Umstrittene Premiere auf der Berlinale: „Dau.Natasha“ hüllt den stalinistischen Terror in Naturlicht
Regisseur Ilya Khrzhanovskiy zeigt mit „Dau.Natasha“ den ersten Film seines Großprojekts. Auf der Pressekonferenz wiegelt er kritische Fragen ab.
Das sind sie also, die ersten 135 Minuten von Ilya Khrzhanovskiys multidisziplinärem Immersiv-Projekt „Dau“, dessen Realisierung vor der Berliner Staatsoper im Sommer 2018 scheiterte.
Eine selbstgestrickte Legende an der Schnittstelle von „Kunst, Wissenschaft und Spiritualität“ (Khrzhanovskiy), aber auch mit einer guten Portion Hybris. „Dau.Natasha", der ersten „Auskopplung“ aus der Mega-Installation, geht das Gigantomanische ab, mit dem Khrzhanovskiy auch auf der Berlinale wieder hausieren geht.
Auf der Pressekonferenz am Mittwoch sagt der russische Regisseur, er sei froh, dass sich die Menschen jetzt endlich ein eigenes Bild machen können, statt nur von anderen über den Film zu hören. Er relativiert auch die Nachricht, dass „Dau.Natasha“ wegen der Darstellung von Pornografie in Russland verboten sei. Er vertraue auf das Urteil der russischen Justiz, meint er, noch sei nichts entschieden.
Auf der Pressekonferenz stehen dann auch die Geschichten im Mittelpunkt, die von den streng geheimen Dreharbeiten nach außen drangen. Schauspielerinnen beklagten sich über die missbräuchlichen Arbeitsbedingungen an dem von der Außenwelt isolierten Set. Khrzhanovskiy beantwortet die Fragen jovial, niemand sei zu etwas gezwungen worden.
Und die Verschwiegenheitserklärungen beziehen sich lediglich auf den Inhalt des Projekts, nicht auf die Arbeitsbedingungen des Geheimprojekts: „Irgendjemand muss ja aufgefressen oder vergewaltigt worden sein.“
Dafür, dass solche Heimlichtuereien in der Weinstein-Ära berechtigte Fragen aufwerfen, zeigt er wenig Verständnis. Als Kronzeuginnen sitzen unter anderem Ko-Regisseurin Jekaterina Oertel und die beiden Hauptdarstellerinnen Natalia Berezhnaya und Olga Shkabarnya neben ihm.
Sie spielen zwei Angestellte in der Kantine des „Institut für Erforschung von Physik und Technologie“, dem zentralen Handlungsort von „Dau“. Woran die Wissenschaftler für das Stalin-Regime forschen, wird nicht ganz klar.
Ein Großteil des Films spielt in der Kantine, die nach Feierabend auch für Orgien benutzt wird. „Dau.Natasha“ nimmt konsequent die Perspektive der beiden Randfiguren ein: Die ältere Natasha versucht die Machtverhältnisse in der Forschungseinrichtung zu reproduzieren, scheitert jedoch am Widerstand der jüngere Frau. Der Streit um den Putzdienst eskaliert einmal in einer Prügelei.
Es ist nötig, die Legenden um „Dau“, die dramatische Ästhetisierung eines totalitären Systems, zunächst aus dem Weg zu räumen, um sich „Dau.Natasha“ unvoreingenommen ansehen zu können. Doch das Ausblenden fällt schwer, weil dem Film, der nur einen Nebenaspekt des Gesamtkomplexes abbildet, der historischen Kontext fehlt, man diesen dennoch ständig mitdenkt, um einen tieferen Sinn in den fünf längeren Szenen zu finden.
„Dau.Natasha" ist ein Kammerspiel, aber das Immersive haben Khrzhanovskiy und Oertel beibehalten. Kameramann Jürgen Jürges mischt sich unter die Schauspielerinnen, auch wenn es mal heftiger zur Sache geht – oder Natasha mit einem der Wissenschaftler Sex hat, der offenbar nicht gespielt ist.
Jürges befindet sich immer in Bewegung, er darf überall hin, wo das Ensemble gerade improvisiert. Vor der Kamera stehen ausschließlich Laien.
Sex löst im Arthousekino keine Skandale mehr aus
An ihnen liegt es nicht, dass dieser erste „Dau“ verdammt lau wirkt. Echter Sex löst im europäischen Arthousekino längst keine Skandale mehr aus.
Die bereits notorische Missbrauchsszene mit der Wodkaflasche, die sich Natasha beim Verhör mit einem Offizier (auch ein echter KGBler, heißt es) vaginal einführen muss, ist schwer erträglich, aber nicht sehr explizit. Visionär wirkt an „Dau.Natasha“ nichts. Das Drehen mit Laien, der Verzicht auf Kunstlicht erinnern eher an das dänische Dogma-Kino.
Was also hat „Dau.Natasha“ mit der groß angekündigten Simulation eines totalitären Regimes zu tun? Vom Gesamtkonzept bleibt in Form dieser Sex- und-Gewalt-Kolportage nur das Machtduell zweier Frauen, die sich in ihrer Ausweglosigkeit männlicher Gewaltstrukturen bedienen.
Ein stalinistisches „Stanford Prison Experiment“. Auch die Szenen in der Kantine – als Ort eine durchaus interessante Schnittstelle von Staat und Gesellschaft, Macht und Ohnmacht, Männern und Frauen – liefern wenig Aufschluss darüber, wie sich Gewaltverhältnisse im Kleinen formieren. Eine vertane Chance.
27.2.,15.30 Uhr (Friedrichstadtpalast) und 21.15 Uhr (HdBF), 29.2., 18.30 Uhr (F-Palast), 1.3., 22 Uhr (International)
Andreas Busche