Kafka in Berlin: Das vergessene Haus
Nach einem Bild von Franz Kafkas erster Steglitzer Adresse wurde lange gesucht. Jetzt ist eine Postkarte von 1923 aufgetaucht. Wir zeigen sie exklusiv und erzählen die Geschichte dazu.
In Steglitz, unweit der Schloßstraße, stand ein Haus, in dem Franz Kafka im Herbst 1923 schrieb: „Ich bin übrigens heute auch nicht im Besitz aller Geisteskräfte, zu viel musste ich abgeben an ein ungeheures Ereignis: Ich werde am 15. November übersiedeln. Ein sehr vorteilhafter Umzug, wie mir scheint. (Ich fürchte mich fast, diese Sache, die meine Hausfrau erst am 15. November erfahren wird, zwischen ihren über meine Schultern hinweg mitlesenden Möbeln aufzuschreiben, aber sie halten, wenigstens einzelne, zum Teil auch mit mir.)“
Die Vermieterin hieß Frau Hermann, und ihr setzte Kafka mit seiner Erzählung „Eine kleine Frau“ ein – wenn auch zwiespältiges – literarisches Denkmal. Zu sehr hatte die Ur-Berlinerin den empfindsamen Gast aus Prag vor dessen hier angedeutetem Umzug in die nahe gelegene Grunewaldstraße 13 gequält. Zum einen waren da die Mietforderungen, die zum Schluss bis zu einer halben Billion Reichsmark betrugen – man befand sich auf dem Höhepunkt der Inflation. Denkbar, dass sie ihm daneben mit Bemerkungen zur „wilden Ehe“ mit Dora Diamant zusetzte. Die reiste täglich aus dem Scheunenviertel an, um Kafka als Freundin, Geliebte und Haushälterin zur Seite zu stehen.
89 Jahre später trage ich bei Spaziergängen auf Kafkas Steglitzer Spuren, die ich seit 2010 mit Olaf Tetzinski anbiete, folgenden Satz an der Straßenkreuzung von Rothenburg- und Muthesiusstraße vor: „Diese kleine Frau nun ist mit mir sehr unzufrieden, immer hat sie etwas an mir auszusetzen, immer geschieht ihr Unrecht von mir, ich ärgere sie auf Schritt und Tritt; wenn man das Leben in allerkleinste Teile teilen und jedes Teilchen gesondert beurteilen könnte, wäre gewiss jedes Teilchen meines Lebens für sie ein Ärgernis.“ Genau hier, wo heute hinter einem Jägerzaun hohe Eiben wachsen und der Neubaukomplex Muthesiusstraße 20/22 steht, verortet Reiner Stachs Kafka-Biografie „Die Jahre der Erkenntnis“ ein dreistöckiges Eckhaus mit Erker. Abbildungen waren jedoch lange Zeit nicht bekannt. Denn das Haus, das zu Kafkas Zeiten, vor der Umbenennung der damaligen Miquel- in Muthesiusstraße anno 1927, die Nummer 8 war, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Bei einem Spaziergang im August dieses Jahres fragten wir im Lokal „Rothenburg Eck“ nach einem Stuhl für eine erschöpfte Teilnehmerin. Wir bekamen daraufhin nicht nur die Erlaubnis, im Biergarten Platz zu nehmen, sondern wurden auch mit einer ungewöhnlichen Entdeckung belohnt. „Und wer hat gegenüber gewohnt?“ rief der Wirt Edis Edhemovic meinem Kollegen entgegen – noch nicht wissend, dass wir genau deshalb hier waren. Dann schob er noch lässig nach: „Wir haben auch ein Bild von dem Haus!“
Besagtes Bild, eine hochkopierte historische Postkarte von circa 1909, die wir hier erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zeigen, war dem „Rothenburger“ vor Jahren von einem inzwischen verstorbenen Gast geschenkt worden. Unmöglich, dachte ich – denn ich war davon überzeugt, dass keiner der Kafka-Biografen einen solchen Fund übersehen haben konnte. Bilder von Kafkas Berliner Adressen gibt es lediglich zwei: eins von der Wohnung in Zehlendorf, in der heutigen Busseallee 7/9, seiner letzten Station in Berlin, bevor er im März 1924 todkrank nach Prag zurückkehren musste; und eines von dem einzig erhaltenen Haus in der Grunewaldstraße.
Nun kann man es sich auch in der Muthesiusstraße vorstellen: wie Franz Kafka aus der Tür des Hauses Miquelstraße 8 tritt. Schilderungen aus der Zeit verdanken wir Dora Diamant, seiner 1898 in Polen geborenen letzten Liebe, die Kafka im Sommer 1923 an der Ostsee kennengelernt hatte. Den Umzug aus der Miquelstraße bewältigte sie am 15. November 1923 mit einem Handkarren, während Kafka die geheizten Räume der Hochschule der jüdischen Wissenschaft (heute Leo-Baeck-Haus, Tucholskystraße 9) genoss, für ihn „ein Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Inneren“.
Im letzten Herbst seines Lebens, schwer tuberkulosekrank, hatte der im Juni 1924 verstorbene Kafka damit erreicht, wonach er sich schon vor dem Ersten Weltkrieg, während seiner „Heiratsversuche“ mit Felice Bauer gesehnt hatte: in Berlin zu leben und Prag, „dem Mütterchen mit Krallen“, endlich zu entkommen. Damals – um auch diese Berliner Bleibe zu nennen – war der Versicherungsangestellte übrigens unweit des Anhalter Bahnhofs im Askanischen Hof abgestiegen. Heute befindet sich dort – ausgerechnet – der Glaspalast einer Versicherung.
Doch zurück in die Muthesiusstraße: Vermutlich haben die Bäume, die heute den Blick Richtung Zimmermannstraße ablenken, dafür gesorgt, dass bis dato kein Fachmann die Abbildung der Adresse Kafkas zugeordnet hat. Wenige Wochen nach unserem Fund bestätigte der Kafka-Experte Reiner Stach dann – auch für ihn selbst überraschend! – die Echtheit der Ansicht jenes Hauses, in dem Franz Kafka – oben im Erker des dritten Stocks – von Frau Hermanns Möbeln beim Schreiben beobachtet wurde.
Die Autorin ist seit 2008 mit Literaturspaziergängen im Berliner Südwesten unterwegs. www.mondegrin.de
Sarah Mondegrin