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Der Turmbewohner. Friedrich Hölderlin in einer Bleistiftskizze von Schreiner und Lohbauer aus dem Jahr 1823.
© DLA-Marbach, www.dla-marbach.de

250 Jahre Friedrich Hölderlin: Das Vaterland ist treulos dir geworden

Brot, Blut und Wein: Der Dichter Friedrich Hölderlin wird zu seinem 250. Geburtstag landauf, landab gefeiert – und hat es dennoch schwer.

Ferner war er den Deutschen nie. Doch um ermessen zu können, hinter welchen Schleiern und durch welche Verzerrungen hindurch Friedrich Hölderlin heute zu den Wenigen spricht, die er in Bann schlägt, müsste man auch die Nähe nachempfinden, aus der sich einmal die Vielen ergriffen fühlten.

Frühere Leser waren mangels anderer Suchtstoffe für die prophetische Vagheit seiner Vision, deren rauschhafte Suggestivität auf einer rhythmischen Sprache von zwingender Genauigkeit beruht, vermutlich empfänglicher. Sicher gelang es ihnen aber auch besser, die Leerstelle zwischen Götterferne und der Aussicht auf einen „kommenden Gott“, die jede Generation auf ihre Weise herausfordert, mit Sinn zu füllen.

Hölderlin zu lesen, heißt deshalb mehr als für jeden anderen deutschen Dichter, seine Rezeptionsgeschichte mitzulesen. Das „weltanschauliche Gegrabsche“, das Karl-Heinz Ott in „Hölderlins Geister“ (Hanser 2019), einer brillanten Folge von Miniaturen und Kurzessays, nachzeichnet, ist keine Nebensache.

Es ist das, was die Lektüre dieses in seiner Fragilität heroischen Einzelgängers ausmacht: ein Ringen um Deutungen, das weit über die Selbstverständlichkeit hinausgeht, dass sich die Perspektiven auf ein Werk im Lauf der Jahre eben ändern.

Vaterländische Gesänge für den Zweiten Weltkrieg?

Ott zeigt die Breite der Interpretationen in ihrer ganzen Absurdität. Während die Nazis in Hölderlins vaterländischen Gesängen die ideale Begleitmusik für die Opfergänge auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs hörten, erklärten ihn die Umstürzler von 1968 zu einem der ihren.

Sie fegten den Ursprungsweihrauch beiseite, mit dem noch Martin Heidegger, der Philosoph der Seinsvergessenheit, die Texte vernebelt hatte, und stilisierten Hölderlin zu einem jakobinischen Revolutionär, wenn nicht gar, wie es Peter Weiss es in einem Drama tat, zum Proto-Marxisten.

Und es ist mit den Vereinnahmungen noch nicht vorbei. Dass Hedwig Schmutte und Rolf Lambert Hölderlin im Jahr seines 250. Geburtstags am 20. März in ihrer arte/SWR-Produktion „Dichter sein, unbedingt“ zu einer Art zivilisationskritischem Ökosozialisten stempeln, der für die Grünen sein könnte, was Heinrich Böll in den 1970er Jahren für die Sozialdemokratie war, mag politisch harmlos sein. Literaturgeschichtlich ist es grotesk.

Weltanschauliche Gerechtigkeit ist nicht leicht zu haben

Das Problem liegt darin, dass weltanschauliche Gerechtigkeit in Sachen Hölderlin nicht einfach zu haben ist. Man kann schnell mit den schlimmsten Missverständnissen aufräumen, indem man sich in die Regalschluchten der Hölderlin-Philologie begibt oder Johann Kreuzers Hölderlin-Handbuch (Metzler Verlag) konsultiert, dessen Neuausgabe leider erst für den Herbst angekündigt ist.

Die tiefe Ambivalenz, die in Hölderlins Texten steckt, wird man damit über alle persönlichen Wandlungen hinweg nicht los – von der gewaltigsten Transformation, der Psychose, die ihn seine letzten 36 Jahre lang in den Tübinger Hölderlinturm und die Obhut des im Auftrag der Mutter treusorgenden Schreinermeisters Zimmer brachte, nicht zu reden.

Auf jede staatskritische Einlassung, die er aus seinem Wohlwollen für die Französische Revolution gewann, kommt ein Abtauchen in mythologische Gefilde, auf jede Forderung nach universellen Menschenrechten eine patriotische Selbstüberhebung.

Hölderlins widersprüchliche Seiten nicht zu leugnen, ist eine Voraussetzung dafür, auch nur in die Nähe eines Verstehens zu kommen – wenn er mit den Schleifen und Schlaufen seiner Verse, den sich auftürmenden Komparativen, den Einschüben und sich nur mühsam zu grammatischer Vollständigkeit rundenden Sätzen, nicht zusätzlich grammatisch-syntaktische Fallstricke auslegen würde.

Ein Sirenengesang in immer neuen Anläufen

Vor jedem Sinneffekt liegt die Musik seiner Verse. Ein einziger Sirenengesang, mit dem er in immer neuen Anläufen der deutschen Sprache ein Geheimnis zu entreißen versuchte, das sie nicht preisgeben wollte.

Der Mangel an geduldiger Bereitschaft, sich ihm zu überlassen, bildet heute das größte Hindernis einer breiten Hölderlin-Rezeption – und das inmitten eines beispiellosen Aktionismus. Unter den Hunderten von Veranstaltungen, die das verschwenderisch schöne Programmbuch des Deutschen Literaturarchivs Marbach auf 300 Seiten auflistet (online unter hoelderlin2020.de), sind einige sicher dazu angetan, auch bei denen, die zuvor Wachs in den Ohren hatten, eine „Hyperion“-Ekstase auszulösen.

Dies lenkt allerdings nur von der grundlegenden Frage ab, worin das Erlebnis von Hölderlins Dichtung überhaupt besteht.

In „Hölderlin auf dem Dachboden“, einem Aufsatz aus dem Jahr 1960, erinnert sich der 33-jährige Martin Walser, wie er als 15-Jähriger ein zerfleddertes Bändchen aus der Cotta’schen Handbibliothek in die Hände bekam und darin Hölderlins „Heimkunft“ entdeckte, ein Gedicht, in dem dieser eine Reise über den Bodensee nach Lindau antritt.

Ahnende Resonanz und wissende Entschlüsselung

Packend beschreibt Walser den Übergang von einem nicht mehr naiven, aber doch uninformierten Lesen, zu einem, das in Kenntnis hochmögender Interpretationen seine Kraft verliert. „Was man verstand“, erklärt er, „hat man sofort verstanden, und das andere hat man immer wieder mitgelesen und die Ahnungen registriert, die es erweckte. Ich glaube, es war von Bedeutung, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte, der mir die Ahnungen kurz und bündig mit begreiflichen Deutungen weggewischt hätte.“ Das als erwachsen geltende Lesen macht damit Schluss: „Das Besteck ist so wichtig geworden wie das Essen.“

Dieser Kipppunkt zwischen ahnender Resonanz und wissender Entschlüsselung beschäftigte ihn noch in seiner Rede zum 200. Geburtstag des Dichters am 21. März 1970 im Württembergischen Staatstheater Stuttgart. Er polemisierte gegen das „Interlineargemurmel“ der Exegeten und ihre „begehbaren Tautologien“.

Es sei schwer, diesen Gedichten gegenüber „weder zu befangen noch zu kühn zu werden“. Nur: Wo ist das rechte Maß? Und gilt der kleine Grenzverkehr, den es bei jedem verstehenden Lesen zu organisieren gilt, in abgemilderter Form nicht für jeden literarischen Text?

Feldpost aus Afrika

Zu den spektakulärsten Zeugnissen der Rezeption gehören Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Das erste „Iduna“-Jahrbuch der Hölderlin-Gesellschaft aus dem Jahr 1944, ein Jahr nachdem eine nationalsozialistisch eingefärbte Professorenschaft den 100. Todestag an der Tübinger Universität groß begangen hatte, zitiert die Witwe eines Stalingrad-Kämpfers, dessen letzte Worte aus der Elegie „Stuttgart“ gestammt haben sollen: „Eins nur gilt für den Tag, das Vaterland, und des Opfers/ Festlicher Flamme wirft jeder sein Eigenes zu.“

Ein Feldwebel von der Ostfront erklärt, „wie viel ,Veröstlichung’ – oft wertvoller junger Menschen, die seit Jahren durch den Schicksalskampf der Deutschen an die niederdrückende Umgebung dieser Front gebunden sind – sich durch die Beschäftigung mit den Werken unseres großen Dichters verhindern ließe.“

Und ein Afrikafeldzügler berichtet: „Oft habe ich alles liegen lassen müssen, mein Gewehr und meinen Hölderlin aber habe ich immer wieder mitgenommen. Ich trug die Gedichte in der Tasche der Gasplane. Täglich habe ich darin gelesen, wenn nur etwas Zeit da war. Ein paar Seiten und meine Seele bekam wieder einen Funken Leben, und Berg und Tal, Quelle, Baum und Strauch wuchsen mir dann aus dem unendlichen Sand der afrikanischen Wüste.“

Einübung ins Heldenschicksal?

Man könnte, wenn diese Gedichte nicht als offizielles Sedativ in einem verbrecherischen Krieg gedient hätten, fast neidisch sein auf die Wirkung, die sie entfalteten. Denn es war nicht nur die Einübung in ein Heldenschicksal, mit dem ein tatsächlich einzigartiges Gedicht wie „Tod fürs Vaterland“ der Propaganda diente.

Man muss gehört haben, mit welcher stillen Feierlichkeit in Karl Ritters Film „Stukas“ aus dem Jahr 1942 das Versprechen rezitiert wird: „Die Schlacht / Ist unser! Lebe droben, o Vaterland, / Und zähle nicht die Toten! Dir ist,/ Liebes! nicht Einer zu viel gefallen.“ Und man muss gelesen haben, mit welcher Dreistigkeit der österreichische Dichter Josef Weinheber diese Aufforderung in einer berüchtigten Ode an Hölderlin verlängerte: „Führ uns, Genius, spür schon, / wie Gefallne dir jauchzen, Held!“

Die Heimat seiner letzten 36 Jahre. Der Hölderlintum in Tübingen, fotografiert von Barbara Klemm. Das Bild stammt aus einem im Kerber Verlag (Bielefeld 2020. 128 Seiten, 24 €) erschienenen Band, der auch zahlreiche andere Motive aus Hölderlins Leben einsammelt.
Die Heimat seiner letzten 36 Jahre. Der Hölderlintum in Tübingen, fotografiert von Barbara Klemm. Das Bild stammt aus einem im Kerber Verlag (Bielefeld 2020. 128 Seiten, 24 €) erschienenen Band, der auch zahlreiche andere Motive aus Hölderlins Leben einsammelt.
© Barbara Klemm

Der von jedem Inhalt abgelöste Gebetscharakter von Hölderlins Gedichten und ihre selbsthypnotische, selbst Eis- und Sandwüste in eine halb süddeutsche, halb griechische Landschaft verwandelnde Kraft, dürften wichtiger gewesen sein. In manchem führten sie nur eine eskapistische Leistung fort, die politisch unverdächtige Schriftsteller schon Jahrzehnte zuvor bewegte.

Hans Bethge, der heute vor allem für seine auf chinesische Originale zurückgehenden Nachdichtungen in Gustav Mahlers symphonischem „Lied von der Erde“ bekannt ist, bekannte 1904 in einer Monografie: „Hölderlin! Wenn ich an Dein Geschick und den vertrauten Rhythmus Deiner gedichteten Worte denke, so ziehen Glück und die Schatten der Wehmut zu gleicher Zeit in meine Brust. Dir danke ich für Stunden einer von irdischem Staub entrückten Schönheit, wie sie der Anblick des abendlichen Meeres spendet. Dir will ich meine Treue bewahren, die durch das Feuer der Jugend gehärtet ist, wie der Stahl in der Flamme.“

Goethe versus Hölderlin

Dieser individualistische Ton scheint in der Hölderlin-Verehrung des Kreises um Stefan George eine erste Erweiterung gefunden zu haben, traute aber seinen eigenen volltönenden Worten wohl nicht recht. Wenn der junge, 1916 vor Verdun gefallene Germanist Norbert von Hellingrath, der mit seiner Edition des Spätwerks den Dichter überhaupt erst in seiner ganzen Dimension sichtbar machte, in einem nachgelassenen Vortrag Hölderlin gegen Goethe starkmachte, war an eine kulturelle Demokratisierung wohl ausdrücklich nicht gedacht.

„Wir nennen uns ,Volk Goethes’“, heißt es darin, „weil wir ihn als Höchsterreichbaren unseres Stammes, als höchstes auf unserem Stamme Gewachsenes sehen in seiner reichen, runden Menschlichkeit, welche selbst fernere, die sein Tiefstes nicht verstehen mögen, zur Achtung zwingt. Ich nenne uns ,Volk Hölderlins’, weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, dass sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlacken-Kruste, die seine Oberfläche ist, nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt; sich in Menschen äußert, die zum mindesten längst gestorben sein müssen, ehe sie gesehen werden, und Widerhall finden.“

Solche Selbststilisierungen gefielen sich in einem Elitedenken, dem man immerhin zugute halten muss, dass es auch den Widerstand gegen Hitler beflügelte.

In den Händen der Philosophen

Vielleicht waren all diese in erster Linie auf das Gemüt setzenden Lektüren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Grund dafür, dass Hölderlin in die begriffsstarken Hände der Philosophen fiel. Neben dem alles erdrückenden Martin Heidegger und seinem weitaus sympathischeren Schüler Hans-Georg Gadamer haben sich von Romano Guardini bis zu Dieter Henrich, von Giorgio Agamben bis zu Alain Badiou viele auf ihn gestürzt.

Noch heute schwingt das Pendel zwischen Poesie und Philosophie einmal in diese und einmal in jene Richtung. Rüdiger Safranski etwa, der Hölderlin gerade eine Biografie gewidmet hat, tut alles, um Hölderlin so scharfsinnig wie seine Tübinger Stiftsfreunde Schelling und Hegel aussehen zu lassen und liest ihn als entscheidenden Mitautor der Schrift „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“.

Was Hölderlin selbst davon gehalten hätte, ließ er seinen Freund Neuffer 1798 in einem Brief wissen: „Es gibt zwar ein Hospital, wohin sich jeder auf meine Art verunglückte Poet mit Ehren flüchten kann – die Philosophie. Aber ich kann von meiner ersten Liebe, von den Hoffnungen meiner Jugend nicht lassen, und ich will lieber verdienstlos untergehen, als mich trennen von der süßen Heimat der Musen, aus der mich bloß der Zufall verschlagen hat.“

Kontaminiert für die Gegenwart?

Für das Gros der Dichter, die ihm zu Anfang des 20. Jahrhunderts gehuldigt hatten, galt er jedenfalls erst einmal als kontaminiert. Die Ausbeute zeitgenössischer Widmungen, die Hiltrud Gnüg vor bald 30 Jahren in einem Reclam-Bändchen herausgab, ist überschaubar – und wäre ohne den Blick auf die Sächsische Dichterschule im anderen Deutschland erst recht dürftig.

Das hat sich nicht geändert. Außer Uwe Kolbe, Gerhard Falkner und Durs Grünbein gibt es keine renommierten Hölderlinologen; der Bruch zur Generation der Lyriker und Lyrikerinnen, die heute im Mittelpunkt stehen, ist offensichtlich.

Da ist es ein hübsches Kuriosum, dass Markus Fauser kürzlich ein Jugendgedicht seines Vechtaer Schützlings, des später sich so wild gebärenden Rolf Dieter Brinkmann, zutage förderte. Brinkmann zeigt sich darin noch als lächerlicher Epigone: „Das Vaterland / ist treulos dir geworden und die Gaben / – Brot und Wein – // sind den ungeladenen Gästen verteilt.“

Der Schritt in Hölderlins Bann, zeigt diese Etüde, ist klein, der Schritt heraus ist groß. Zum Geburtstag des Dichters am 20.März kann man so unvoreingenommen wie nie zuvor lernen, den einen wie den anderen zu gehen.

Das Berliner Haus für Poesie und das Literaturforum im Brecht-Haus haben ihre Hölderlin-Gedenkveranstaltungen abgesagt. Das Literaturhaus in der Fasanenstraße hat sein für Freitag, den 20. März zwischen 12 bis 24 Uhr geplantes Fest ins Netz verlagert, wo es unter literaturhaus-berlin.de live gestreamt wird.

Gregor Dotzauer

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