Zum 90. Geburtstag von Pierre Boulez: Der durchsichtige Klang
Am Donnerstag wird der Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez 90. Was sagt sein langjähriger Freund und Wegbegleiter Daniel Barenboim über ihn?
„Pierre Boulez wird für mich immer ein Mann der Zukunft bleiben“, sagt Daniel Barenboim über seinen verehrten Freund, „ein richtiger Mann der Zukunft. Weil ein nicht-richtiger Mann der Zukunft entweder die Vergangenheit nicht kennt oder sich nicht für sie interessiert.“ Entwicklungslinien aber haben den Franzosen stets interessiert: Seine Kompositionen verleugnen ihre geistigen Ahnherren nicht, als Dirigent war er bestrebt, in den Partituren mit analytischen Mitteln den gedanklichen Horizont ihrer Schöpfer zu ergründen.
Vor über einem halben Jahrhundert haben sich Barenboim und Boulez zum ersten Mal getroffen. In Berlin, im gerade erst fertiggestellten Scharoun-Bau, musizierten sie 1964 mit den Philharmonikern, der eine am Klavier, der andere als Dirigent. Dabei hatte der im zentralfranzösischen Montbrison geborene Sohn eines Industriellen gar keine Karriere als Maestro angestrebt. Pierre Boulez wollte Komponist sein, studierte in Paris bei Olivier Messiaen, entdeckte die Zwölftontechnik für sich und begann im Avantgardetheater von Jean-Louis Barrault als Leiter der Bühnenmusik.
Boulez wusste, wann er radikal sein musste
Während er mit Werken wie „Le marteau sans maître“ seinen Ruf als Komponist begründet, etabliert er gleichzeitig eine Konzertreihe des 20. Jahrhunderts. „Die Zweite Wiener Schule hat dank Boulez ihren Platz im Musikleben gefunden“, ist Barenboim überzeugt. „Er wollte sich nicht damit abfinden, dass diese Werke nur für ein Fachpublikum geeignet seien. Zudem war er in der Lage, die Stücke mit einer klanglichen Durchsichtigkeit zu dirigieren, die man zuvor gar nicht für möglich gehalten hatte.“
Seine Spitzenstellung im französischen Musikleben nutzte Pierre Boulez stets auch, um Einfluss auf die Kulturpolitik zu nehmen. „Er wusste in seinem Leben immer genau, wann er radikal sein musste, weil es notwendig war“, erzählt Barenboim. „Zum Beispiel 1967, als er im ,Spiegel‘-Interview forderte: ,Sprengt die Opernhäuser in die Luft!‘, oder 1976 bei der Gründung des Ensembles Intercontemporain, das nur zeitgenössische Musik spielt. Aber er war nie dogmatisch, sondern in der Lage, sich zu entwickeln.“
"Ohne den ,Elias‘ wären wir viel ärmer"
„In den 80er Jahren“, erzählt Barenboim weiter, „kam er zu mir in die Garderobe, nachdem ich Bruckners achte Sinfonie dirigiert hatte, und sagte: ,Ich weiß nicht, was Sie an dieser Musik finden!‘ Ich antwortete: ,Wenigstens der Wechsel der Zweier- und Dreierrhythmen im langsamen Satz muss Sie doch reizen!‘ ,Ach was‘, entgegnete er, das hat Wagner im zweiten ,Tristan‘-Akt schon viel besser gemacht!‘ Aber 15 Jahre später hat er dann angefangen, Bruckner zu dirigieren. Als wir 2009 den Mahler-Zyklus in Berlin zusammen gemacht haben, wurde Boulez in einem Interview gefragt: ,Was reizt Sie an Mahler?‘ Und er antwortete: ,die Komplexität‘. Darum stellte er auch Schumann weit über Mendelssohn. Ohne Mendelssohns Violinkonzert, ohne den ,Elias‘ wären wir viel ärmer, aber die Musikgeschichte hat er nicht beeinflusst. Schumann schon.“
Dass Pierre Boulez sein Haus in Baden-Baden aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verlassen kann, um die Feiern zu besuchen, die ihm rund um seinen 90. Geburtstag an wichtigen Wirkungsstätten wie Salzburg, Luzern oder auch Berlin ausgerichtet werden, bedauert Barenboim zutiefst: „Noch im 86. Lebensjahr war er körperlich genauso beweglich wie geistig. Dann aber ist er 2013 in Frankfurt auf dem Flughafen gestürzt, hat sich die Schulter gebrochen, es aber nicht ernst genug genommen. Er kam im Dezember nach Mailand und hat dirigiert, aber er konnte sich kaum bewegen. Schließlich kam noch das Problem mit seinen Augen hinzu.“
Am 29.3., 18.30 Uhr, sendet Arte ein Boulez-Porträt von Enrique Sanchez-Lansch