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Eine Kultur. Autorin und „taz“-Redakteurin Fatma Aydemir, 31.
©  Bradley Secker/Verlag

Fatma Aydemir im Porträt: Das Zentrum der Welt liegt am Leopoldplatz

Fatma Aydemir setzt sich für Frauenrechte ein, schreibt gegen die Verhältnisse in der Türkei an und hat mit „Ellbogen“ ein gelobtes Romandebüt vorgelegt. Eine Begegnung mit der Berliner Autorin.

In ihrer Kolumne „Minority Report“ schreibt die „taz“-Redakteurin Fatma Aydemir einmal sehr bissig über ihre Interviews. In neun von zehn werde sie gefragt, was denn ihre Eltern zu ihrem Roman „Ellbogen“ sagten und wie sie, die Germanistik studiert habe, über eine „sozial abgehängte“ und „bildungsferne“ Protagonistin schreiben könne? Sie sagt dann, Mama sei „noch nicht ganz durch“ mit dem Buch und Papa habe „keine Zeit für so einen Quatsch“. Sanft und zurückhaltend wirkt die Autorin auf den ersten Blick, aber in dieser selbstbewussten und ironischen Reaktion spürt man ihren Kampfgeist.

Neben der Reflexion patriarchalisch-türkischer Familienverhältnisse zählt auch der alltägliche, mitunter gut gemeinte Rassismus, den sie selbst oft erlebt hat, zu ihren Themen. Die Geschichte ihrer Familie gehört zum Stoff-Fundus für diese Geschichte um ihre wilde Heldin Hazal. Fatma Aydemir, 1986 in Karlsruhe geboren, spricht mit großer Wärme von ihr. Hazal ist ihr denkbar fern und doch in vielem ganz nah – beispielsweise haben sie den gleichen Musikgeschmack. „Sie könnte meine beste Freundin sein“, sagt Aydemir, obwohl sie Hazal manchmal auch schrecklich findet, intolerant und gewalttätig. Eine eigensinnige, starke und großartige Figur, verzweifelt und hoffnungsvoll, dickköpfig und verletzt, großmütig und zur Freundschaft begabt.

Der Roman thematisiert, was es heißt, erwachen zu werden und Autoritäten infrage zu stellen

Hazal trifft viele falsche Entscheidungen, aber wenn sie selbst in Gefahr ist, funktioniert ihr Instinkt. Nach einer Gewaltkatastrophe im U-Bahnhof, in die sie und ihre beiden Freundinnen sich verstrickt haben, setzt sie sich ins Flugzeug nach Istanbul, ihren Sehnsuchtsort – wo sie vorher nie war und nur eine Skype-Bekanntschaft hat. Sie kommt in eine Stadt, die unter Strom steht. Die politischen Spannungen entladen sich immer wieder in Attentaten und Anschlägen, bis es zum Militärputsch kommt. Hazal versteht nichts, stöhnt unter dieser Überforderung und beginnt in ihrem holprigen Türkisch hartnäckig zu fragen.

Diese Wendung ist erzählerisch klug, denn Hazal, die in Berlin viel physische und psychische Gewalt über sich hat ergehen lassen, wird plötzlich mit ganz anderen, ihr unbekannten Gewaltformen konfrontiert. Sie lernt unterschiedliche Menschen kennen und wird nicht freundlich empfangen – auch hier sind ihr viele Türen verschlossen, wenn auch ganz andere als in Berlin. Sie entdeckt auch, dass sie nichts über ihre Familie und deren kurdische Wurzeln weiß. Und was es heißt, volljährig zu sein und Autoritäten infrage zu stellen – diese Frage stellt sich jetzt mit einer ganz neuen Schärfe.

Den Anschlag auf den Flughafen und den Militärputsch hat Fatma Aydemir in Istanbul erlebt. Die Stadt, auch für sie Sehnsuchtsort, hat sie zu ihrem Schreibort gemacht, denn die Frage nach ihrer deutsch-türkischen Identität wurde durch das Romanprojekt plötzlich zentral. Erst im zweiten Arbeitsanlauf, ausgerechnet im Jahr des Putsches – über den sie dann für die „taz“ berichtete –, gelang es ihr, sich von der journalistischen Schreibhaltung zu lösen und sich ganz auf ihre Figur einzulassen.

Erst als sie diese klar vor sich sah, ihre Stimme hörte und ihre innere Zerrissenheit und Taubheit spürte, wurde der Stoff für sie handhabbar. Im Roman will sie nichts erklären und keine Antworten geben, sondern nur Fragen stellen, vorzugsweise unbequeme. Als sie in Istanbul miterlebte, wie die politischen Ereignisse das private Leben ihrer Freunde umkrempelten, wusste sie, das gehört mit in die Geschichte – obwohl ihr Lektor gegen die vielen neuen Themen protestierte.

Aydemir träumte davon zu schreiben, traute es sich aber nicht zu

Eher durch Zufall landete die Autorin nach dem Abitur am Germanistischen Seminar in Frankfurt, begann dort exzessiv zu lesen und wünschte sich, eines Tages selbst zu schreiben, auch wenn sie sich das damals nicht zutraute und dachte, es stehe ihr nicht zu. 2012 kam sie nach Berlin, wohnte bei ihrer Tante unweit des Leopoldplatzes, eines Schauplatzes ihres Romans, den sie damals nur auf dem Weg zur Arbeit sah. Ohne Journalistenausbildung war sie Redakteurin geworden, das Handwerk brachten ihr die Kollegen bei.

Fatma Aydemir liebt das journalistische Schreiben und hat wegen Erdoğans Politik das Projekt „taz.gazete“ initiiert, eine deutsch-türkische Online-Ausgabe, in der Journalisten und Journalistinnen aus der Türkei und der Diaspora frei ihre Meinung äußern (www.gazete.taz.de). Ihre Erfahrungen als Autorin fließen oft in ihre Kolumnen ein, etwa wenn sie bei Lesungen gefragt wird, wie sie Erdoğans Absichten einschätzt oder ob sie Feministin sei. Eine naheliegende Frage, denn die Wut über alles, was Frauen in ihrer Freiheit einschränkt, klingt in jedem ihrer Sätze an (vor allem in ihren Artikeln für das „Missy Magazine“). Erdoğans Sieg beim Verfassungs-Referendum hält Aydemir für das Ergebnis einer Manipulation an zwei Millionen Wahlzetteln. In Wahrheit, schreibt sie in einem Kommentar in der „taz“, habe die Türkei „am Sonntag Nein gesagt. Bloß hielt sich Erdoğan dabei die Ohren zu.“

Ein eindrucksvoller Typus der angry young woman tritt mit Hazal in die deutsche Literatur, und die Autorin kennt das Umfeld ihrer Heldin genau. Der Wedding war und ist für Aydemir ein Familienort, früher gleichbedeutend mit Berlin. Und wie Hazals Eltern in Deutschland keine Wurzeln schlagen, weil sie vergeblich von einer Rückkehr in die Türkei träumen, lebten auch Aydemirs Großeltern, die kein Deutsch sprachen, als Gastarbeiter in einer Parallelwelt. Das Lebensgefühl der Kinder spiegelt sich in Hazals Verzweiflung. Die Barbie-Welt, von der sie träumt, ist ihr verschlossen.

Mit „Ellbogen“ wollte die Autorin eine „schnelle, harte Geschichte erzählen, in der alles schonungslos angeschaut wird“. Sie hat dafür eine überzeugende, klare Sprache gefunden, die ohne jeden Slangmischmasch auskommt. Dass Istanbul für eine alleinstehende junge Frau keineswegs ein freundlicherer Ort ist als Berlin, merkt ihre Protagonistin schnell. Doch erst dort wird Hazal klar, „dass Scham viel beschissener ist als Angst. Dass Scham einem den letzten Verstand rauben kann.“

Fatma Aydemir: Ellbogen. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2017. 272 S., 20 Euro. Aydemir liest am 27. April in der Akazienbuchhandlung, Akazienstraße 26.

Nicole Henneberg

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