Kultur: Der Bauch des Philosophen
Ludwig Wittgenstein – eine Ausstellung im Schwulen Museum Berlin
Zunächst hatte Bertrand Russell Vorbehalte gegen den jungen Österreicher: „Für seine Moral im herkömmlichen Sinne möchte ich mich nicht verbürgen“, so sein Urteil über Ludwig Wittgenstein, kurz nachdem dieser 1911 sein Philosophiestudium in Cambridge begonnen hatte. In einem der illustren Debattierclubs hatte Wittgenstein den zwei Jahre jüngeren Mathematikstudenten David Pinsent kennengelernt. Beide wurden unzertrennlich, spielten Tennis, lasen dieselben Bücher, verreisten gemeinsam. Und bis auf den dezidiert heterosexuellen Russell kümmerte sich kaum jemand in den männerbündlerischen Kreisen des Trinity-Colleges um „Moral im herkömmlichen Sinne“. Eine stillschweigende homoerotische Beziehung gehörte fast zum guten Ton.
Zum Skandal kam es erst zwei Jahrzehnte nach Wittgensteins Tod. In seiner 1973 erschienen Biografie lotet William W. Bartley die vermeintlichen Abgründe der von seinem Umfeld als „ungewöhnlich sublimiert“ wahrgenommenen Philosophen-Persönlichkeit aus: Wittgenstein war demnach nicht bloß ein Homosexueller, sondern einer der unberechenbaren Sorte. In seinen „dunklen Jahren“ nach dem Ersten Weltkrieg soll er wie „von einem Dämon gepeitscht“ aus seinem Zimmer gerannt sein, um auf den Wiener Praterwiesen oder in britischen Pubs nach „derben jungen Männern“ zu suchen. Weil er die Namen seiner Informanten niemals preisgab, musste sich der mittlerweile verstorbene Bartley den bis heute unwiderlegten Vorwurf gefallen lassen, zwar nicht Wittgensteins sexuelle Orientierung, allerdings die Jagd nach den Prater-Jungs frei erfunden zu haben.
Weniger geheimnisvoll, dafür wesentlich dezenter, wird Wittgensteins Intimleben derzeit an einem Ort behandelt, an dem man sich die offensive Thematisierung von Homosexualität zur emanzipatorischen Pflicht gemacht hat: Das Schwule Museum in Kreuzberg ehrt den Philosophen zum 60. Todestag mit einer Ausstellung zu Leben und Werk.
Der Titel „Wittgenstein. Verortungen eines Genies“ ist zunächst wörtlich zu verstehen. Große Schwarz-Weiß-Fotos dokumentieren die räumliche Mobilität des 1889 in Wien geborenen Meisterdenkers. Bevor der Spross einer assimilierten jüdischen Stahlmagnatenfamilie seiner eigentlichen Berufung folgte, studierte er Maschinenbau in Berlin und Manchester; mehrfach hat er am akademischen Leben und am Sinn der Philosophie gezweifelt, sich als Klostergärtner, Dorfschullehrer und Architekt versucht, regelmäßig floh er in seine Holzhütte in der Einöde Norwegens. Jedes Mal kehrte er nach Cambridge zurück, wo er 1951 starb.
Neben der materialreichen Illustration von Person, Vita und Charisma Wittgensteins, seinen kultur- und geistesgeschichtlichen Prägungen, wird der Versuch unternommen, wenigstens im Ansatz die Gedanken zu charakterisieren, mit denen er die theoretische Philosophie revolutionierte und die Grundlagen der Sprechakttheorie formulierte.
Angesichts der Unaufdringlichkeit, mit der in der Fülle von Medieninstallationen, Text- und Bilddokumenten Wittgensteins Homosexualität angesprochen wird, scheint sie durch den Ausstellungsort fast schon irreführend stark in den Vordergrund gerückt. Im Wesentlichen erfährt man nicht mehr, als dass nach David Pinsents tödlichem Flugzeugabsturz gegen Ende des Ersten Weltkriegs zwei weitere Beziehungen zu Cambridge-Studenten folgten. Wittgenstein selbst weigerte sich beharrlich, in der Öffentlichkeit über Sexualität zu reden, an einigen Stellen äußert er sich in seinem Tagebuch dazu, allerdings bezeugen die Einträge, abgefasst in einer mittlerweile dechiffrierten Geheimschrift, höchstens, dass der Geistmensch Probleme mit Sexualität im Allgemeinen hatte.
Wittgenstein liebte nicht nur Männer, sondern auch Schokolade und Hollywoodfilme. Zudem gerieten beide Geschlechter schon bei seinem Anblick in Entzücken. Zweifellos erfüllte er genügend Kriterien, um als Schwulenikone kanonisiert zu werden. Etliche Comiczeichner, Musiker und Filmemacher haben dieses Potenzial genutzt. Unter anderem auch Derek Jarman, dessen biografisch-satirischer Film „Wittgenstein“ ebenfalls im Schwulen Museum zu sehen ist. Ansonsten jedoch haben sich die beiden Kuratoren Kristina Jaspers und Jan Dehmel für kompromisslose Seriosität entschieden, keineswegs zum Nachteil ihres Projekts.
Wie so viele Sätze Wittgensteins ist auch seine allzu häufig zitierte Formulierung „Worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen“ komplexer, als es scheint. Vor einigen Jahren hat der Literaturwissenschaftler George Steiner sich an einer radikalen Vereinfachung dieser Worte versucht und erklärt, es handele sich nur um Wittgensteins Versuch, private moralische Unzulänglichkeiten zu vertuschen. Ganz anders geht die Ausstellung im Schwulen Museum vor, mit ihr wurde eine der unzähligen Bedeutungskomponenten dieser Aussage allenfalls suggestiv hervorgehoben. Es ist der letzte Satz des „Tractatus“, der in den Schützengräben des ersten Weltkriegs entstand. Gewidmet hat Wittgenstein dieses epochemachende Werk David Pinsent.
Schwules Museum Berlin, Mehringdamm 61, bis 13. Juni. Tgl. außer Di 14-18 Uhr, Sa bis 19 Uhr. Im Junius Verlag ist ein reich illustrierter, großformatiger Katalog erschienen (152 Seiten, 19,80 €.)
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