Kultur: Denn mein ist die Rache
Ende böse, alles böse: Mit „Dogville“ ist dem Dänen Lars von Trier ein bestechend düsterer Theaterfilm gelungen
Theater und Kino verbindet eine ewige – und ewig spröde – Liebschaft. Wenn das Theater, seines Repertoires oder auch der Suche nach neuen Bühnentexten müde, sich im unerschöpflichen Fundus des Kinos bedient, dann geschieht das meist im Stil eines verstohlenen Flirts. Es packt zum Beispiel „Das Fest“ auf die Bühne und weiß doch um die tanzenden Bilder des Thomas-Vinterberg-Films, die sich sogleich in der Fantasie des Zuschauers, jener starren Kamera in Reihe sieben oder elf, entzünden; es punktet mit dem Hier und Jetzt zwischen Schauspielern und Publikum – und kann doch nie leichthin wie das Kino Schnitt für Schnitt zaubern und Bild für Bild zusammenbauen für einen kollektiven Traum.
Wenn das Kino mit dem Theater liebäugelt – und Lars von Trier tut es in „Dogville“ mit besonders tiefem Blick – , dann verordnet es sich damit meist eine Art Diät. Weg von der Völlerei der Zeit- und Raumsprünge, der perfekten Illusionsmaschine, hinein in den klappernden Zauberkasten einer einzigen Kulisse. Und da das Kino gegenüber dem immer wieder realen Theatererlebnis zwangsläufig Konserve bleibt, mischt es sich zumindest keck und großaufnahmelustig unter seine Figuren mit der Steadycam. Womit zumindest ein ganz alter Theaterbesuchertraum erfüllt wäre: mitten dort oben zu sein, wo das Leben tobt, jauchzt und leidet, und doch unsichtbar.
Der Film „Dogville“, soviel vorweg, spielt drei Stunden lang so sehr Theater, wie Kino nur Theater spielen kann. Er macht und ist Theater: mit aller Mängelüberlistungskunst. Und weil Lars von Trier mit jedem Film aufs Ganze geht, setzt er diesmal ganz aufs Spartanische. Eine Bühne aus fast nichts. Grundrisse statt Haus- und Zimmerwände. Kaum Requisiten. Unsichtbare Türen, die doch hörbar geöffnet und geschlossen werden. Unsere kleine Stadt namens „Dogville“: ein Phantom auf dem Boden einer Lagerhalle bei Göteborg (und ihr namengebender Hund nur ein Kreidestrich). Aber Lars von Trier ist auch ein großer Beweisführer, und deshalb exhumiert er für „Dogville“ das Brechtsche epische Zeigefingertheater gleich mit. Seine Brecht-Gardine: die neun Kapitelüberschriften, in denen das Geschehen im Wesentlichen vorweggenommen wird. Sein V-Effekt: die Off-Stimme des allwissenden Einsagers, eher Deutungs- als Regieanweisung.
Nun könnte das alles, auch im Sinne Brechts, durchaus süffig daherkommen. Doch „Dogville“ verbietet sich die große Dreigroschenoper aus der Zeit der amerikanischen Depression, die es locker hätte werden können, „Dogville“ will Lehrstück sein. Lehrstück davon, dass der Mensch des Menschen Hund sei. Lehrstück der Erkenntnis darüber, dass den hingeworfenen Knochen nur benage, wer zuvor gedienet habe. Großes Lehrstück vom Nehmen und Geben, vom Leiden und Vergelten, von Schuld und Sühne in der Hölle namens Erde.
Und doch, der Film – vor drei Jahren holte Lars von Trier mit „Dancer in the Dark“ noch die Goldene Palme – ist dieses Frühjahr in Cannes leer ausgegangen. Kein Wunder, denn „Dogville“ bietet weniger ein kinematografisches als ein überständig theatrales (wenn auch keineswegs theatralisches) Ereignis. Und dieser Mangel ist der Jury unter dem gleichermaßen bühnen- wie kinoerfahrenen Präsidenten Patrice Chéreau nicht entgangen. So fasziniert dieser Film, gedreht in einer einzigen Halle, wohl vor allem jene, denen das Theater fremd geworden ist: Die dramaturgische und visuelle Strenge, die Lars von Trier dem bilderverwöhnten und unterhaltungsversessenen Publikum auferlegt, funktioniert zunächst als Abwechslung. Hinzu kommt, dass der als Frauenquäler verschriene Regisseur, anders als in „Breaking the Waves“ und „Dancer in the Dark“, seiner neuesten Leidensheldin nicht bloße Erlösung im Jenseits, sondern irdische Rache gestattet. Uraltes Kinomuster: ein bloody happy end. Aber immerhin eines à la Trier.
In einem schwarzen Schwanenmantel mit Schleppe und Pelzbesatz auf Schulter und Ärmeln kommt Nicole Kidman auf die Bühne, unsere Identifikationsfigur, unsere grazile, graziöse Grace: ein Fremdkörper in jenem armseligen Städtchen in den Rocky Mountains, das Lars von Trier auf 15 erwachsene und sechs kindliche Bewohner reduziert hat. Einer Schießerei im Tal ist sie entkommen, und – zunächst für zwei Wochen – nimmt die Gemeinde aus „braven, ehrlichen Leuten“ sie auf, versteckt sie erst vor ihren möglichen Häschern, dann vor der Polizei.
Doch die Nächstenliebe, zu der der selbsternannte Erzieher des Menschengeschlechts, Tom Edison jr. (Paul Bettany), seine Gemeinde verpflichtet, gibt es nicht gratis. Grace wird, zunächst gegen geringe Bezahlung, Dienstmädchen für alles und alle und, nach einem Fluchtversuch, gekettet an ein eisernes Wagenrad und mit stählernem Halsband zum Mädchen für alle Männer. Erst kommt die Moral und dann das Fressen: So hebt dieser Film scheinheilig an. Am Ende sagt er: Erst kommt das Menschenbenutzen, das Persönlichkeitszerfressen, und dann kommt die Moral. Na ja, die Doppelmoral. Mit anderen Worten: die Amoral.
Lars von Trier macht aus seinem Stoff - sehr frei nach Brechts Ballade von der Seeräuber-Jenny - ein Exerzitium und eine Exekution, einen Leidensweg und einen Vergeltungsbefehl, mündend in der Auslöschung der ganzen Gemeinde. Dogville und Grace sind quitt, behauptet er. Ende böse, alles böse. Nicht eigentlich abendfüllend, was er da in aller Dreistundenruhe durchdekliniert. Und auch die dramatische Auflösung in der Katharsis, die einen Moralisten wie ihn doch angetrieben haben muss, bleibt merkwürdig aus - schließlich werden auch Unschuldige nicht verschont.
Dass man dem dennoch fasziniert zusieht, ist dem großartig polyphon, aber stets gedämpft agierenden Star-Ensemble zu danken: Da sind die knickrige Ladenbesitzerin (Lauren Bacall), der blinde, nicht wirklich sanfte Alte (Ben Gazzara), die junge, scheinbar entlastete Rivalin (Chloe Sevigny), der triebhafte Familienvater (Stellan Skarsgard), der tückische Frühpubertäre (Miles Purinton) und so weiter. Und irgendwann auch der Gangsterboss (James Caan), dem Töchterchen Grace einst weggelaufen war. Er ist es, der ihr die Lektion beibringen wollte, aber erst in Dogville hat sie sie gelernt: Die Welt ist schlecht, und jetzt erst recht.
„Dictum ac factum“, so steht es eingeritzt im Stollen der stillgelegten Silbermine, in der sich Grace immer wieder mal verstecken muss. Gesagt, getan: Dogville hatte seine Chance, verkündet Lars von Trier, der sein Ensemble immer wieder vom Schnürboden aus, als Gottes Auge, ins Visier nimmt. Aber es hat beim großen Weltverbesserungstest nicht gut genug abgeschnitten, also weg damit. Und weil Dogville nicht etwa für das böse Amerika steht (ein Verdacht, den Lars von Trier in der amerikafeindlichen Stimmung dieses Frühjahrs mit kühler Koketterie nährte), sondern für das große Kaff namens globales Dorf, ist dieser Film nichts Geringeres als ein Plädoyer für die Abschaffung der Welt. Dogville ist überall: Diese Botschaft brüllt der Film merkwürdig plan heraus. Weg mit den durchweg niederträchtigen Menschen von dieser schönen Erde, weg mit dem fehlbaren, heuchlerischen, machtlüsternen Gesocks. Und Abspann.
Es wird einem – langsam, aber sicher – kalt beim Sehen von „Dogville“. Bestechend grandios in Szene gesetzt wie alle Filme Lars von Triers, erweist er sich als Lektion in Menschenhass, so eisglitzernd, wie wir derlei vielleicht noch nie gesehen haben. Stellan Skarsgard hat Lars von Trier bei den Dreharbeiten als „leicht gestörtes, hyperintelligentes Kind“ bezeichnet, das „in einem Puppenhaus mit Puppen spielt und ihnen mit der Nagelschere die Köpfe wegmacht“ . Das ist gut beobachtet. Nicole Kidman ist aus der Theaterfilm-Trilogie, die Lars von Trier mit „Dogville“ beginnen wollte und für die sie schon fast verpflichtet war, mittlerweile ausgestiegen. Das ist zumindest verständlich gehandelt. Denn „Dogville“ ist ein Solitär. Von „Dogville“ geht es nur hinaus aus der schwarzen Welt dieses Bühnenkastens. Oder nirgendwohin.
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