Harry Graf Kessler: Der Blick ins Innerste
Mäzen, Verleger, Diplomat und Beobachter: Harry Graf Kessler hielt in seinen Tagebüchern die Widersprüche seiner Zeit fest.
„Querkopf! modern, total verdreht“ kritzelt Kaiser Wilhelm II. an den Rand eines Dossiers über Harry Graf Kesslers Aktivitäten. Die Antipathie beruht auf Gegenseitigkeit. Genüsslich notiert der Graf, was ihm Max Liebermann unter vier Augen anvertraut: „Der Kaiser? Na, der ist doch verrückt. Zweifeln Sie daran?“
Harry Graf Kessler protokolliert den Wortlaut, als habe er ein Mikrofon in der Westentasche seines feinen Anzugs versteckt. Seine Verachtung hindert ihn nicht daran, auf den Berliner Hofbällen zu tanzen und sich makellos gesellschaftsfähig durch die wilhelminische Elite zu bewegen: quecksilbrig, amüsant und amüsiert, immer für ein geschliffenes Bonmot gut und immer fasziniert davon, die Mechanismen gesellschaftlichen Miteinanders zu observieren. Dass er sich Nacht für Nacht über sein in Saffianleder gebundenes Tagebuch beugt, ahnen die Porträtierten nicht. Niemand blickt der Gesellschaft um und nach 1900 so scharfsinnig ins Innerste wie der 1868 in Paris geborene Harry Clément Ulrich Kessler. Aber er kann sich auch über die brutalen Arbeitsbedingungen der Männer im Maschinenraum eines Luxusdampfers aufregen oder die „Kinderhölle in Berlin“ nach dem Ersten Weltkrieg anprangern.
Aufgewachsen war der geborene Grenzgänger in finanziell bestens abgepolsterten Verhältnissen. Seine hinreißend schöne Mutter, die er vergötterte, stammte aus irischem Adel und war in Bombay aufgewachsen. In Paris trat sie im eigenen Privattheater als Sopranistin auf. Der Vater, ein Hamburger, machte in Paris rasant erfolgreich Karriere als Bankier und agierte seinen Leistungswillen auch auf Bergtouren mit selbst gebasteltem Schrittzähler aus. Die Rastlosigkeit, nicht aber den Wunsch zum Nochmehr-Geldverdienen erbt der Sohn. Als er elf Jahre alt ist, wird die Familie geadelt. Internate in Frankreich, Ascot und Hamburg sowie sein Jurastudium absolviert der dreisprachig parlierende Sprössling lässig und hängt noch Kunstgeschichtsstudien dran. Ein Jahr dient er als Rittmeister beim kaiserlichen Eliteregiment in Potsdam. Mit Damen tanzt er, aber er liebt sie nicht.
Statt selber Kunst zu schaffen, wird Kessler sie finanzieren und inspirieren
Schon als Kleinkind hat er London und New York gesehen. Mit 23 Jahren schifft Harry Graf Kessler sich zu einer siebenmonatigen Weltreise ein. Millionenstädte, Wildnis, Tempel, Sonnenuntergänge: „Warum kann ich was ich bei einem solchen Schauspiel empfinde nicht in Worte fassen. Ich fühle oft als sei ich ein blinder Maler oder ein händeloser Klavierkünstler.“
Statt selber Kunst zu schaffen, wird Harry Graf Kessler sie finanzieren und inspirieren. Zunächst zieht es ihn nach Berlin, wo er sich 1895 für das Projekt der neuen, modernen Kunstzeitschrift „PAN“ begeistert. Auch der Norweger Munch ist neu in der Stadt, hat mit seinen Bildern prompt einen Skandal provoziert. Der Graf, immer neugierig auf aktuelle Kunst, besucht den Mittellosen in seiner Bude, vier Treppen hoch, und ist bereit, ihn zu unterstützen, obwohl er seine Werke „wenig sympathisch“ findet. 1906 malt ihn Munch als charismatischen Dandy, in Ganzfigur und expressiven Tönen. Zu der Zeit lebt Kessler bereits in Weimar. Er will die verschlafene Residenz zu einem modernen Kunstzentrum machen, holt den belgischen Jugendstildesigner Henry van de Velde an Bord und organisiert als Museumsleiter 40 Ausstellungen in drei Jahren: Cézanne und Monet, Kandinsky und Gauguin stellt er vor.
Das Publikum bleibt skeptisch bis ablehnend. Ein Skandal um vermeintlich unzüchtige Rodin-Aquarelle beendet das Weimarer Abenteuer. Fortan wird Berlin zur Hauptwirkungsplattform. In seiner von van de Velde eingerichteten Wohnung Köthener Straße 28, wo Neoimpressionisten die Wände zieren, trifft man ihn seltener als in Expresszügen und Hotels, auf Vernissagen und Premieren, Diners und Soireen. In täglichen Tagebuchnotizen postet er, wie ein Blogger avant la lettre, was er zwischen Berlin, Paris und London erlebt. Aber er gibt es nicht an die Öffentlichkeit. Er hortet seine Impressionen auf 15 000 eng beschriebenen Seiten, darin erwähnt: 12 000 Personen.
Die Ausgaben seiner Cranach-Presse betreute er bis aufs I-Tüpfelchen
Sein Meisterwerk schuf der Ästhet, wie er selbst fand, als Verleger bibliophiler Bücher. Die exquisiten Ausgaben von Shakespeare, Vergil und Rilke, die seine Cranach-Presse herausbrachte, betreute er buchstäblich bis aufs I-Tüpfelchen, ließ dafür eigene Schrifttypen schneiden und Büttenpapiere schöpfen.
Seinen Elan, die Welt durch Kunst zu verbessern, stoppt der Erste Weltkrieg. Nach Fronteinsätzen in Belgien und in den Karpaten will Kessler ab 1917 nur noch Frieden stiften. Aber er kann als Kulturbeauftragter in Bern wenig bewirken, ebenso wie kurz vor Kriegsende als Diplomat in Warschau. Immer schon liberal, geht Kessler als überzeugter Demokrat, Pazifist und Völkerbund-Vorkämpfer aus dem Krieg hervor. Doch der Versuch des „roten Grafen“ und Freunds von Walther Rathenau, sich 1923 in den Reichstag wählen zu lassen, misslingt.
Fortan bleibt Harry Graf Kessler, was er schon immer war, ein brillanter Beobachter. Was das Berlin der Zwanziger ausmachte, mit Josephine Baker und Albert Einstein, Bertolt Brecht und George Grosz, Erwin Piscator und Erich Mendelssohn: In den klugen, vorurteilslosen Tagebuchnotizen von Harry Graf Kessler lässt es sich nachlesen.
Als im Februar 1933 der Reichstag brennt, weiß Kessler, was er zu tun hat. „Der Staat soll ein komfortabler Stall werden, in dem alle gehorsamen Haustiere sich wohl fühlen und sich bei Bedarf artig schlachten lassen. Ich wüsste nicht, welche Konzeption mir entwürdigender und verhasster sein könnte.“ Er reist mit dem Nachtzug ab.
Lesen Sie hier mehr zur Ausstellung "Harry Graf Kessler - Flaneur durch die Moderne", die bis zum 21. August 2016 im Max Liebermann Haus am Brandenburger Tor zu sehen ist.
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