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Obsessiv: Crumb in einem Selbstporträt aus den 80er Jahren.
© Taschen

Comic-Biografie: Der Crumbathon

1344 Seiten umfassen die ersten sechs Bände der Skizzenbücher von Comic-Pionier Robert Crumb, die jetzt erschienen sind. Wer sie liest, „lernt so ziemlich jede dunkle Ecke meiner Seele kennen“, verspricht der Zeichner – ein Selbstversuch.

Seit Wochen steht ein Paket neben meinem Schreibtisch, etwa 30 Zentimeter hoch und 20 Zentimeter breit. Darin ein kleiner Schatz: Die Skizzenbücher von keinem Geringerem als Robert Crumb, dem Godfather der Underground-Comix. Zugegeben, es ist „nur“ eine Best-Of-Auswahl aus seinen Skizzenbüchern, aber die erste Kassette mit insgesamt 1.344 Seiten Crumb-Stoff reicht immerhin zurück bis ins Jahr 1982. Zum Verständnis der Zählung im weiteren Verlauf sei angemerkt, dass zunächst die Kassette mit den Bänden 7 bis 12 mit Zeichnungen aus dem Zeitraum von 1982 bis 2011 erschienen ist. Die gesammelten Bände 1 bis 6 mit den Skizzen der Jahre 1964 bis 1981 werden erst im Laufe dieses Jahres veröffentlicht.

Diese geballte Ladung sexualisierter, kontrastreicher, kantiger, fleischiger, surrealer, queerer, schroffer, ausdrucksstarker, hemmungsloser und oftmals nicht jugendfreier Zeichnungen hat mich in gleichem Maße magisch angezogen wie respektvoll auf Distanz gehalten. Mehrere Male habe ich das Paket auf den Tisch gehoben, neugierig-ehrfurchtsvoll nach den Bänden gegriffen und sie dann nach wenigen Minuten doch wieder weggestellt – stets von verschiedenen Fragen bewegt: Wie begutachtet man ein solches Werk? Stück für Stück oder am Stück? Beginnt man in der Vergangenheit und liest sich staunend der Gegenwart entgegen oder macht man es genau umgekehrt? Sucht man den Bezug zum Gesamtwerk oder löst man sich davon? Hält man nach den nie veröffentlichten Figuren und Geschichten Ausschau oder sucht man nach den Anfängen der typischen Crumb-Charaktere und -Stories? Versucht man Themenkreise zu finden oder lässt man sich einfach auf das zeichnerische Chaos dieses kongenialen Comicstars, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert, ein?

Nach einigem Hin und Her habe ich mich für die Verrücktheit entschieden, die 1.344 Seiten bzw. gebundenen 20,5 Zentimeter Crumb-Skizzen als Kompaktwerk anzugehen, mich darin gezielt von 1982 Richtung Gegenwart treiben zu lassen, die Augen offen zu halten nach bekannten und unbekannten Figuren und Ideen (es ist ja nicht so, als würde Crumbs Oeuvre nicht genügend bieten) und mich auf das Chaos namens Crumberland einzulassen. Diese Bezeichnung für den von Robert Crumb erfundenen Kosmos erscheint mir am passendsten, wenngleich der Meister selbst seinen zeichnerischen Kosmos „Crumbland“ nannte. Crumberland aber erinnert mich zugleich an Winsor McCays Comicklassiker „Little Nemo in Slumberland“, in dem Kindheitsträume und Fantasien eine ebenso große Rolle spielen, wie in Crumbs Universum. Nur dass Crumbs Fantasien nicht die von kleinen, sondern eher die von großen Jungs sind.

Es sei vorab bemerkt, dass sich dieses Experiment nicht nur als ein bildtextueller Marathon sondern auch als eine Herausforderung für Ausdauer und Auffassungsvermögen eines aufmerksamen Geistes erweisen sollte, an dessen Ende zwar kein Delirium, aber doch ein erschöpft-euphorischer Zustand der Versuchsperson stand.

„Wer sich durch die Hunderte von Seiten auf Gedeih und Verderb durchgewühlt hat, lernt so ziemlich jede dunkle Ecke meiner Seele kennen“, erklärte Crumb im Magazin des Taschen-Verlags vor dem Erscheinen seiner Skizzenbücher. Ich bin gespannt. Auf geht’s.

Wie stark spiegeln Crumbs Figuren sein Innenleben?

Männerfantasie: Ein Selbstporträt Crumbs von 1990.
Männerfantasie: Ein Selbstporträt Crumbs von 1990.
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Band 7 – Dezember 1982 bis April 1986
„NOBODY UNDERSTANDS… AND OF COURSE… HOW COULD THEY…“ Das geht ja gut los. Schon gleich zu Beginn die Ansage, dass den Kopf, in dem die hier fixierten Bilder und Gedanken entstanden sind, sowieso niemand verstehen könne. Ich lass mich davon nicht abschrecken, das ist bestimmt Taktik. Ich schlage diese Seite einfach ignorierend um. Und sofort ist man mittendrin im sexualisierten und schonungslosen Crumb-Kosmos. „I HOPE HE DOESN’T EXPECT ME TO SWALLOW IT…“ liest man in der Sprechblase der einen Unbekannten küssenden Schönheit. In Folge wird eine alte Putzfrau von einem zeitunglesenden Mann angeknurrt, ich erblicke Crumbs Ehefrau Alina im Porträt, dazwischen Notizen und Gedanken: „I MUST WITH-HOLD MY TRUE FEELINGS MOST OF THE TIME“, schreibt er etwa als „MR. HYPER-SENSITIVE“. Tatsächlich? Sind Crumb-Fans nicht längst mit den Fantasien des Amerikaners vertraut? Wir kennen sie alle, diese Walküren, deren selbstbewusste Fraulichkeit und unwiderstehliche Bildpräsenz entfernt an Helmut Newtons Ikonen erinnert.

Nach fünfundzwanzig Minuten Blättern, Schauen, Staunen, Schmunzeln, Lesen blicke ich auf einen Titelseitenentwurf für ein „FLYING EAGLE SKETCHBOOK“ mit einer schwebenden Frau darauf, beide Beine seltsam verrenkt. Frei im Raum zwei Kunststelen mit jeweils einem Frauenbein. Die Dekonstruktion des Weiblichen? Wer weiß. Wenn dem so ist, werden dem noch viele Beispiele folgen. Kurz vor der Einstunden-Marke stoße ich auf Crumbs Donald-Duck-Persiflage Porpy, ein klassische Musik liebender, jungfräulicher und verklemmter IT-Spezialist. Es folgen stark schattierte Tuscheskizzen von Bodybuilderinnen, bei denen der typische Crumb-Style deutlich wird: klare Konturen und deutliche Schraffuren, exponierte Rundungen und stark betonte Silhouetten. Darauf blättere ich zu Macky & Packy, ein mir bislang unbekanntes Ganovenpärchen. Ein Slapstick von Entwurf. Im Anschluss einige eng beschriebene Seiten, auf denen Crumb, in einem Café sitzend, seine Straßenbeobachtungen festhält. Eine typische Crumb-Situation.

Mitte 1984 verkehrt sich das Text-Bild-Verhältnis. Es finden sich nur noch wenige Zeichnungen, dafür viele Worte. Und als sich erste Ermüdungserscheinungen breitmachen, lese ich, dass Crumb am 22. Juli 1984 von Selbstzweifeln geschüttelt wurde. Er müsse die Einzelteile zusammenfügen, seine Kräfte bündeln, um voranzukommen. Doch er scheint nicht einmal genau zu wissen, was er machen soll: „HOW DO I EVEN KNOW WHAT MUST BE DONE?“. Mir fällt ein Interview ein, in dem Crumb gesteht, dass er meist in den Momenten gezeichnet habe, wenn er deprimiert gewesen sei oder sich deplatziert gefühlt habe. Nun ja, schon hier ahnt man, was er meinte.

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Ergraute Eminenz. Robert Crumb ist einer der wichtigsten Vertreter der Underground-Comic-Bewegung, die Mitte der 1960er aufkam.
© dpa

Das Weiterblättern macht deutlich, dass in solchen Krisen das stupide Weiterzeichnen Mittel zum Zweck wurde, um aus diesen Krisen herauszufinden. Crumb war sich dessen bewusst, entsprechende Anmerkungen am Bildrand, von denen ich in den kommenden Stunden zahlreiche finden werde, machen dies deutlich. Was zeichnet Crumb in seinen Krisen? Eine selbstironische Betrachtung des Vater-Tochter-Verhältnisses am eigenen Beispiel, zahlreiche Porträts von befreundeten Damen, seine Tochter Sophie in verschiedenen Situationen und zahlreiche Charaktere wie den nimmersatten, geifernden Mr. Grossmout, verschiedene Prädatorencharaktere, Tischdeckendämonen oder einen kleinen Typen mit hypnotischen Kräften. Insbesondere mit Tierköpfen versehene, menschenähnliche Figuren werden mir in den nächsten Stunden oft begegnen, meist in schlüpfrigen Situationen. Ist das eine Persiflage auf das Tier im Menschen, auf das animalische, das triebgesteuerte Wesen in uns? In der Novelle „Die Abenteuer von Wichita, Ratte und Tänzerin“ in der vor wenigen Wochen im Reprodukt-Verlag erschienenen „Nausea“-Ausgabe wird deutlich, was Crumb mit diesen Figuren vorhat.

Am Rand seiner Skizzen finde ich immer wieder Rezensionsauszüge zu seinen Comics, simple Beobachtungen, Zitate anderer Comiczeichner und eigene Gedankenskizzen. Nach etwa eineinhalb Stunden ein erster wiedererkennbarer Entwurf der „Psychopathia Sexualis“, den von Crumb grandios in Szene gesetzten Notizen des Arztes Richard von Krafft-Ebing (vollständig im „Nausea“-Band). Kurz darauf folgen Notizen zu einem ersten Storyboard der Umsetzung dieser Aufzeichnungen zu 238 Fällen von auffälligen Sexualzügen von Patienten des Dr. Krafft-Ebing, von denen Crumb für seine Adaption einige exemplarisch auswählte. Bemerkenswerterweise hat Crumb nicht einen einzigen Fall der hier notierten Beispiele comical umgesetzt. Er wählte für seinen Comic schließlich ganz andere Fälle aus, aber das Vorhaben, diese außergewöhnlichen „Psychopathia Sexualis“ ins Bild zu setzen, war wohl bereits beschlossen.

Ich blättere nun etwas schneller, überfliege manche Seiten, verzichte auf das detaillierte Studium einzelner Zeichnungen, sonst droht mein Crumbathon noch vor der ersten Versorgungsstation zu scheitern. Dennoch fällt mir auf, dass sich Crumb auf die Sprünge helfen lässt – von seiner Tochter Sophie. Er beginnt, Charaktere aus ihren kindlichen Zeichnungen für Funnie-Entwürfe zu kopieren. Ebenso treten verstärkt Spielereien mit typografischen Elementen in den Vordergrund. Crumb schenkt diesem Aspekt der Textgestaltung im Frühjahr 1985 erhöhte Aufmerksamkeit. Solche Phasen der Fokussierung auf die textuellen Elemente finden sich in den weiteren Bänden immer wieder.

Kurze Zeichenblockaden löst er mit der zeichnerischen Umsetzung ebendieser. Er malt eine hilflose Figur, lässt diese gestehen, dass sie nicht weiterweiß und scheint unterdessen schon das nächste Motiv gefunden zu haben. Oder er malt eine Karikatur seiner selbst, mit sich hadernd, und ein nörgelndes Schwein (Prufrock Piggy – man lese „Prufrock“ wie ein jiddisches Idiom und schon erhält dieser Name die Konnotation der Selbstvergewisserung, des Prüfens) als figurative innere Stimme daneben, das seine Zweifel beiseite wischt und ihn mahnt, sich zusammenzureißen.

Wie ernst kann ich eigentlich seine Figuren nehmen? Wie stark spiegeln diese Crumb und sein Innenleben? Es ist zwar kein Geheimnis, dass es ohne ihn weder die Undergroundcomics noch die autobiografischen Comics in der Form geben würde, aber ist deshalb jeder Strich ein Spiegel Crumbs? Ist Crumbs Zeichnen tatsächlich eine unablässige, „neurotische Selbstdarstellung“, wie Klaus Schikowski einst schrieb? Während mich diese Frage latent beschäftigt, gelang ich an eine Stelle, wo ich lese „MESSAGE TO MYSELF: DON’T LET WHAT HAPPENDED TO HARVEY KURTZMAN [Wegbereiter des Comics und Crumbs großes Vorbild, A.d.A.] HAPPEN TO YOU!!!“ Meine kurzen Zweifel an der autobiografischen Bindung dieser Zeichnungen haben sich erledigt.

Nach etwas mehr als zwei Stunden, am Ende des ersten Bandes, eine erhellende Doppelseite mit erotischen Bein- und Fußansichten im Pariser Winter. Noch war Crumbs Fetisch für Füße und stramme Waden kaum deutlich geworden, im Winter 1985/86 tritt er erstmals unwiderstehlich in den Vordergrund.

Bis zur Halskrause erregt

Alter Ego: Diese Farbzeichnung von Crumb gibt es signiert als Bonus zur Luxusausgabe dazu.
Alter Ego: Diese Farbzeichnung von Crumb gibt es signiert als Bonus zur Luxusausgabe dazu.
© Taschen

Band 8 – April 1986 bis Dezember 1989
Nach zwei Stunden und dreizehn Minuten greife ich zu Band zwei. Wenn das so weitergeht, dann dauert mein Experiment etwa dreizehneinhalb Stunden. Erste Zweifel machen sich breit. Ich brauche einen Kaffee, eine Nackenmassage wäre auch nicht schlecht. Die ersten Seiten des nächsten Bandes fliegen dahin. Sexuelle Fantasien von Figuren, die Amerikaner schlichtweg „weird“ nennen würden, also schräg, seltsam, ausgefallen, verrückt, ebenso angsteinflößend wie harmlos. Verdrehte, ausgemergelte, behaarte und faltige Figuren, deren Körper kaum mit typischen Proportionen ausgestattet sind. Unzählige Persönlichkeiten begegnen dem Betrachter dieser Seiten. Die surreale Kreativität kennt in Crumberland keine Grenzen. Auch die Perversität der crumbschen Charaktere tritt mehr und mehr in den Vordergrund, etwa bei dem den jungen Mädchen hinterhergeifernden Nachbarn oder den bis zur Halskrause erregten Crumb-Alter-Egos (bspw. Mr. Snoid oder Crumb als Sonnenkönig von Frankreich). Den Kontrapunkt setzt der moralinsaure Shmendrick, die Persiflage eines permanent meckernden, verklemmten Mannes jüdischer Abstammung. Dazwischen zahlreiche Studien und Porträts, an denen Crumb Gesichtsausdrücke und Kleidungsformen übt. Das Zeichnen von Kleiderfalten, von vielen unterschätzt, nimmt einen großen Raum in Crumbs Oeuvre ein. Und wenn man bedenkt, dass sich auch schon Leonardo da Vinci stundenlang mit den Falten von Stoffen auseinandergesetzt hat, dann ahnt man, welch hohen Anspruch Crumb an seine Comics legt. Ein Höhepunkt seines Könnens begegnet mir kurz vor der Drei-Stunden-Marke. Es sind die Porträts von Patientinnen aus der Irrenanstalt von Surrey County, die ebenfalls im „Nausea“-Band abgebildet sind.

Im zweiten Band befinden sich auch zahlreiche Erinnerungsbilder von ehemaligen Mitschülerinnen und Lehrerinnen Crumbs aus High-School-Tagen, einer Zeit, in der Crumb alles andere als beliebt war. Er hatte den Ruf des typischen Nobody: still, schüchtern, verklemmt, übersehen. Doch wer übersehen wird, kann durchaus genau hinsehen, wie man hier erkennen kann. Daneben stehen unzählige Porträts und Halbaktstudien von Personen aus Crumbs Umfeld, seine Partnerin und spätere Ehefrau Aline Kominsky, Carol Vinson, Dian Hanson, Liz, Missy, Teresa… Statt seiner verzerrten Fantasiegestalten halten zunehmend wohlproportionierte große Damen Einzug in Crumberland. Sie werden nicht neben andere auf eine Seite gequetscht, sondern haben die ganze Seite für sich. Crumbs Zeichnungen sind innere Verneigungen vor diesen überaus präsenten Damen, die seinem Idealbild entsprechen. „Mesomorph“ lautet die Bezeichnung, die Crumb den typischen Crumb-Figuren gibt. Sie sind nicht anorektisch („ectomorph“) und auch nicht adipös („endomorph“), sondern stark, stabil, muskulös, fleischig, groß – mesomorph eben.

Am 1. Oktober 1988 zeichnet er das Selbstporträt mit Pistole im Nacken, das sich koloriert auf der Umschlagseite des „Nausea“-Bandes befindet. Gleich danach die Entwürfe der crumbschen Maschinenmenschen, der Robopathen, die weniger physisch als vielmehr mental wie Maschinen agieren.

Erneuter Flashback! Weitere Porträts ehemaliger Mitschülerinnen, gefolgt von sexualisierten Strips und Zeichnungen. In den Hauptrollen walkürenhafte, „mesomorphe“ Frauen und lüsterne, abgewrackte Männlinge. Ein echter Aufreger angesichts dieser Dauerberieselung mit „sexotischen“ Altmännerfantasien (Bitte nicht falsch verstehen: Das ist alles künstlerisch großartig, nur die Überdosierung, die ich gerade erfahre, führt zu entsprechenden „Ausfällen“) sind die Erinnerungen an den im katholischen Internat gezüchtigten Robert Crumb. Der Sohn katholischer Eltern erlebte die Strenge des Internats. Was ihm davon in Erinnerung geblieben ist, kann man hier sehen. Ist seine sexuelle Fixierung auf diese Erfahrung der Züchtigung zurückzuführen?

Kurz vor der Vier-Stunden-Marke bin ich auf den letzten Seiten des zweiten Bandes angelengt. Die großformatigen Frauenstudien und der fast vollständige Verzicht auf Notizen haben meinen Crumb-Konsum beschleunigt. Bei vier Stunden und sechs Minuten schlage ich die letzte Seite um. Ich hebe meinen Blick. Eine schnelle Selbstvergewisserung, ein Blick auf die vier noch unangetasteten Bände, die nicht mehr ganz so monströs neben mir liegen. Wagemutig, fast siegessicher greife ich zum dritten Band.

Experimente, Dekonstruktionen, wilde Assoziationen

Schaffenskrise: Immer wieder thematisiert Crumb seine Blockaden.
Schaffenskrise: Immer wieder thematisiert Crumb seine Blockaden.
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Band 9 – Dezember 1989 bis August 1992
War mein triumphales Gefühl verfrüht? Wie ein Baseballschläger erwischt mich der erste Satz in diesem Band. „SURVIVAL IS A HARD WORK!“ Wem sagt er das. Aber schon Satz zwei lässt hoffen. „I JUST WANNA HAVE FUN ALL THE TIME…“. So geht’s mir auch, also weiter. Kleinere Strips ziehen sich über die ersten Seiten, die mit den verschiedensten Zeichnungen aufgefüllt sind, darunter unzählige Porträts und Halbporträts. Ein kreatives Tief will Crumb, so liest man es, mit Sex füllen. Einen ersten Versuch stellen der Akt von Betty Page (nach einem Foto) und zahlreiche Frauenstudien dar. „PRACTISE DRAWING OF ATTRACTIVE WOMAN“ nennt Crumb das. Klare Linien und intensive Schraffuren, die Wölbungen und Muskeln betonen, prägen diese Skizzen. Und immer wieder diese leichten Verschiebungen der Striche in den Augen- und Mundwinkelpartien, die die Gesichter minimal verändern. Es folgen surrealistische Experimente, Dekonstruktionen und wilde Assoziationen. Vielleicht trifft für diesen Teil Crumbs Aussage, er sei kein perfekter Zeichner und könne nicht ständig ideale Zeichnungen „raushauen“, am ehesten zu. Im Sommer 1990 taucht verstärkt Crumbs schräger Charakter Roman Dodo auf: ein spitznasiger, orientalisch anmutender Mann mit einer seltsamen wurmfortsatzähnlichen Kopfbedeckung. Wer den „Nausea“-Band aufmerksam in die Hand nimmt, findet ihn auch dort.

Vier Stunden und 39 Minuten: „I’M DISGUSTED WITH HUMANITY…“. Daneben die Zeichnung eines an die Wand geschlagenen Jesus Crumb, zu dessen Füßen eine Sommerparty steigt. „HEY, I’M DYING THERE“ brüllt dieser wie der Gekreuzigte leidende Crumb in einem Blocktext. Wenige Seiten später die Skizze eines zürnenden Gottes. Hat Crumb schon so früh über eine Bibeladaption nachgedacht? Erst 2009 erschien sein Band „Genesis“ (Carlsen). Ich halte die Augen nach diesen Gedanken stützenden Indizien offen.

Kurz vor der Fünf-Stunden-Marke habe ich noch nicht einmal die Hälfte des Bandes geschafft. Auffällig viel Text steht jetzt zwischen den Zeichnungen. Crumb experimentiert wieder vermehrt mit der Typografie von Texten. Auf einem seiner selbstreflektierenden Traumbilder lässt er sich als „CUTE LITTLE GENIUS“ anhimmeln. Kurz darauf eine Spielerei, ein Versuch, Walt Kellys Pogo-Welt neu zu beleben. Inzwischen wirkt das viele Hin und Her weniger kreativ als fahrig. Für den 18. Oktober 1990 notiert Crumb, dass er wieder ausgebrannt sei, ein Thema, das sich in diesem Herbst in den Skizzen und Entwürfen Crumbs halten wird. Die zeitgenössische Musik trägt, kaum zu übersehen, ihren Teil zum Unwohlsein des Künstlers bei. Zwei Noten stilisiert er sogar zu einem Hakenkreuz und spricht vom „Zeitalter des Rock’n-Roll-Faschismus“. Was wie immer hilft, ist zeichnen – und Tausendsassa Crumb macht genau das.

Es bleibt weiter wild und durcheinander, nicht nur was die Motive, sondern auch was die Stile betrifft. Eine zweiseitige Roman Dodo-Geschichte zur Selbstverwirklichung scheint das Motiv des Schaffens Crumbs in dieser Zeit zu sein. Die Seiten werden wieder bildlastiger, und mit den Bildern scheinen auch die Erinnerungen zurückzukommen. Nach fünf Stunden und 24 Minuten taucht Crumbs Erfolgsfigur der 1960er und 1970er Jahre erstmals auf. Mr. Natural steht neben einem schüchternen Mädchen auf einem Stück Brachland und mieft brummelnd vor sich hin. Kurz darauf erscheinen wieder zahlreiche Crumb-Amazonen, darunter Dian Hanson in jungen Jahren. Hanson ist Porno- und Männermagazinexpertin, Herausgeberin von Crumbs Werken und der Sexy Books bei TASCHEN. Crumb zeichnet jetzt wie manisch, immer weniger Tage vergehen und immer mehr Seiten füllt er mit Skizzen und Entwürfen. Ab Juni 1991 befand sich Crumb offenbar über Monate in einem zeichnerischen Rausch. Im Herbst ein Zwiegespräch mit Gott als Roman Dodo-Episode, die mit der warnende Aussage des Gottesauges schließt, es sei gefährlich, sich auf Kosten des Höchsten zu amüsieren. Im November die berühmte Zeichnung des am Skizzentisch sitzenden Zeichners, dessen Leser ihn aus dem Hintergrund anfeuern. Darunter der Kommentar „ACTUALLY, IT’S NOT THE WORST THING IN THE WORLD TO DO FOR LIVING…“. Kurz darauf Skizzen für eine erotische Bécassine-Story.

Im Frühjahr 1992 ergreift Crumb offenbar wieder eine Krise. Im Mai entwarf er einen autotherapeutischen Strip, in dem Sigmund Freud einem ausgemergelten und verzweifelten Robert Crumb erklärt, dass Depression eine Krankheit sei, bei der sich der Ärger nach innen richte.

Wie kriegt man seine Nerven in den Griff?

Zeitreise: Eine historische Tanzszene.
Zeitreise: Eine historische Tanzszene.
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Band 10 – August 1992 – Januar 1998
Fünf Stunden, 56 Minuten und schon Band vier von sechs in der Hand. Die Halbcrumbathonstrecke ist geschafft. Mit dem Ausruf „WE’RE LOST“ begrüßen mich sich selbst verschlingende Crumb-Gestalten. Und kurz darauf eine Skizze der berühmt gewordenen Szene, die sich am 25. Februar 1968 in San Francisco an der Ecke Haight Street – Ashbury Street abgespielt hat, als Crumb die erste Ausgabe seines ZAP-Comicmagazines verkaufte. Sie zeigt einen zerzausten, bemitleidenswerten Nerd inmitten einer Gruppe Hippies und anderer Zeitungsverkäufer. Enthusiasmiert ob dieser symbolisch aufgeladenen Skizze blättere ich entschlossen voran. Ganze Seitenentwürfe und abgeschlossene Szenerien wechseln sich mit wilden bekritzelten Seiten ab. Die Abstände der Daten, an denen Crumb zeichnet, werden wieder größer, wie auch die Textmenge im Verhältnis zum Bild. Zugleich häufen sich wieder die surrealen, abstrakten Zeichnungen, die manchmal zu explodieren scheinen. Dazwischen Skizzen von Alltagseindrücken, Nahaufnahmen, Porträts, Studien. Und erst jetzt, nach mehr als 700 Seiten begutachteter Crumb-Skizzen und Porträts wird mir der Sinn dieses ständigen Wiederholens von Gesichtern, Posen und Positionen deutlich. Durch das verschieben von Nuancen sucht Crumb nach Emotionen und Gefühlen, nach Atmosphäre und Schwingungen. Er ist zeichnend auf der Suche nach dem Unsichtbaren, um es sichtbar zu machen. Dabei entstehen derart intensive Szenen, dass zwangsläufig die emotionale Ebene des Betrachters angesprochen wird und sich dieser in die Figuren hineinversetzt.

6 Stunden, 47 Minuten: Crumb träumt vom Fliegen. Sitzt er gerade noch auf dem Rücken eines Helicopter-Girls, fliegt er einige Seiten später schon auf dem Rücken einer beflügelten Walküre. Dazwischen thront er auf den nach oben ausgestreckten Beinen von Dian Hanson und kann von ihren Stiefeln nicht genug bekommen. Neben einer Zeichnung von Patricia Pig, einer drallen Landfrau mit Schweinsnase in lasziver Pose, verewigt sich der „OINKER BOB CRUMB“ als hechelndes Schweinchen. Ein Schelm, wer sich dabei etwas denkt. Hohe Stiefel, große Oberweiten, dralle Formen – das sind die wesentlichen Elemente, die Crumb seinen Amazonen hier angedeihen lässt.

Am 10. Dezember 1995 zeichnet er sich als nackten, verhärmten Mann, den ein Strudel in die Tiefe zieht. „WHAT’S IT MEAN? IT MEANS: GET SERIOUS & QUIT FARTING AROUND!“. Die kreative Selbstgeißelung in neuer Gestalt. Wenige Seiten später Szenen aus „Mein geheimes Leben“ von Walter, einem englischen Reisenden auf der Suche nach sexuellen Abenteuern. Crumb scheint die Erzählung nie in Gänze umgesetzt zu haben. Während sich in den folgenden Bänden noch weitere Skizzen zur Walter-Story finden, sind im „Nausea“-Band nur die vier Tafeln - in etwas anderer Reihenfolge – abgedruckt, die sich in diesem Band 10 befinden. Sechseinhalb Stunden Crumb liegen inzwischen hinter mir, und vor mir präsentiert sich eine Doppelseite Comic-Strips mit Flakey Foot, Shuman the Human und Mr. Natural. Selbstzweifel und deren Kontrolle sind das große Thema. Wo ist der Sinn? Wie kriegt man seine Nerven in den Griff? Willkommen in der Autotherapie des Robert Crumb! Es häufen sich jetzt Seitenentwürfe für Comics, Kurzgeschichten und Episoden rund um Flakey Foot und Mr. Natural.

Im Juni 1997 zeichnet Crumb seine Ehefrau Aline Kominsky-Crumb erstmals nackt. Auf den vorhergehenden Seiten war sie unzählige Male im Porträt oder in einer Personenstudie festgehalten, dabei aber stets bekleidet. Ist das Ausdruck einer liberalen Eheführung oder eher Anzeichen von Crumbs grenzenloser Lust am Weiblichen?

Kurz darauf eine Studie, neben der Crumb das erste Mal vermerkt, mit welchem Material er gezeichnet hat. Es war ein „Japanese Brush Pen“, eine Art stiftähnlicher Pinsel mit langer, weicher Spitze, der Zeichnungen mit weichen Konturen ermöglicht. Schon vorher waren zahlreiche Zeichnungen mit Pinsel und Tusche ausgeführt. Der stiftähnliche Charakter dieses Malgeräts scheint für Crumb aber eine neue, bemerkenswerte Erfahrung gewesen zu sein.

Im Oktober 1997 ein Neuanfang („A FRESH START“). Crumb blickt in ein überdimensionales Auge, das ihn unmissverständlich auffordert, zu arbeiten: „DRAW, YOU BASTARD!“ Die Szene scheint Ausdruck einer erneuten Schaffenskrise, die sich auch auf den Folgeseiten niederschlägt. Wildes Kritzeln und Entwerfen, Notieren und Konzeptionieren, aber nichts will so richtig zusammengehen. Explodierende Köpfe seiner Figuren sind möglicherweise versteckte Symbole dafür, dass nichts zusammenpassen will? Kurz bevor ich den vierten Band abschließe finde ich einen ersten Entwurf für Auszüge seiner Geschichte „Böses Karma“, die sich in voller Länge im „Nausea“-Band befindet. Sie handelt von einem pickeligen, kleinwüchsigen Trottel, der sich erst in einer wüsten Landschaft, deren Untergrund aus körperlosen Köpfen besteht, verliert und schließlich in den Armen einer guten Fee aufwacht, mit der er sich später in einem exzessiven Akt vergnügen wird. Crumbs erste Skizze dieses ungleichen Paares lässt die Szenerie erkennen, die Figuren sind aber noch in einem groben Stadium. Ihre Gestalten fangen noch nicht ein. Dies wird sich bis zur finalen Version vollkommen ändern.

Kopf leer, Schritt voll

Retrofuturistisch: Auch Spielereien wie diese Zeichnung finden sich in den Skizzenbüchern.
Retrofuturistisch: Auch Spielereien wie diese Zeichnung finden sich in den Skizzenbüchern.
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Band 11 – Januar 1998 bis Juni 2002
Sieben Stunden und dreiundzwanzig Minuten. Mein Vorhaben geht an die Substanz. Die immer wiederkehrenden Porträts, autotherapeutischen Strips, Entwürfe von schrägen Figuren beginnen sich in meinem Kopf zu drehen. Selbst eine gehörige Portion Kaffee will gegen diese Ermüdungserscheinungen nicht helfen. Soll ich mein Projekt aufgeben, nach zwei Dritteln die Flinte ins Korn werfen? Ich gebe mir und Crumbs Skizzenbüchern noch eine halbe Stunde. Die ersten 40 Seiten fliegen dahin. Weitere Frauenstudien wechseln sich mit Text- und wild bezeichneten Seiten ab. Zwischendurch erneut ein mitfliegender Crumb, der in eindeutiger Pose zwischen den Schenkeln einer typischen Crumb-Amazone durch den Himmel steuert und sein Glück kaum fassen kann. Es folgen weitere Studien seiner Ehefrau sowie von Carol Vinson und Carol Engberg – kurz unterbrochen von einer Zeichnung der unsanften Landung des im Freiflug kopulierenden Crumbs einiger Seiten zuvor.

Kurz vor der Acht-Stunden-Schallgrenze eines normalen Arbeitstages hat sich meine Müdigkeit gelegt. Vielleicht liegt das auch an der Tatsache, dass es keine Grenzen für diesen gezeichneten „Nonsens“ gibt, wie Crumb selbst notiert. Und tatsächlich fliegt auch mich immer wieder der Gedanke an, dass dieser kaum zu greifende, kreative Irrsinn an Nicht-Konformität, der mir hier immer wieder unter die Augen kommt, ewig so weitergehen könnte.

Im Herbst 1998 beschäftigt sich Crumb mit dem Sterben. „I COULD DIE AT ANY MOMENT!“, denkt eine später Variante von Crumbs legendärer Figur Fritz the Cat in der Mitte des Bandes. Kurz darauf die erste finale Zeichnung des Trottels mit seiner guten Fee aus der „Böses Karma“-Story, in der die Skurrilität des Trottels und die intensive körperliche Präsenz der guten Fee schon bis ins Detail ausgearbeitet sind. 8 Stunden und 17 Minuten und mir begegnet der Entwurf der Geschichte des Zen-Lehrers Huang Po. Es folgen weitere Skizzen für Walters geheimes Leben, auf denen Crumb vorwiegend mit Details der Mode des 19. Jahrhunderts spielt. Seitenlang ziehen sich im Anschluss Entwürfe neuer Charaktere hin.

Im letzten Teil des fünften Skizzenbuchs finde ich eine Zeichnung mit dem sieben Energiezentren (Chakren) des Robert Crumb: „NOTHING HAPPENING“ steht auf Höhe der Kopfplatte. Hinter der Stirn herrscht „OUT OF ORDER“ bzw. „NOT IN SERVICE“. Am Adamsapfel verzeichnet er „VANITY, EGO, HALF-BAKED NOTIONS“, im Herzen herrscht „DEPRESSION, BITTERNESS, MORBIDITY“ und vor allem „SELF-PITY“. Vom Selbstmitleid im Herzen geht es hinunter zum Bauch, wo Furcht und Angst vorherrschen. Seine letzten beiden Energiezentren hat sich Crumb in den Schritt gezeichnet. Dort verzeichnet er, ich fasse zusammen sexuelle und anale Obsession, Perversion, Fetischismus und Sado-Masochismus. Kopf leer, Schritt voll, so das Bild, das er von sich zeichnet. Nun, ganz so einfach ist es nicht, wenngleich an der Fokussierung auf seine sexuellen Gelüste mit dem Energiezentrum Schoß sicherlich auch einiges dran ist. Zwei Zeichnungen einer lasziv nach hinten gelehnten, die Beine gespreizten Carol Vinson sowie die berühmt gewordene Skizze einer massiven Blonden, die begierig ist, zu zeigen, was sie kann („EAGER TO SHOW OFF WHAT SHE CAN DO…“) unterstützen diese Annahme.

Am Ende des vorletzten Skizzenbuchs befinden sich u.a. Entwürfe für einige Funny-Strips (Fuzzy & Bonny Bunny, Super-Duck, Mutilated Monkey Meat, einige Cow-Characters), die Skizze eines Sumerers, eine Jesus-Zeichnung, Entwürfe von Drei-Augen-Jungs, eine weitere Skizze aus der Serie „Mein Geheimes Leben“ von Walter und die Skizzen zweier Magier oder Hypnotiseure mit eindringlichem Blick. Was aus ihnen wurde, ich weiß es nicht. Der Band schließt mit einer „Pyramide des Bösen“ und der Frage, welche Position man auf dieser habe.

Was Crumbs Bilder einzigartig macht

Amazone: Crumb bevorzugt kräftige Kurven.
Amazone: Crumb bevorzugt kräftige Kurven.
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Band 12 – Juni 2002 bis März 2011
Okay, sind wir ehrlich. Das ist nicht nur das chronologisch letzte Skizzenbuch dieser Irrsinnsunternehmung von 45 Jahren „Crumbgekritzel“, sondern auch ein Abschluss, der wohl eher einen Abriss darstellt als einen Einblick in die Autoreflexion und Autotherapie des amerikanischen Zeichners. Die zusammengefassten Skizzen aus neun Jahren, abgebildet auf etwas mehr als 200 Seiten, ermöglichen maximal einen Über- als Einblick. Aber egal, los geht’s zur letzten Runde.

Ich starte bei 9 Stunden und 8 Minuten. Mich begrüßt die ganzseitige Ansicht eines Mädchens in einem Café in Montpellier, auf ihrem Pullover steht „BIG BANG“. Ich blättere an einer maskierten Aline, einer orientalischen Zitterspielerin, einen d’Artagnan-Verschnitt, Entwürfen von Gnomen und mittelalterlichen Zwergen sowie an skurril-verzerrten Selbstporträts vorbei, bis ich auf einen Entwurf für eine „Adam und Eva“-Geschichte stoße. Der Bibel-Stoff als Grundlage des „Genesis“-Bandes, der hier einige Seiten füllt, ist wieder da, wenngleich noch in einer Urfassung. Die Figurenentwürfe werden in Crumbs mit dem Pinsel gezeichneten Band deutlich düsterere Züge tragen. Zugleich finden sich aber schon recht konkrete Ideen; etwa die, der Schlange im Paradies figurative Züge zu geben und sie nicht einfach nur als schlängelndes Wesen zu entwerfen. Andere Skizzen, etwa die Erkenntnis Adams beim Anblick Evas und seine daraus folgende Erektion, hat Crumb später wieder verworfen. Auch seinen ersten Entwurf Gottes – hier ein hagerer Jüngling mit strahlenden Lichtaugen – hat er verworfen. Auch von der Idee, Gott als schwarze Frau zu zeichnen, ist er wieder abgekommen. Der Zeit gestand Crumb, dass sein schlussendlich entworfenes Gottesbild in der „Genesis“-Adaption einer Gottesfigur nicht einmal annähernd gerecht werde. Gott sei zum zeichnen einfach zu komplex, so Crumb. Eine weitere verworfene Fassung der Schöpfungsgeschichte sieht diese als skurrile Funnie-Version vor.

Parallel scheint sich Crumb mit einer Adaption eines Krimis von Dashiell Hammett beschäftigt zu haben und entwirft einige Typen im Stile der 1920er Jahre. Zugleich schreibt er die Walter-Story „Mein geheimes Leben“ fort.

Die Timeline zeigt zehn Stunden und 2 Minuten. Crumb zofft sich mal wieder mit seinem inneren Schwein(ehund). „SOMETIMES I’M TIRED OF MYSELF … CHRIST, I’M SUCH A FUCKING DREAMER!“ sagt Crumbs Alter Ego zu sich selbst und kickt das Crumb-Schwein Prufrock Piggy aus dem Bild, woraufhin dieses zurückschlägt. „IT’S A COMPLEX RELATIONSHIP“ lese ich die Selbsterkenntnis am Ende des Strips und muss schmunzeln.

In der Mitte des Bandes zahlreiche Aktzeichnungen, die nicht weiter betitelt sind. Vermutlich ist es eine schöne Unbekannte namens Raja, die Crumb im April 2004 gezeichnet hat. Auf diesen Seiten in der Mitte des Bandes finden sich auch zwei Skizzen von Playboy-Gründer Hugh Hefner und Pornoproduzent Russ Meyer im Kreise junger Damen. Eine Hommage? Kurz darauf eine Sensation vor dem Hintergrund des bisher Gesehenen. Crumb zeichnet das Porträt eines stotternden US-Präsidenten George W. Bush. Später folgen noch Porträts des Vize-Präsidenten Dick Cheney („A-TALKING-OUT-OF-THE-SIDE-OF-HIS-MOUTH-GUY“) und der Außenministerin der Zeit Condoleezza Rice („I’M AFRAID OF „CONDY“!). Es folgt ein Porträt des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il („I’M AFRAID TO HIM TO!“) sowie eine Szene aus dem berühmt gewordenen Folterskandal im irakischen Gefängnis Abu Ghraib mit Lynndie England in der Hauptrolle. Später greift Crumb in einer ganzseitigen Zeichnung auch die Hungerkatastrophe im Sudan auf. Es ist das erste Mal, dass er in seinen Skizzenbüchern auf Gegenwartsereignisse politischen Charakters reagiert. Zumindest das erste Mal in dieser Best-Of-Auswahl.

Zehn Stunden und 44 Minuten: Crumb schreib-zeichnet über mehrere Seiten einen Stammbaum seiner Familie, angefangen bei seinen Urgroßeltern Edwin Augustus Crumb und Calista Jane Campbell bis hin zu seiner Tochter Sophia Violet Crumb. Später wird er noch seinen nach diesem Entwurf geborenen Enkel Eli erwähnen. Im Crumb-Stammbaum greift der Amerikaner auch seine gescheiterte Ehe mit Dana Carol Morgan sowie seinen Sohn aus dieser Verbindung (Jesse David Crumb) auf. Es folgen Erinnerungsbilder an Frauen, die Crumb in den 1970ern begehrte, dazwischen erneut zahlreiche Charakterentwürfe. Darunter befinden sich bemerkenswerte Zeichnungen, etwa die eines Maya-Königs, eines indianischen Gnoms, eines demenzkranken Mannes, seiner Tochter Sophia, des Comiczeichners Wallace Wood sowie ein Jesus- und Gottes-Porträt („IT’S HARD TO CAPTURE GOD’S TRUE FACIAL EXPRESSION“).

Wertanlage: Die sechs Bände im Schuber kosten 750 Euro.
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© Taschen

Elf Stunden und 17 Minuten. Ich blättere durch die letzten Seiten. Zieleinlauf. Ein Selbstgespräch Crumbs mit einem Mr. Asshole („I HATE YOU SO MUCH!!“), ein in Prometheus-Manier aufgespießter Robert Crumb, der sich vornimmt, von Richard Rothmans „World of Pain“ zu lernen, eine tobende Figur im Stile Harvey Kurtzmans, zwei sensible Skizzen von Aline, zwei Titelseitenentwürfe für „CRAZY FOOL COMICS“ und „SILLY FOOL COMICS“. Und dann eine leere Seite…

Nach elf Stunden und 23 Minuten bin ich am Ziel meines Crumbathons angekommen. Es fühlt sich tatsächlich in etwa so an, wie nach einem Marathon. Ich bin ebenso erschöpft wie erfüllt. Aber zugleich habe ich doch eines begriffen: Dieses ständige, hochgradig manisch-neurotische Zeichnen, das Wiederholen und nuancierte Verschieben von Details dient Crumb dazu, die Wirkung einzelner Striche auf den Leser nachvollziehen zu können. Dieses ständige Üben und Überprüfen macht es ihm bis heute möglich, pointierte und treffende Bildgeschichten zu entwerfen, die einfangen und nicht mehr loslassen. Zugleich ruft er mit dem kontrastiven Zusammenspiel von Text und Bild die Wirkung hervor, die seine Leser schockiert und überrumpelt. Seinen Zeichnungen verpasst er so die Einzigartigkeit, die sie zu typischen Crumb-Bildern machen.

Diese Best-Of-Zeichnungen präsentieren (neben den zwischen 1981 und 1997 im Verlag Zweitausendeins publizierten Skizzenbüchern) einen einmaligen Einblick in das gezeichnete Universum Robert Crumbs. Eine reduzierte und ausgewählte dafür aber erschwingliche Version einiger der darin versammelten Zeichnungen und Entwürfe präsentiert der Reprodukt-Verlag in seinem „Nausea“-Band und demnächst in dem zweiten, das Crumb-Werk erschließenden Band „Mein Ärger mit den Frauen“, den Fans des exzessiven Amerikaners unbedingt auf dem Schirm haben sollten. Ach ja, und dann erscheinen ja noch die Skizzenbücher von 1964 bis 1981 bei Taschen – aber eben leider nur für eine ausgewählt erlauchte Leserschaft.

Bleibt zu hoffen, dass diese in ein paar Jahren in einer weniger aufregenden, erschwinglicheren Version erscheinen, wie dies auch bei anderen hochpreisigen Werken aus dem Verlag der Fall ist.

Robert Crumb. Sketchbooks 1982-2011, Taschen, Hardcover, 6 Bände im Schuber und Print im Portfolio, 20,5 x 27 cm, 1344 Seiten, 750 Euro. Eine Leseprobe gibt es unter diesem Link.
Robert Crumb: Nausea, Reprodukt, 112 Seiten, aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt, Handlettering von Michael Hau, Dieter Kerl und Olav Korth, 29 Euro. Mehr über die bei Reprodukt erscheinenden Crumb-Werke unter diesem Link.
Der Dokumentarfilm „The Confessions of Robert Crumb“ findet sich unter diesem Link.

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