Michael Blumenthal: Der Dabeigewesene
Die Besichtigung des Jahrhunderts: Michael Blumenthal hat seine Erinnerungen geschrieben.
Solche Art Abenteuer hätte sich der gute alte Jules Verne nicht träumen lassen, als er im fortschrittsbegeisterten 19. Jahrhundert seinen Phileas Fogg in achtzig Tagen um die Welt reisen ließ. Aber das 20. Jahrhundert hat anderes zu bieten als neue Überseedampfer und Elefantenritte. Michael Blumenthal, der sich mit dem Titel seiner Erinnerungen an den französischen Science-Fiction-Autor anlehnt, ist mit den über achtzig Jahren seiner Lebensreise ein staunenswerter Zeuge dafür: Flucht als Jude aus dem Deutschland des „Dritten Reiches“, Überleben in Schanghai unter erbärmlichen Bedingungen, dann der Aufstieg, durchaus nach dem amerikanischen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Modell, zum Botschafter, Finanzminister und erfolgreichen Industriemanager. Am Ende steht das Jüdische Museum in Berlin, das es so ohne ihn nicht gäbe.
Mit alledem ist Blumenthals Leben tatsächlich in vieler Hinsicht, wie er schreibt, ein „Spiegel der Höhen und Tiefen“ des vergangenen Jahrhunderts. Weshalb seine Erinnerungen gut auch – wie viele Memoiren – ein Leben und seine Zeit heißen könnten. Für Blumenthal gilt das jedoch in besonderer Weise. Denn er erzählt nicht nur von den Kehren und Stationen eines bemerkenswerten Lebens, sondern blendet immer wieder über auf die Zeit und ihre Wandlungen. Manchmal ein wenig zu weitschweifig – da kann man manches überschlagen –, aber immer bestimmt von Intelligenz, Urteilsfähigkeit und schreiberischem Charme. Wie überhaupt diese Autobiografie für sich einnimmt, weil uns Blumenthal in ihr als ein Autor von beeindruckender Aufgeschlossenheit und wacher Zeitgenossenschaft begegnet. Eine so lebendige und interessierte Besichtigung dieses Jahrhunderts, unseres Jahrhunderts, wie er sie liefert, muss man lange suchen.
Zum Beispiel Blumenthals Beschreibung seiner Kindheit in Berlin: Das ist, vielleicht nicht gerade Benjamin mit seiner berühmten Berliner Kindheit, aber sie gibt – jüdische Familienverhältnisse, Schulzeit, Verdrängung aus der Gesellschaft – eine überaus lesenswerte Abbreviatur der frühen dreißiger Jahre, in denen sich Ungeist und Gleichschaltung über eine immer noch attraktive Großstadt legten. Erst recht Schanghai, der Ort seines Erwachsenwerdens, der Züge einer dunklen Faszination gewinnt. Die Stadt in ihrer über alle europäischen Begriffe hinausgehenden Gegensätzlichkeit und Vielfältigkeit wird für Blumenthal – die Intensität der ihr gewidmeten Seiten bezeugt es – zur wichtigsten Schule des Lebens.
Doch den Grundton des Buches gibt Blumenthals Amerika-Erfahrung, mehr noch: sein unerschütterbares Amerikaner-Sein. Und auch da beeindruckt, wie er die eigene Geschichte und die des Landes zusammenzufügen sucht. Amerikas florierende Nachkriegsjahre und seine eigenen Anfänge sind gezeichnet als zwei Seiten eines prägenden Erlebnisses – angefangen mit der Ankunft, der der von den Zeitläuften herumgeschüttelte Flüchtling das Siegel seines Angekommen-Seins aufdrückt: „Nichts übertraf das wunderbare Gefühl, dazuzugehören“. Nicht anders erzählt Blumenthal von seiner Karriere. Und so vermischt sich die Managementerfahrung des jungen Volkswirts in einer Korkenfabrik und der 1961 gelingende Sprung in die Kennedy-Administration mit den Phasen des Kalten Krieges und den Verwandlungen der Zivilisation, eingeschlossen die Herstellung des ersten Kopiergeräts und das Auftreten von Elvis Presley.
Blumenthal war oft nahe dran an historischen Prozessen und arbeitete bedeutenden Gestalten zu, zumal in der Ära Kennedy und als Carters Finanzminister, doch das Buch bekommt nie den peinlichen Geruch von Namedropping. Auch solche Nähe bleibt aufgehoben in dem Patchwork von Person und Zeitgeschichte, von Ereignissen und Reflexion, das dem Buch die Färbung und die Fülle gibt. Blumenthals Wille, Herr des eigenen Schicksals zu sein, ist zusammen mit seinem Ehrgeiz und dem fröhlich bekannten Wunsch nach Gestaltungsmacht dafür der rote Faden. Doch getragen wird das Buch von einem sympathischen, humanen Ton und von einleuchtenden Urteilen, sei es über die – entscheidende – Rolle des Einzelnen im Regierungsapparat, sei es über Managementsstile, sei es über Personen.
Man lernt auch viel in dem Buch. Etwa über die amerikanische Binnengeschichte des letzten halben Jahrhunderts. Es versieht die Geschichte auch mit treffenden persönlichen Markierungen, die ihre Spannweite sichtbar machen. Zum Beispiel wenn Blumenthal, der China einst als Staatenloser verließ, persönlich die Flagge über der neu eröffneten amerikanischen Botschaft in Peking aufzieht. Oder wenn er bei der Feier der Wiedervereinigung im Dachrestaurant des Intercontinental von seinen Landsleuten mit der Frage bestürmt wird: „Nun, Mike, du kennst diese Deutschen besser als jeder andere von uns. Zweimal haben sie es schon vermasselt. Wird das jetzt … noch einmal passieren?“ Blumenthal ist verwirrt und antwortet ausweichend-hoffnungsvoll.
Dass Blumenthal im Zusammenhang mit der Gründung des Jüdischen Museums wieder nach Berlin zurückfand – womit er, wie er bekennt, nie gerechnet hatte – ist die Pointe dieser Biografie. Die späte, ganz zufällige Wendung ist umso auffälliger, als er zwar immer ein Auge auf Deutschland hatte – Blumenthal, ein entschiedener Demokrat, schrieb seine Dissertation über die Montan-Mitbestimmung –, aber dem Nachkriegsdeutschland mit spürbarer Distanz gegenüberstand. Nun steht am Ende des Buches ein mit großer Sympathie gezeichnetes Porträt des neuen Berlin. Man möchte es in dieser Stadt gerne als eine liebenswürdige Geste nehmen, Ausdruck auch dafür, dass sich damit – wie Blumenthal es selbst andeutet – in einem gelungenen Leben ein Kreis geschlossen hat.
– W. Michael Blumenthal: In achtzig Jahren um die Welt. Mein Leben. Propyläen Verlag, Berlin 2010. 570 Seiten, 24,95 Euro.
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