Lars von Triers "Nymphomaniac": Der absolute Sex
In Dänemark läuft er bereits im Kino: „Nymphomaniac“, Lars von Triers ganz besonderer Weihnachtsfilm. In Deutschland kommt Teil Eins im Februar ins Kino und läuft auf der Berlinale.
Wie soll man bloß durchsteigen zu „Nymphomaniac“, bei so viel Hype, so vielen Gerüchten? Lars von Triers monströse Sexorgie! Das neueste Werk vom Großmeister der Manipulation! Der Film, in dem die Stars sich alle nackt ausziehen! Und: Hier kämpft ein dänischer Weltklassekünstler dafür, dass wir unsere Triebe ausleben dürfen!
Hoffentlich zieht der Rummel, geschickt gestreut und genutzt von den Film-Werbern, viele Zuschauer an. Doch im Kino sollte man ihn gleich vergessen, denn „Nymphomaniac“ erschafft eine eigene Welt. Und verdient es, unter seinen eigenen Vorzeichen gesehen zu werden.
Eine Nymphomanin erzählt einer männlichen Jungfrau ihr Sexualleben, in acht Kapiteln. Joe (Charlotte Gainsbourg) hatte Tausende von Männern. Der ältere Junggeselle Seligman (Stellan Skarsgård), der mit seinen Büchern in einer dunklen Wohnung lebt, hat nie eine Frau berührt. Der Film beginnt damit, dass er sie im Hof seines Wohnhauses auffindet, verletzt und blutüberströmt. Eine Mauer reflektiert die untergehende Sonne, anderes Licht gibt es nicht.
Joe liegt halbtot da, weggeworfen wie Müll. Sie sagt, sie verdiene es nicht anders; sie sei ein schlechter Mensch. Seligman kann das nicht gelten lassen, seiner Philosophie zufolge gibt es keine schlechten Menschen. Joe erzählt ihm ihr unersättliches Leben voller Zufallsbegegnungen und zügellosem Hedonismus, sie erzählt von Niederlagen und blutenden Geschlechtsteilen. Er revanchiert sich mit Einschüben enzyklopädischer Art, die sie mal nerven, mal faszinieren.
Ihr Gesprächston bleibt elegant und distinguiert, egal, über welche drastischen und grausamen Dinge sie reden. Es geht um Profanes, aber hier wird ein ethischer Fall ausgebreitet, aus verschiedenen moralischen Perspektiven. Nicht zum ersten Mal scheint sich Lars von Trier hier an den Schreibmethoden des Marquis de Sade zu orientieren – etwa dem „Gespräch zwischen einem Priester und einem Sterbenden“ (1782) oder der „Philosophie im Boudoir“ (1795).
Seligmans weitschweifige Exkurse verleihen „Nymphomaniac“ seine Tiefe. Die Bilder aber sind es, in denen sich die Geschichte konkret manifestiert. Sie zeigen Joe in verschiedenen Lebensaltern: Sie hat Sex mit zahlreichen Männern, manchmal sind ihre Orgasmen von unaufhaltsamer Wucht, manchmal bleiben sie aus, egal, wie heftig und häufig sie sich auch darum bemüht. Manche Episoden sind pornografisch, aber die sexualisierte Ästhetik wird immer allumfassender, und bald wirkt der Anblick geradezu normal.
Am ersten Weihnachtsfeiertag wurde „Nymphomaniac“ ohne großen Premierenaufwand in Kopenhagen uraufgeführt – und läuft nun in Dänemark in einer Vierstundenfassung. Der Director’s Cut ist fünfeinhalb Stunden lang – der erste Teil davon wird als Weltpremiere auf der Berlinale gezeigt. In den meisten Ländern werden die Teile 1 und 2 getrennt gezeigt, in Deutschland kommt Volume 1 nach der Berlinale ins Kino, Volume 2 im April. Ob dieses zeitliche Auseinander eine gute Idee ist? Der erste und leichtere Teil steht vor den düsteren Ritualen des zweiten – und der ergibt kaum einen Sinn, wenn man nicht Joes Lehrjahre bereits kennt, vom Heranwachsen bis zur Midlife Crisis.
Am Anfang beider Filme stehen visuell herausragende Schlüsselszenen, ähnlich den Prologen zu „Antichrist“ und „Melancholia“. Der zweite Teil beginnt mit einer Levitation: Die zwölfjährige Joe erlebt in den Bergen einen spontanen Orgasmus und beginnt zu schweben, während zwei enigmatische Frauenfiguren erscheinen. Es sind Messalina, die promiske Ehefrau des römischen Kaisers Claudius, und die auf einem Stier reitende große Hure von Babylon. Das faszinierende Bild verschafft Seligman die Gelegenheit, die „östliche“ mit der „westlichen Kirche“ zu vergleichen.
Ihre Sexualität entdeckt Joe schon früh; über die Physiologie klärt sie sich in den Büchern ihres Vaters (Christian Slater) auf, der Arzt ist. Die Mutter (Connie Nielsen) ist eine „kalte Hure“, die sich von der Tochter abwendet. Zum Vater hat Joe eine warme, unkomplizierte Bindung. Als er stirbt, fühlt sie sich völlig verlassen – und es ist Joes Freundin B (Sophie Kennedy Clark), die ihr beibringt, wie man die Männer scharfmacht. Einmal wetten sie, wer von beiden auf einer Zugfahrt mehr Männer flachlegt. Joe gewinnt, indem sie S (Jens Albinus) verführt, der seinen Samen allerdings für die Ehefrau aufheben will – eine Absicht, die Joe empört, ihren Gesprächspartner Seligman allerdings zum Lachen bringt.
Bald jedoch wird es komplizierter, Joes raue Eroberungslust noch als löbliche Form der Freude am Sex zu deuten – bei acht Männern pro Nacht. Ihre einzige Lebenskonstante ist Jerôme (Shia LaBeouf): Er entjungferte sie, als beide Teenager waren, später haben sie ein gemeinsames Kind. Im zweiten Film muss sie das Kind nachts allein lassen, weil sie mit dem Sadisten K (Jamie Bell) die Riten von Dominanz und Masochismus erforscht. Das Kind tappt im Schlafanzug auf den Balkon – ganz wie in der Eröffnungsszene von „Antichrist“.
Überhaupt ist „Nymphomaniac“ gespickt mit Selbstzitaten. Ob Struktur oder Dialoge: Alles wirkt wie eine Kollektion von Statements, die Lars von Trier über Jahre wiederholte – bis zu dem Schweigegelübde, das er sich nach dem „Okay, ich bin ein Nazi“-Skandal vor zwei Jahren in Cannes auferlegt hat. Zu „Nymphomaniac“ sagt er kein Wort. Umso deutlicher artikuliert sich sein Mitteilungsbedürfnis im Film. Die Debatte etwa um die politische Correctness, die das Wort „Neger“ aus der Sprache verbannt, spiegelt sich in einer therapeutischen Sitzung wider, in der Joe darauf beharrt, sich eine Nymphomanin nennen zu dürfen.
Und die expliziten Sexszenen? Keine Frage, es gibt eine Menge davon. Transzendent wird der Sex nur in der sadomasochistischen Episode: erotisch, pornografisch und philosophisch zugleich, ganz wie bei de Sade. Charlotte Gainsbourg wirft sich nach „Antichrist“ erneut großartig in ihre Rolle, ebenso Stacy Martin, die Joe als junges Mädchen gibt. Die männlichen Schauspieler haben vergleichsweise wenig zu tun, aber Bell und LaBeouf überzeugen, und Skarsgård bildet ehrenvoll den ruhenden Pol im Geschehen.
„Nymphomaniac“ ist eine berauschende Erfahrung – sinnlich und als Zeugnis eines Lebens, das seine eigene Erfüllung sucht. Das filmische Pendant eines Bildungsromans: Vernunft spielt eine Rolle, aber Joe ist Antrieb und Triebkraft zugleich. Man spürt, Lars von Trier ist auf Seiten der Frau.
Bo Green Jensen arbeitet als Autor und Filmkritiker für die dänische Wochenzeitung „Weekendavisen“.
Bo Green Jensen
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