Cannes-Tagebuch (1): Der Cannes-Eröffnungsfilm sorgt für Ratlosigkeit
Cate Blanchett leitet die Cannes-Jury präsidial, aber diplomatisch. Der Eröffnungsfilm "Everybody Knows" von Asghar Farhadi verbindet Glamour und Autorenkino.
Jury-Pressekonferenzen sind immer eine gute Gelegenheit, um gleich zu Beginn eines Filmfestivals ein paar Punkte auf die Agenda zu setzen, die die Medien so lange beschäftigen, bis das Großevent Betriebstemperatur erreicht hat. Im vergangenen Jahr verkündete Jury-Präsident Pedro Almodóvar, dass er es als Kino-Liebhaber nicht übers Herz brächte, eine Netflix-Produktion auszuzeichnen. Seitdem hat die Debatte um den Streamingdienst die absurdesten Blüten getrieben.
Die diesjährige Jury-Präsidentin Cate Blanchett laviert sich während der Pressekonferenz am Dienstag entschieden diplomatischer durch ein Minenfeld an kritischen Fragen. In einem Punkt hat sie allerdings Recht: Sie kann nicht die Versäumnisse der Vergangenheit ausbügeln. Immerhin weiß sie die Fragen präsidial zu delegieren. Als das Gespräch auf die MeToo-Debatte kommt, blickt sie kurz in die Runde: “Gentlemen?” Denis Villeneuve, in der Jury der einzige männliche Regisseur mit Hollywood-Anbindung, scheint sich fast etwas überrumpelt zu fühlen, so hastig ringt er um die richtigen Worte. Aber Cate Blanchett lässt den Kollegen nicht im Regen stehen: “Wir müssen konkrete Veränderungen treffen und uns nicht mit Generalisierungen aufhalten.”
Die diesjährige Jury ist allerdings selbst schon eine Ansage – fast scheint, als wolle man den Mangel an Starpower im Wettbewerb kompensieren. Neben Blanchett und Villeneuve sitzen auf dem Podium Kristen Stewart, Léa Seydoux, die Regisseurin Ava DuVernay, der taiwanesische Star Chang Chen, der französische Regisseur Robert Guédiguian, die burundische Sängerin Khadja Nin und der russische Regisseur Andrei Swjaginzew. Typisch Cannes, möchte man denken: Keinem anderen Festival gelingt es so lässig, alle Diversitätsanforderungen zu erfüllen und dabei noch so blendend auszusehen. Man muss es nur wirklich wollen.
Mit Asghar Farhadi eröffnet ein alter Bekannter das Festival
Am ersten Tag haben die vier fünf Jurorinnen und vier Juroren noch einen relativen leichten Job. Der Eröffnungsfilm “Everybody Knows” von Asghar Farhadi ist ein Leichtgewicht, gemessen an den früheren Filmen des iranischen Regisseurs und zweifachen Oscar-Gewinners. Er erweist sich aber auch als perfekter Köder fürs Cannes-Galapublikum, mit Penélope Cruz und Javier Bardem in den Hauptrollen und vor den sonnendurchfluteten Kulissen Südspaniens. Glamour und Autorenkino, die Mischung zieht an der Croisette immer. Wahrscheinlich war es aber auch tatsächlich eine gute Entscheidung, die Vorführungen für die Presse in diesem Jahr erstmals parallel zur Gala-Premiere zu legen, denn in der Fachpresse herrscht nach dem Film allenthalben Ratlosigkeit.
Dabei enthält “Everybody Knows” alle bewährten Zutaten eines Farhadi-Films: eine komplexe Familiengeschichte, detaillierte Beobachtungen von sozialen Dynamiken, moralische Verwicklungen, die zu tragischen Fehlentscheidungen führen und im Zentrum ein Geheimnis, das die Beteiligten im Modus eines procedurals (in Farhadis bestem Film “Nader und Simin” ist dies eine Gerichtsverhandlung) langsam auflösen. Nach vielen Jahren kehrt Laura (Cruz) mit ihren zwei Kindern aus Argentinien in ihr spanisches Heimatdorf zurück, um die Hochzeit der Schwester zu feiern. Die Familiendynastie ist nicht mehr dieselbe, der ehemalige Vorarbeiter Paco (Bardem) hat die Weinplantage des alten Patriarchen übernommen, dessen Neffe hat ein Auge auf Lauras Teenagertochter Irene geworfen.
Familiengeheimnisse unter spanischer Sonne
“Everybody Knows” enthüllt sukzessive ein Geflecht von Geheimnissen und Wendungen – und ganz sicher einige zu viel. Die erste Enthüllung nach knapp zwanzig Minuten fungiert als Ouvertüre für den immer komplizierteren Plot: Laura und Paco waren einmal ein Paar. Als während der Feierlichkeiten Irene spurlos aus ihrem Zimmer verschwindet, bekommt diese Information plötzlich ein völlig anderes Gewicht – wie auch die Nachricht, dass Lauras argentinischer Ehemann hochverschuldet sein soll.
Farhadi ist ein ausgezeichneter Ensemble-Regisseur und eigentlich auch ein kluger Drehbuchautor, der es versteht, soziale Konflikte aus oberflächlich betrachtet moralischen Fragen herauszuarbeiten. Aber in seinen iranischen Filmen funktioniert das deutlich besser als in “Everybody Knows”, seiner ersten spanischsprachigen Produktion. Im Transfer nach Europa verpufft sein unbestechlicher Zugriff auf die Wirkungsweisen von gesellschaftlichen Dynamiken. So zerfällt der Film, nachdem man verstanden hat, dass das Verschwinden Irenes keine dramaturgische Wendung, sondern schon die eigentliche Geschichte ist, etwas hilflos in zwei Teile: eine Familien-Soap, deren spanische Telenovela-Melodramatik mitunter unfreiwillig komisch wirkt, und einen Krimi-Plot, dessen Genre-Mechanik Farhadi in seiner reinen Form leider auch nicht beherrscht. Auch die hilflosen Versuche der Hobby-Detektive entbehren nicht einer gewissen Komik.
Eine praktische Anleitung fürs Inferno
Ein anderer Regisseur, der seine Themen ständig neu variiert, ist Sergei Loznitsa. Sein Film “Donbass”, der die Reihe “Un Certain Regard” eröffnet, spitzt seine schlechte Laune über seine Heimat Russland, der er in der Tour de Force “Die Sanfte” (seit Donnerstag in den deutschen Kinos) zuletzt noch ein paar Spritzer Galligkeit beimischte, auf phänomenale Weise zu. “Eine praktische Anleitung fürs Inferno“ nennt Loznitsa seinen Film, der in einer namenlosen Gegend in der Ostukraine angesiedelt ist und in seiner manischen, stellenweise farce-haften Energie einem absurden Theater gleicht. Eine fortlaufende Handlung gibt es wie in allen Spielfilmen Loznitsas nicht, nur wiederkehrende Motive (Korruption, Fremdenfeindlichkeit, Machtmissbrauch, Gewalt, Tod) und die Gewissheit, dass der Krieg, dessen Fronten selbst für die Beteiligten nicht mehr kenntlich sind, jede Moral aushebelt. Manchmal wünscht man sich bei Loznitsas Filmen detailliertere Kenntnisse der russischen Politik. Denn bei allem Furor ist in seinen szenischen Miniaturen eine Spezifik erkennbar, die “Donbass” Dringlichkeit verleiht.
Auch die Nebenreihe "Quinzaine des Réalisateurs" eröffnet mit einem bemerkenswerten Film: "Pájaros de Verano" (Birds of Passage) des kolumbianischen Regie-Duos Cristina Gallego und Ciro Guerra. Guerra war für seinen letzten Film "Der Schamane und die Schlange", der einen amerikanischen Anthropologen tief in das spirituelle Zentrum des Regenwaldes führte, für den Oscar nominiert. "Pájaros de Verano" macht nun etwas Ähnliches mit dem Gangsterfilm. Um die Mitgift für seine Braut aufzubringen, muss der indigene Tagedieb Rapayet in den lokalen Drogenhandel einsteigen. Anfang der Siebziger kämpfen die Amerikaner in Südamerika noch gegen den Kommunismus, der "Krieg gegen Drogen" ist in weiter Ferne.
Rapayet beschäftigen viel mehr die Traditionen seines Stammes, Clan-Rivalitäten und die Weissagungen seiner schamanischen Schwiegermutter. Aber ist die Gefahr des Kommunismus auf der staubigen kolumbianischen Hochebene erst gebannt, bricht sich der Kapitalismus Bahn. Mit tödlichen Folgen. Gallego und Guerra beherrschen ihr Genre deutlich besser als Farhadi, sie haben naheliegende Vorbilder wie "Scarface" oder "City of God" von den Aufsteigermythen befreit. Die soziale Mobilität der indigenen Clans, die sich immer tiefer in den Drogenverkehr verstricken, verläuft nicht top-bottom, sondern quer durch die Stammestraditionen und die Welt der Schamanen. Und denen ist auch mit automatischen Waffen nicht beizukommen. Als auf dem Hochplateau schließlich wieder Ruhe herrscht, übernehmen die Profis aus Medellín die Geschäfte.
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