Kultur: Der Befreier des Wissens
Aus der Champagne nach Paris: Zum 300. Geburtstag des französischen Aufklärers Denis Diderot.
Wie ein Fels aus dem Meer erhebt sich das Festungsstädtchen Langres über das Plateau der südlichen Champagne. Hier wurde am 4. Oktober vor 300 Jahren Denis Diderot geboren: als Philosoph einer der radikalsten Köpfe des Zeitalters der Aufklärung, als Enzyklopädist Vordenker des Internetlexikons Wikipedia und mit seiner lustvollen Prosa Pionier der Moderne. Kaum zu glauben, dass sein geistreiches Werk im Schatten der keineswegs interessanteren Herren Voltaire und Rousseau steht – vom grandiosen Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“ einmal abgesehen.
In Langres, woher kein Champagner, aber ein würziger Weichkäse stammt, kommen Besucher an Diderot nicht vorbei, ragt doch, wenige Meter entfernt von seinem makellos erhaltenen Geburtshaus, der romanisch-gotischen Kathedrale den Rücken kehrend, eine riesige Statue seiner selbst auf der zentralen Place Diderot empor. Angefertigt wurde das 1884 errichtete Denkmal von Frédéric Auguste Bartholdi, dem Schöpfer der amerikanischen Freiheitsstatue. Dass ein skeptischer Atheist und Materialist solche Ehrungen erfuhr, hatte zu heftigen Protesten der Kirche geführt.
Auf der anderen Seite des Platzes steht das Haus, in dem der Junge Denis als Sohn des angesehenen Messerschmiedes Didier Diderot aufwuchs. Vis-à-vis sitzt man in der nach ihm benannten Brasserie Diderot, das Jesuitenkolleg, das der gewiefte Schüler besuchte, in Sichtweite. Auf dem Sockel des Denkmals sind die Namen d'Alembert, de Jaucourt und Condorcet eingraviert, Diderots Mitstreiter im größten Projekt der Aufklärung, der „Encyclopédie“, einem Universallexikon in 35 Bänden, zu dem Diderot über 5000 Artikel beisteuerte, denen er zwanzig Lebensjahre widmete. Danach war die Welt eine andere.
Am 5. Oktober 1713, Diderots Geburtstag, steht das Ancien Régime in voller Blüte. Bis zur Absolutismusdämmerung und ihrem Höhepunkt, der Französischen Revolution, braucht es noch ein Lebensalter. Diderot, der kurz die Laufbahn eines Geistlichen einschlägt und sich auch im Handwerk seines Vaters versucht, hält es nicht lange in seiner klerikal geprägten Heimatstadt. Aus deren Enge zieht es ihn bereits mit 15 Jahren nach Paris. Er strebt nach Freiheit und Wissen. Anstelle von Messern will er Gedanken schmieden.
Über Langres äußert er sich wenig schmeichelhaft. „Kaum vier Tage bin ich hier, doch es scheint mir, als seien es vier Jahre ... Ich langweile mich“, schreibt er 1759 während eines Besuches an seine Geliebte Sophie Volland. Diderots abfällige Äußerungen nimmt man heute gelassen. Immerhin ist er es, mit dem Langres Langeweile vorbeugt. Dem Jubilar sind Gesprächsreihen gewidmet, ein kleines Theater spielt „Rameaus Neffe“, den subversiv-philosophischen Dialog, der zuerst 1805 in Goethes Übersetzung erschien.
In Langres’ Museum für Kunst und Geschichte präsentiert Direktor Olivier Caumont Ausstellungsstücke aus dem Pariser Salon von 1781, die Diderot in seinen wegweisenden kunstkritischen Schriften beschreibt, Gemälde des Diderot-Porträtmalers Louis-Michel van Loo, die berühmte Diderot-Büste des klassizistischen Bildhauers Jean-Antoine Houdon oder ein kopernikanisches Planetenmodell, das der Aufklärer mit eigenen Augen gesehen haben soll. Diese und weitere Exponate werden im pünktlich zum 300. Geburtstag eröffnenden „Maison des Lumières Denis Diderot“ gezeigt, das in einem strahlend restaurierten Renaissancegebäude mit angegliedertem Barocktrakt untergebracht ist. Das Highlight der Sammlung ist die berühmte „Encyclopédie“ in Foliobänden, deren Seiten man mit Samthandschuhen umwenden muss. Hier, in diesem zeitweise von der staatlichen Zensurbehörde verbotenen, vom Papst verdammten Lexikon, ist das Wissen von der Antike bis in ihre Gegenwart hinein auf über 60 000 Artikeln und zahllosen Bildtafeln versammelt.
In der „Encyclopédie“ lauern versteckt zwischen den Seiten die umstürzlerischen Weltansichten der kühnen Philosophen wie die Griechen im trojanischen Pferd. Sie schlugen einen Keil ins Fundament des angeblich gottgewollten absolutistischen Regimes. Kurz: Dieses Hauptwerk der Aufklärung war ketzerisch. Trotzdem oder gerade deshalb wurde es ein Bestseller. Die Geschichte der Verbreitung zahlloser Raubdrucke ist ein Wirtschaftskrimi.
Die Originalausgabe in Langres war ein Geschenk. Noch zu Diderots Lebzeiten sorgte ein reicher Bürger dafür, dass jeder, der lesen konnte, Zugang zu diesem erhellenden Werk erhielt. Das Magistrat erbat sich von Diderot ein Porträt, damit man ihn auch erkannte. Der geschmeichelte Großstädter schickte die Houdon-Büste. Zum Zeitpunkt der Vollendung der „Encyclopédie“ ist er nicht nur als deren Herausgeber berühmt, sondern auch als Verfasser von Theaterstücken, die an der Comédie Française gespielt werden, mit mäßigem Erfolg. Gotthold Ephraim Lessing aber zeigte sich von Diderots innovativen Gedanken zum Theater so beeindruckt, dass er nicht nur dessen Dramen übersetzte, sondern auch seine „Hamburgische Dramaturgie“ an den Ideen des Franzosen orientierte.
Das Studentenleben in der Hauptstadt ermöglichte ihm sein Vater, ohne zu ahnen, dass sein Spross gegen seinen Willen die attraktive, aber mittellose Anne-Toinette Champion heiraten und 1749 für die Publikation der „Philosophischen Gedanken“, seines „Briefs über die Blinden zum Gebrauch der Sehenden“ und eines erotischen Romans namens „Die indiskreten Kleinode“ drei Monate in Haft geraten würde. Vor allem der „Brief über die Blinden“, mit dem sich Diderot in erkenntnistheoretische Debatten einschaltet, alarmierte die Königliche Zensurbehörde. Die „Encyclopédie“ entstand in einem Zustand permanenter Bedrohung und wäre früh gescheitert, wenn nicht der Oberzensor Malesherbes seine schützende Hand darüber gehalten hätte. Es gehörte Mut dazu, sich in vorrevolutionären Zeiten des eigenen Verstandes zu bedienen. Wesentliches schrieb Diderot fortan verklausuliert oder gleich für die Schublade.
Epizentrum der radikalen Aufklärung war der Salon des Baron d'Holbach, dessen „System der Natur“ das materialistisch-atheistische Denken auf die Spitze trieb. Hier trafen sich neben den üblichen Pariser Verdächtigen auch ausländische Prominente wie David Hume. Ein weiterer Gast war Laurence Sterne, dessen Roman „Tristram Shandy“ Diderots heute berühmtestes Werk stark prägte – den zuerst durch Schiller bekannt gemachten, verblüffend modernen Roman „Jacques der Fatalist“. Wein floss in Strömen, Hedonismus war angesagt. Bei d’Holbach befand man sich schließlich in unmittelbarer Nähe des Palais Royal, des einstigen Pariser Vergnügungszentrums, das den Schauplatz von „Rameaus Neffe“ liefert.
Diderots Familiendomizil lag auf der anderen Seine-Seite in der Rue Taranne, die im 19. Jahrhundert durch die Haussmannisierung Teil des Boulevard Saint-Germain wurde. Die Wohnung verschwand, dafür steht ganz in der Nähe das Denkmal des Bildhauers Jean Gautherin. Ein Spaziergang auf den Spuren von Voltaires großem Rivalen führt vom Literatenviertel Saint Germain ins Quartier Latin, wo Diderot zuvor lebte, am Collège d'Harcourt, dem späteren Lycée St. Louis, studierte und an der Sorbonne seinen Abschluss im Fach Theologie machte.
Nicht weit davon entfernt, befindet sich in der Rue de l'Ancienne Comédie das Café Procope, ein weiterer Treffpunkt der Aufklärerclique. Gegen Ende seines Lebens zog der Protegé Katharinas der Großen doch noch auf die andere Seine-Seite in die Rue Richelieu, wo er am 31. Juli 1784 wenige Jahre vor der Revolution starb. Der Priester der benachbarten Kirche Saint-Roche musste bestochen werden, damit er ihn in einem unterirdischen Raum beerdigte. Dorthin folgten dem Freigeist auch die Freunde d'Holbach und Helvétius. Allerdings fanden die „bösen Philosophen“ (Philipp Blom) keine Ruhe. Während der Revolutionswirren wurden die Gräber verwüstet.
Diderots feste Überzeugung war es, dass „das Licht der Vernunft“ gebraucht und verteidigt werden müsse. Anders als deutsche Rationalisten und Idealismus-Vertreter wie Hegel, der sein dialektisches Herr-und-Knecht-Modell auf „Jacques der Fatalist“ stützt, blieb er Skeptiker und legte Wert auf einen spielerischen Umgang mit philosophischen Wahrheiten: „Unsere wahre Meinung ist nicht diejenige, von der wir nie abgewichen sind, sondern die, zu der wir am häufigsten zurückgekehrt sind.“
Spürbar ist das in seinen philosophischen Schriften, besonders aber in seinen literarischen Hauptwerken, die erst posthum und zunächst in deutscher Sprache publiziert wurden. Es ist kein Zufall, dass es ein Skeptiker wie Nietzsche war, der das charakteristisch Modernistische an Diderot betonte: „Voltaire ist der letzte Geist des alten Frankreich, Diderot der erste des neuen.“
Tobias Schwartz
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