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Kultur: Der Aufstand des Mörders

Kleist und Shakespeare in Italien – und Kevin Spacey triumphiert mit einem tollwütigen Richard

Italiens Zeitungen, soweit sie nicht dem Ministerpräsidenten gehören, titeln „Il governo nel caos“, die Regierung im Chaos. Und während Silvio Berlusconi sich mit den Resten einer zusammengekauften Mehrheit im römischen Parlament noch einmal in den Herbst seiner dunklen Ära rettet, verkündet ein unendlich viel finsterer Herrscher im südlichen Neapel, dass nun „der Winter meines Missvergnügens“ vorbei sei. Worauf eine blutige Eiszeit beginnt.

Gleichzeitig triumphiert in Norditalien die sonderbare Botschaft, dass Recht und Gesetz über dem Erfolg des Einzelnen stehen, sogar dann, wenn der Erfolg dem Glück des Herrschers und des Staates diene. Das ist eine Botschaft aus dem noch höheren Norden, und 1000 Italiener erblicken dazu den Adler des fernen Landes Brandenburg, neben einer Fahne auch mit dem Berliner Bären. Wir sind im Theater. Auf Brettern, die oft hohl sind und hier doch, über Kulissen und Zeiten hinweg, ein Stück Welt bedeuten.

Eben erst hat die Berliner Schaubühne bei der Theater Biennale in Venedig ihren „Hamlet“ gezeigt, und Regisseur Thomas Ostermeier hat gleich für sein Theaterlebenswerk einen Goldenen Löwen erhalten. Kurz zuvor und posthum war schon ein solcher Löwe an Christoph Schlingensief gegangen: für die Bühneninstallation seiner „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, die den Deutschen Pavillon auf der venezianischen KunstBiennale füllt. Weil die Biennale zudem eine Reihe Theaterkünstler um einen Beitrag zum Thema „Die sieben Todsünden“ gebeten hatte, stellte Thomas Ostermeier am vergangenen Wochenende zusammen mit dem Schauspieler (und Schriftsteller) Josef Bierbichler eine Art szenisch-literarische Meditation über die „pädophile Liebe“ und Thomas Manns „Tod in Venedig“ an der Lagune vor. Ein Vorgriff zugleich auf 2012, wenn man in Venedig sich der vor dann genau 100 Jahren erschienenen Novelle Thomas Manns einmal mehr widmen will („Touched by Tadzio“ lautete schon jetzt das Scherz-Motto eines anglophilen Germanisten).

Nun aber ist erst einmal Kleist-Jubiläum, auch in Italien, wo der preußische Poet freilich noch als weitgehend Fremder gilt. Allerdings gab es vor sieben Jahren schon einmal eine merkwürdige politisch-theatralische Koinzidenz. Damals hatte der Regisseur, Dichter und Übersetzer Cesare Lievi im Mailänder Piccolo Teatro seine Inszenierung des „Zerbrochnen Kruges“ just am Abend des Tages präsentiert, an dem Italiens Verfassungsgerichtshof ein von Berlusconi auf sich selber zugeschnittenes Immunitätsgesetz erstmals für unzulässig erklärte. Und Mailands Kulturbürgertum sah am Premierenabend in der Justizposse um den korrupten, an jungen Mädchen interessierten Dorfrichter Adam mit wachsender Verwunderung in einen Spiegel plötzlich der eigenen Gegenwart.

In Udine, eine Autostunde von Venedig entfernt, spielt Cesare Lievi jetzt den ebenso wenig bekannten „Principe di Homburg“. Verbunden war das mit einem mehrtägigen Kleist-Kongress, und Lievis Übersetzung des Homburgprinzen ist ebenso wie die des „Krugs“ in der neuen italienischen Kleist-Gesamtausgabe des Mailänder Mondadori Verlags erschienen. Lievi und sein deutscher Dramaturg, der Frankfurter Kritiker Peter Iden, haben sich angelehnt an die Deutung des Stücks, die Botho Strauß 1972 bereits für Peter Steins berühmte „Homburg“-Inszenierung an der Berliner Schaubühne als Mitarbeiter gewählt hatte: Findet der wegen Missachtung einer kurfürstlichen Order zum Tode verurteilte Prinz, ein Kriegsheld und Träumer, in einer Schlussvolte Gnade vor Recht, dann war dies der eigene Erlösungstraum des Dichters Kleist. In der Realität aber wurde sein letztes Drama vom preußischen Hof abgelehnt und Kleist, einst selbst Offizier, hat sich bald darauf am Wannsee erschossen. Vor 200 Jahren.

Lievi lässt seine Version, die das italienische Publikum behutsam in die Welt jener Ehr- und Ordnungsvorstellungen des Großen Kurfürsten rund um die Schlacht von Fehrbellin 1675 gegen die Schweden entführt, in einer stimmungsvoll klassizistischen Architektur-Szenerie des deutschen Bühnenbildners Josef Frommwieser spielen. Am Ende werfen dabei die Offiziere ihren begnadigten Prinzen (Lorenzo Gleijenes) jubelnd in die Luft, während ein Kleistscher Doppelgänger mit einer Blinden- oder auch Totenbinde über den Augen im Hintergrund fällt. Einst bei Peter Stein war es der Homburg-Darsteller Bruno Ganz gewesen, der ohnmächtig an der Rampe niedersank, während sein Alter Ego, eine Puppe, in die Luft geworfen wurde. Kein schöner Traum, ein Alp. Jetzt in Udine, von wo die Aufführung zu einer Italien-Tournee aufbrechen wird, ist die ganze neue Spielzeit als „sogno reale“ überschrieben, als wirklicher Traum.

Wie weit dieses Spiel von der wahren Realität entfernt ist, ahnt hier nur, wer will. Dagegen geht es zwei Tage später in Neapel, zum Abschluss des größten internationalen italienischen Theaterfestivals – seit vier Jahren ambitionierter und teurer gar als Venedigs Theater-Biennale – viel drastischer zu. Im Sommer hatte im Londoner Old Vic Theatre, das seit 2003 vom amerikanischen Theater- und Filmstar Kevin Spacey geleitet wird, Shakespeares „Richard III.“ Premiere. Titelheld: Kevin Spacey. Regie: Sam Mendes. Beide haben sie für Mendes’ „American Beauty“, eine Variation auch von „Lolita“ und dem etwas pädophilen „Death in Venice“, je einen Oscar gewonnen. Nun geht ihr „Richard“ um die Welt, von Singapur bis Neapel. Nur nach Deutschland, wo die Aufführung die gerade laufende Berliner „Spielzeit Europa“ hätte krönen können, kommt sie unverständlicherweise nicht. Sie wäre eine Lektion.

Trotz eines durchweg glänzenden, vielköpfigen Ensembles, unter anderem mit Gemma Jones als hexenhafter Königin Margret, ist das Ereignis Kevin Spacey. Sein verkrüppelter, von Shakespeare als mörderisch kläffender „Hund“ bezeichneter beißender, reißender Emporkömmling ist tatsächlich ein toller, tollwütender Underdog. Spacey humpelt als Terror-Terrier mit abenteuerlich nach innen gekrümmtem linken Fuß, eingefasst in einer orthopädisch gruseligen Beinschiene, und einem Buckel auf die Bühne. Doch was bei einem weniger genialen Spieler nur zu leicht zur Parodie des Glöckners von Notre Dame oder des Monsters vom London Tower geriete, wird hier zum Aufstand einer gekrümmten Kreatur, die ihre eigene Welt als Wille und Verstellung erschafft. Als dämonischer Spieler, der das Publikum mit unbändigem Genuss in seine massenmörderischen Intrigen einbezieht. Ein Conférencier der Hölle.

Aber auch darin agiert Spacey nicht anbiedernd. Sondern mit belfernder Härte, mit aasigem Lächeln und Blicken wie Dolchen. Nur Gert Voss vor einem Vierteljahrhundert in Wien hat zuletzt einen solchen Dritten Richard gleich einem menschlichen Teufel verkörpert. Das Tempo ist ungeheuer, die Szenen wie im filmischen Fluss, keine psychologischen Pausen, nur ein apokalyptischer Raptus. Und als Richard am Ende selber fällt, lässt ihn sein Nachfolger wie ein blutiges Schlachtvieh an den Füßen aufhängen. Es ist das Bild auch: des erschossenen Mussolini, so 1945 öffentlich ausgestellt in Mailand. Die Italiener haben das jetzt bejubelt. Aber keine Zeitung, kein Fernsehsender hat dieses Finale benannt.

Peter von Becker

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