kritische Sichtung des Werks nur schleppend und die Sammlung seiner großartigen Briefe überhaupt nicht vorankommt, so manifestiert sich seine Allgegenwart wie die von Wagner in einer Unzahl von CD- und DVD-Zyklen für Jäger und Sammler.
Bei Wagner liegt der Fall noch anders; denn er ist der Fall Wagner. Umstritten und gegen alle Widerstände erfolgreich ist der Musikdramatiker seit der Dresdner Premiere seines „Rienzi“ 1842. Schon zu Lebzeiten stand er in schroffer Opposition zur herrschenden Kunstauffassung der anderen Romantiker, von denen er einmal ausgegangen war. Die unbedingte, bis zur Selbstzerstörung reichende Auslieferung an die eigene Sendung führte zu einer machtvollen Isolation in der Musikwelt und der Gesellschaft seiner Zeit. Einerseits wegen der früh gefundenen, immer weiter vorangetriebenen Metamorphose des Theaters, andererseits wegen der Welterklärung aus dem angewandten Mythos, der den Umsturz der Verhältnisse einschließt.
Nach der Rückkehr des Revolutionärs aus dem Schweizer Exil schloss er ein Bündnis mit dem jungen König von Bayern, umgab sich in München und später in Bayreuth mit einem Freundeskreis, der ihm huldigte und den man als Kunstpartei der Neudeutschen umschreiben kann.
Aus altem Hass und neuem Kalkül ließ er sich auf wüste Abrechnungen mit seinen Gegnern ein und machte sich zum Wortführer eines Antisemitismus, für den die Begleichung alter, in seinem Kopf aufgehäufter Rechnungen mit seinem Förderer Giacomo Meyerbeer und mit Felix Mendelssohn Bartholdy nur den Anlass boten. Zum Fall Wagner wurde das Für und Wider aber erst durch die Verstrickung des Hauses Wahnfried mit dem Nationalsozialismus. Das entfachte nach 1945 jene bis heute anhaltende Debatte um Wagners Stellung im Liberalismus seiner Epoche. Und um eine verschlüsselte, in ihren Botschaften jedoch unmissverständliche Kunstreligion, die im Grünen Hügel Bayreuths schon zu Wagners Lebzeiten ihren Tempel gefunden hatte.
Die radikale Neudeutung der Musikdramen durch Wieland Wagner ab 1951 stand zwar im Zeichen einer nur zögerlichen Bewältigung der eigenen Vergangenheit. Aber sie bot den Anstoß für eine vielfältig geführte Auseinandersetzung. Theodor W. Adorno und Hans Mayer, Peter Wapnewski und Carl Dahlhaus, John Deathridge und Egon Voss schufen die Grundlagen für einen kritischen Umgang mit dem dramatischen Schaffen, der Bühnenverwirklichung, dem Verhältnis von Ideologie und Kunstautonomie. Erst so lässt sich Wagners Kosmos ganz in seinen Tiefendimensionen ausloten.
Besser als das Sprechtheater ist die Oper vor Regie-Willkür geschützt.
Mit dieser Neudeutung korrespondierte 1976 Patrice Chéreaus Bayreuther „Ring“, der die langgesponnene Geschichte der Nibelungen als Märchen, als Mythos von Wagners eigener Epoche und als herausforderndes Gleichnis für jede Gegenwart inszenierte. Nach der Premiere wurden Chéreaus Chiffren – das Kraftwerk über der Urlandschaft des Rheins, Arnold Böcklins Toteninsel als Walkürenfels – als Hohn missverstanden und als Entweihung des Hauses wütend bekämpft. In der letzten Aufführung dauerte der Beifall für den Regisseur und den Dirigenten Pierre Boulez über eine Stunde! Nur der Fragment gebliebene Pariser Zyklus von Peter Stein und Klaus Michael Grüber beabsichtigte zur gleichen Zeit wohl Ähnliches: die konsequent die Entstehungszeit zitierende Vergegenwärtigung eines Mythos des 19. Jahrhunderts.
Seitdem ist Wagner zu einer Herausforderung des Regietheaters geworden, als müsste man ihn jeweils neu erfinden – aus seiner Biografie heraus, seinem gefährdet-gefährlichen Denken, seiner Wirkungsgeschichte. Heute tritt man der Erlösungsbotschaft in Wagners Dramen mit unbotmäßiger Skepsis gegenüber, und noch im Bühnenweihfestspiel des „Parsifal“ wird jene prekäre Größe des ungesicherten Modernisten sichtbar, die Charles Baudelaire schon 1861 in der Pariser Aufführung des „Tannhäuser“ spürte. „Er besitzt die Kunst“, schrieb Baudelaire, „in zarten Abstufungen alles wiederzugeben, was den geistigen wie den natürlichen Menschen über sich hinauslockt. Wenn man dieser glühenden, despotischen Musik lauscht, scheint es einem bisweilen, als sähe man, in die Finsternisse gemalt, traumzerrissen, die Schwindel erregenden Bilder wieder vor sich, die das Opium hervorruft.“
Die von Wagner beanspruchte zeitenthoben-zeitgültige Kunstwahrheit seines Werks, die Bayreuth zur Pilgerstätte der französischen Avantgarde gemacht hatte, dient dem Avantgardismus des frei aufblühenden Regietheaters seit den späten siebziger Jahren als Rechtfertigung. Etwa im Einbeziehen der Rezeptionsgeschichte und in der Gleichsetzung von Werkintention mit ideologischer Vorausdeutung auf das „Dritte Reich“. Da umkreist uniformiertes Wachpersonal Hundings Hütte, da präfigurieren die Mannen-Chöre der „Götterdämmerung“ Parteitagsaufmärsche, und in Düsseldorf erschießt Tannhäuser Gefangene im KZ des Venusbergs. Andere versuchen, die unheimliche Präsenz dieser so streng im 19. Jahrhundert verhafteten Riesenwerke für das heutige Publikum begreifbar zu machen.
Im Vergleich zum Sprechtheater ist die Oper besser vor jener Willkür geschützt, der die Vorlage von Wort und Handlung nur als Rohmaterial für die eigene Kunstentfaltung dient. Die bei Wagner auskomponierte Logik der musikalischen Gedankenführung sichert dem Geschehen auf der Bühne den beweglichen Zusammenhalt. Experimente kritischer Distanzierung – wenn zum Beispiel die Rede des Hans Sachs über die deutschen Meister vom Rest der „Meistersinger“-Partitur durch eine stirnrunzelnde Pause abgetrennt wird – bleiben bis jetzt die Ausnahme. Andere Formen der Selbstsalvierung des Regisseurs (Umgewichtung der Figuren, Parodie des dramatischen Vorgangs) haben sich auf der Bühne jeweils neu zu legitimieren.
Wagners unbedingter Anspruch auf die Wahrheit der Kunst.
In seiner Beethoven-Abhandlung schrieb Wagner 1870: „Wir wissen, dass nicht die Verse des Text-Dichters, und wären es die Goethes und Schillers, die Musik bestimmen können; dies vermag allein das Drama, und zwar nicht das dramatische Gedicht, sondern das wirklich vor unseren Augen sich bewegende Drama, als sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik, wo dann das Wort und die Rede einzig der Handlung, nicht aber dem dichterischen Gedanken mehr angehören.“ Das ist immerhin eine halbe Rechtfertigung auch des modernsten, dem Werk gegenüber widerborstigsten Regietheaters. Wir wissen, wie intensiv Wagner bei seinen Bayreuther Inszenierungen über jedes szenische Detail nachdachte, wie er sich unentwegt bemühte, den Widerspruch zwischen der vorwärts drängenden Aktion und dem verwobenen Netz der Motive und Leitmotive auszubalancieren. Und wie er nach neuen Bühneneffekten suchte, auch wenn er sich dabei immer wieder korrigieren musste. Für heutige Regisseure ist das Privileg und Last zugleich. Ein Privileg, weil der Theatraliker Wagner den Dichter wie den Komponisten Wagner dem szenischen Augenblick unterwirft und damit all seinen Nachfolgern die gleiche Herrschaft über das Werk einräumt. Eine Last, weil eben der Bühnenvorgang weithin vorbestimmt ist.
Was mit Hinweis auf die Wirkungsgeschichte politisch korrekt sein mag, kann sich folglich als undurchführbar erweisen, weil Wagner es nicht komponiert hat. Szenische Willkür ist tödlich bei einem Musikdramatiker, der die Solisten und den Chor im zweiten Finale der „Meistersinger“ so genau aufeinander abgestimmt hat, dass man nicht einen Lehrbuben in der Prügelfuge anders laufen lassen kann, als in der Partitur vorgesehen. Und Hans Neuenfels kann in seiner provozierenden, gerühmten Inszenierung des „Lohengrin“ die Rattenwelt als Metapher nur deshalb drei Akte lang durchhalten, weil er das Frageritual und die sich verschiebende Konstellation der Hauptfiguren mit höchster Eindringlichkeit bis zu Ende verfolgt.
Die Herausforderung durch Wagners unbedingten Anspruch auf die Wahrheit der Kunst ist seit seinen Lebzeiten die gleiche geblieben. Und sein Rivale Giuseppe Verdi fand die Voraussetzungen dieses Musikdramas so dubios wie nur je ein heutiger Anti-Wagnerianer. Aber Verdis Spätwerk ist ohne Wagner so wenig denkbar wie das jedes anderen Bühnenkomponisten seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Also doch: Wagner und kein Ende!?
Norbert Miller, Jahrgang 1937, lehrte von 1973 bis 2006 Literaturwissenschaft an der TU Berlin. Zum Thema verfasste er mit dem Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus das zweibändige Werk „Europäische Romantik in der Musik“, Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
Norbert Miller
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