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Dagmar Schellenberger und die Seefestspiele Mörbisch: "Der Bettelstudent": Erst Küsse, dann Klatsche

Die Seefestspiele in Mörbisch am Neusiedler See wollen sich mit Bregenz messen. Die Intendanz hat ausgerechnet eine aus dem Norden übernommen: Dagmar Schellenberger, einst gefeiertes Ensemblemitglied der Komischen Oper. Jetzt hat sie ihre erste Premiere hinter sich: Carl Millöckers „Bettelstudent“.

Natürlich sind die Leute auch der Musik wegen da. Aber, mal ganz ehrlich, geht es bei Mega-Open-Airs nicht in erster Linie um eine Selbstfeier der Gleichgesinnten? Ob beim Rockspektakel im dänischen Roskilde oder beim größten Operettenfestival der Welt im österreichischen Mörbisch – es ist die Vorfreude aufs Gemeinschaftserlebnis, die Lust an der Zusammenballung, die die Massen berauscht, schon bevor der erste Ton erklungen ist. Wir sind hier, um kollektiv Spaß zu haben. Und dazu dröhnt der Soundtrack unseres Lebens aus den Verstärkerboxen. Das kann wahlweise Pop sein, Heavy Metal, romantische Oper oder auch einfach nur die leichte Muse. Aber die alten Hits müssen dabei gespielt werden, um die sich so viel persönliche Erinnerungen angelagert haben.

Darum beginnt Dagmar Schellenberger ihre Intendanz in Mörbisch jetzt auch mit Carl Millöckers „Der Bettelstudent“. Einem Klassiker der Wiener Operette von 1882, bei dem fast jeder der 6000 Zuschauer auf den Rängen mindestens eine Melodie mitsummen kann: „Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst“, „Ich setz den Fall“, „Der Polin Reiz ist unerreicht“. Zum Jubelfinale gibt’s dann Feuerwerk, kunterbunt angestrahlte Wasserfontänen und glückliche Gesichter. Nicht nur bei der von viel österreichischer Politprominenz besuchten Premiere am Donnerstag, sondern nach jeder der 29 Vorstellungen bis zum 24. August.

Dass die Operette, dieses gerne als Flachware geschmähte Genre, ausgerechnet am seichtesten See Europas ihre sommerliche Heimstatt gefunden hat, entbehrt nicht der Ironie. So weit das Auge reicht erstreckt sich der kaum zwei Meter tiefe Neusiedler See, Mittelpunkt des Burgenlands – jener schon immer bäuerlich-ärmlichen Region südöstlich von Wien, die nach 1945 zum hinterletzten Zipfel Österreichs vor dem Eisernen Vorhang wurde. Nur ein paar hundert Meter entfernt beginnt Ungarn, liegt der Ort, wo im Sommer 1989 jenes legendäre paneuropäische Picknick stattfand, bei dem für drei Stunden die Grenzen geöffnet waren – was hunderte DDR-Bürger zur Flucht nutzten. Auch damit begann das deutsch- deutsche Happy End.

Dagmar Schellenberger, gebürtige Sächsin, in der Ära Harry Kupfer ein Star im Ensemble der Komischen Oper Berlin, hat 2004 in Mörbisch die Titelrolle in Kálmáns „Gräfin Mariza“ gesungen, im Jahr darauf war sie Lehárs „Lustige Witwe“. Nun soll sie dem 1956 begründeten Festival einen neuen Dreh geben. Ohne das Stammpublikum zu verschrecken. Eine Frau, berufliche Quereinsteigerin und dazu noch Piefke – da schlugen die Wellen natürlich erst mal hoch im Heimatland der Operette. Und auch Vorgänger Harald Serafin, der trotz seiner 82 Jahre gerne noch weitergemacht hätte, war sich nicht zu schade, öffentlich zu stänkern.

Ein Coup: Dagmar Schellenberger hat den Panorama-Künstler Yadegar Asisi verpflichtet

Mit der „Bettelstudent“-Premiere allerdings hat Dagmar Schellenberger jetzt allen gezeigt, dass sie’s kann. Die musikalische Qualität der Aufführung ist beeindruckend. Operette ist ja kein leichtes Genre. Weil alles auf der Bühne unbedingt leicht wirken muss. Weil die Sänger szenische Präsenz brauchen, gerade auf einer 3500-Quadratmeter-Seebühne. Prachtvolle junge Stimmen kann die neue Intendantin aufbieten: Henryk Böhm macht den eigentlich so unsympathischen Polterer Ollendorf zum komödiantischen Zentrum des Abends, als seine bettelstudentischen Gegenspieler können Mirko Roschkowski und Gert Henning Jensen mit leidenschaftlich tenoralem Glanz prunken. Und Cornelia Zink, die als Laura den ganzen dreiaktigen Trubel auslöst, weil sie Ollendorf eine Klatsche verpasst, als der sich einen Kuss stehlen will, überstrahlt all die machohaften Rangeleien mit leuchtendem Unschuldssopran.

Mit einem Festspielorchester, das sich vor allem aus Wiener Musikern rekrutiert, sorgt Uwe Theimer für den nötigen Mazurkaschwung in den Massenszenen. Vor allem aber nimmt er sich auch die Zeit, um die lyrischen Schönheiten der Partitur sensibel auszuleuchten – manchmal sogar mutig viel Zeit für ein Freiluftspektakel. Dass er und die Musiker dabei nicht mehr in einer Betonwanne unter der Spielfläche sitzen müssen, sondern aus dem neuen Orchestersaal hinter der Publikumstribüne zugespielt werden, macht diese klangliche Detailarbeit möglich. Abgeschaut hat man sich das beim großen Festivalbruder in Bregenz, auch die für 6,5 Millionen Euro errichteten Wandelhallen in ihrem zackigen Betongewand erinnern sehr an die Foyerbauten vom Bodensee. Einen Akzent dagegen will die Intendantin mit der Zweitspielstätte setzen, die 300 Zuschauern Platz bietet und ab 2014 mit Kinderstücken bespielt wird.

Dass es Dagmar Schellenberger gelungen ist, für das Bühnenbild den Panorama-Künstler Yadegar Asisi zu gewinnen, war ein echter Coup. Wer Asisis mit avancierter Computertechnik und viel Gespür fürs Theatralische entwickelte 360-Grad-Monumentalgemälde schätzt, ist zunächst etwas enttäuscht von der „Bettelstudent“-Optik: Eine Stadtmauer versperrt den Seeblick. Bald aber klappen Bühnenarbeiter die Riesenelemente wie Schranktüren zu – und das barocke Krakau kommt zum Vorschein. Später werden die Techniker noch einmal so eine Zauberverwandlung auf offener Szene vollziehen: Dann werden Prunksaalwände ruckzuck zur Parklandschaft.

In diesem Puppenstubenambiente für Riesen inszeniert Regisseur Ralf Nürnberger die Handlung so überdreht, wie es zu Susanne Thomasbergers Fantasiekostümen mit turmhohen Perücken und explodierten Reifröcken passt. Inmitten der Breitwandbühnen-Opulenz mit tanzenden Kellnern und Rüschenrobenprozessionen schummelt Nürnberger allerdings immer wieder kleine subversive Späßchen unter. Wenn beispielsweise zur Feier der Handwerksmesse eine veritable Blaskapelle aufmarschiert, woraufhin sich die chinesischen, arabischen und türkischen Händler entsetzt die Ohren zuhalten, in ihre am Bühnenrand fest gemachten Boote springen und kopfschüttelnd vor „dera Musi“ aufs offene Binnenmeer hinaus fliehen.

www.seefestspiele-moerbisch.at

Frederik Hanssen

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