Mircea Cartarescu auf der Leipziger Buchmesse: Das weiche Tier und die verlassene Schale
Zum Auftakt der Leipziger Buchmesse wird der rumänische Dichter Mircea Cartarescu mit dem Preis zur Europäischen Verständigung geehrt, der in seiner Rede von der Wirkmächtigkeit der Bücher erzählt.
Die Eröffnungsabende der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus folgen ehernen Regeln. Der Festakt strapaziert mit grundsätzlich mindestens zwei Stunden selbst das geduldigste Sitzfleisch, und die erste Hälfte, in der erst der Bürgermeister, dann der Vorsteher des Börsenvereins und schließlich der Ministerpräsident ihre Gedanken zur Welt und zur Stunde entfalten, ist Geistesvernichtung erster Güte - unter dem Vorwand, dem Geist der Literatur zu dienen.
Mehr kulturkritische Versatzstückrhetorik, aus der das gedruckte Buch noch in hundert Jahren als Phönix aus den digitalen Aschen hervorgehen wird, ist nirgends, und das Maß lobbyistischer, lokal- und landespatriotischer Formeln taugt für jede Enzyklopädie der Gemeinplätze. Als nach Andreas Müller und Heinrich Riethmüller auch noch Stanislaw Tillich über den Namen von Mircea Cartarescu stolperte, dem rumänischen Schriftsteller, der gleich mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet werden sollte, kam immerhin einen Moment lang Heiterkeit auf. Auch konnte zum 50-jährigen Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, das auf der Messe begangen wird, kein Zweifel an der Stabilität der Staatenfreundschaft entstehen: In Gestalt des Vorspiels zu den „Meistersingern“ hatten die jüdischen Gäste ein ordentliches Pfund Richard Wagner klaglos ertragen.
Mircea Cartarescu: nur ein Werkzeug höherer Mächte
Doch wenn man dann so richtig mürbe ist, reißt der öde Himmel manchmal auf, und ein Dichter wie Mircea Cartarescu tritt ans Pult, einer, der alles, was bis dahin reine Behauptung über die Wirkmächtigkeit von Literatur war, im Handumdrehen bestätigt. So, wie er in charismatischer Demut behauptet, dass er nur ein Werkzeug höherer Mächte sei, die ihm den Stift seiner Notizbücher führten, nimmt man ihm das sofort ab. Religion, sagt er, sei für ihn nicht Profession, sondern Religion - und Franz Kafka, der sich beruflich nie als Schriftsteller definiert habe, deshalb sein Held wie der jedes wahren Schriftstellers.
Schon Uwe Tellkamp, der in seiner Laudatio die visionäre Farbigkeit von Cartarescus „Orbitor“-Trilogie eindringlich beschworen hatte, hatte diesen Zug angedeutet: „Es gibt wohl keine Kunst, die den Namen verdient, ohne ein Verhältnis zu Gott - und ohne Humor. Im Bukarest der späten Ceausescu-Ära ist es der Galgenhumor der ums Überleben kämpfenden Menschen. Cartarescus Roman ist nicht nur eine Reise ins Ich, diesen vielleicht rätselhaftesten aller Sterne, nicht nur Sprachkunstwerk, Pandämonium der Sinneseindrücke, Schöpfungsmythos und Hochtechnologie-Labor, in dem Physiker, Hirnforscher, Anatomen, Spezialisten der Erinnerung neben Mystikern und Engelsbeschwörern arbeiten; er enthält auch Ausflüge in eine Wirklichkeit, die nur mit dem Lachen Swifts zu ertragen gewesen sein muss.“
Literatur als "inneres Tagebuch"
Literatur ist für Cartarescu in der Tat „ein inneres Tagebuch“, das gar nicht unbedingt für die Veröffentlichung bestimmt ist: „Die Bücher sind lediglich das Endprodukt eines Prozesses der Selbst- und Welterkenntnis, sie sind die leeren, von dem weichen Tier, das sie mal bewohnt hat, verlassenen Schalen.“ Sie zeugen von einer Welterkenntnis, die sich, so tief seine Erzählkunst von den Atmosphären der Stadt zehrt, in der er 1954 geboren wurde und bis heute lebt, weder auf Rumänien noch die Region beschränken lassen will.
„Ich bin KEIN Autor aus Osteuropa“, sagt er in der klangvollen Sprache seines Landes. „Ich erkenne jenes Drei-Zonen-Europa, bestehend aus einem zivilisierten Westeuropa, einem neurotischen Mittel- und einem chaotischen Osteuropa NICHT an, weder geopolitisch noch kulturell, religiös oder sonst irgendwie. Mein Traum gilt einem vielgestaltigen, aber nicht schizophrenen Europa.“ Und so kann er guten Gewissens behaupten, dass seine eher poetischen Gesängen gleichenden Romane „nicht von irgendwelchen Lämmchen der rumänischen Folklore oder von orthodoxen Rosenkränzen durchsetzt“ sind, sondern geprägt sind „von Dantes Sternen, John Donnes Kompass, der Lanze des Cervantes, von Kafkas Käfer, Prousts Madeleine, dem Butt des Günter Grass.“ Und auch diese Zusammenhänge sind ihm noch zu eng: „Ich könnte Portugiese, Este oder Schweizer sein. Ich könnte Frau sein, Hellene oder Barbar. Die Textur meiner Texte wäre natürlich jedes Mal eine andere. Ihr Geist aber wäre unwandelbar der gleiche. Denn Valéry lag nicht ganz falsch mit der Behauptung, dass man alle Gedichte, die je geschrieben wurden, einem einzigen zeitlosen Dichter zusprechen könnte, dem schöpferischen Geist eben.“
Streben nach einer gemeinsamen Menschheitserzählung
Mit Blick auf die philosophischen Erkenntnisinteressen der griechischen Antike sieht Cartarescu ein großes kollektives Unbewusstes am Kunstwerk weben, das die Grenzen des europäischen Kulturraums sprengt - und dann sogar den Kolumbianer Gabriel García Márquez, den Amerikaner Thomas Pynchon oder den Japaner Yasunari Kawabata einbezieht. Man sollte das nicht als Rückfall in koloniales Denken kritisieren, sondern als Versuch betrachten, eine universale künstlerische Entwicklungslogik zu definieren, die eben nicht auf das exotisch Andere starrt, sondern nach einer gemeinsamen Menschheitserzählung strebt. Am Ende hatte sich sogar das Gewandhausorchester unter seinem englischen Dirigenten Robin Ticciati aus der Schwerfälligkeit des Abends gelöst und spielte die beiden letzten Sätze von Beethovens vierter Symphonie mit einer federnden Eleganz, in der die gleiche Liebe zum funkelnden Detail steckte wie in Cartarescus Sätzen.