Alison Bechdels Comicdrama "Wer ist hier die Mutter?": Das unsichtbare Kind
Intim, obsessiv, grandios: Die amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel und ihr Comicdrama „Wer ist hier die Mutter?“
Zwei Frauen stehen vor einem Kino. Eine schlägt vor, einen Film anzusehen und Popcorn zu kaufen. Die andere ist skeptisch und erklärt der Freundin ihre Kinoregel: Sie gehe nur in Filme, in denen mindestens zwei Frauen vorkommen, die miteinander sprechen – und zwar über etwas anderes als einen Mann. „Ziemlich streng, aber eine gute Idee“, findet die Freundin. „Der letzte Film, den ich mir ansehen konnte, war ,Alien’“, sagt die andere.
Diese Geschichte, die damit endet, dass die Frauen nach Hause gehen und dort Popcorn machen, erschien 1985 unter dem Titel „The Rule“ in Alison Bechdels Comic-Strip-Serie „Dykes To Watch Out For“. Fast 30 Jahre später ploppte die Dreikriterienregel plötzlich wieder auf und entwickelte sich zu einer viralen Erfolgsstory. Mittlerweile gibt es eine Website, die Filme nach dem Bechdel-Test einstuft, und in Schweden nutzen Kinos ihn zur Filmbewertung. Zwar hat der Test als Indikator für einseitige Genderrepräsentation auch seine Schwächen, so würde etwa „Gravity“ durchfallen, weil es neben der von Sandra Bullock gespielten Heldin keine andere Frauenfigur gibt. Trotzdem eröffnet er eine erhellende Perspektive auf Werke wie „Pulp Fiction“ oder „Grand Budapest Hotel“, die ebenso wenig bestehen wie die „Herr der Ringe“-Filme.
Man kann den Test, den sich übrigens eine in dem Strip erwähnte Freundin von Bechdel ausgedacht hat, natürlich auch auf Bücher anwenden. Bechdels eigenes, gerade auf Deutsch erschienenes, sehr persönliches Comicdrama „Wer ist hier die Mutter?“ würde ihn mit Leichtigkeit bestehen. Hier reden fast ausschließlich Frauen miteinander, um Männer geht es dabei praktisch nie. Das liegt daran, dass die 1960 geborene Alison Bechdel lesbisch ist, fast nur mit Frauen befreundet ist und überdies regelmäßig eine Therapeutin besucht. Vor allem aber geht es in diesem grandiosen, intimen und obsessiven Werk um den Versuch der amerikanischen Zeichnerin, die Beziehung zu ihrer Mutter zu verstehen und sich endlich emotional von ihr zu lösen. Ihr Vorbild ist dabei die verehrte und mehrfach zitierte Virginia Woolf, die eben dieses Ziel mit ihrem Familienroman „To The Lighthouse“ erreichte.
Bechdels Methode ist eine komplexe Mischung aus Therapie, Selbstanalyse, Gesprächsprotokollen und Erinnerungsarbeit, bei gleichzeitiger zeichnerischer Verarbeitung dieses Prozesses. Eigentlich der reine Irrsinn, doch gerade dieser selbstreferenzielle Furor und die Akribie in eigener Sache machen „Wer ist hier die Mutter?“ zu etwas Besonderem.
Alison Bechdel geht viel weiter als andere autobiografisch arbeitende Comicautorinnen und -autoren wie etwa Art Spiegelman, Robert Crumb, Marjane Satrapi oder Joe Sacco. Anders als deren meist stringent erzählte Graphic Novels wirkt Bechdels Buch in seiner durch die Zeitenebenen springenden, Fachliteratur, Tagebücher, Zeitungsartikel und Briefe zitierenden Vielschichtigkeit wie eine riesenhafte Collage – so etwas hat man in dieser Form bisher noch nicht gesehen. Mitunter laufen auf einer Seite völlig voneinander unabhängige Dinge gleichzeitig ab, wobei die eckigen Textfelder über den Bildern als eine Art Off-Kommentar dienen.
Bechdel hat sieben Jahre an dieser Komposition gearbeitet, die so virtuos und flüssig ist, dass man beim Lesen wundersamerweise nie den Überblick verliert. Die sieben Kapitel tragen aus der Psychoanalyse entliehene Überschriften wie „Übergangsobjekte“ oder „Wahres und falsches Selbst“ und beginnen stets mit einem Traum Bechdels, den sie anschließend kurz deutet. Der erste endet mit dem Sprung in ein dreckiges Gewässer, was große Erleichterung bei ihr freisetzt. „Das Gefühl dieses Traums hielt tagelang an. Ich hatte mich aus einer Falle befreit und war mit blindem Vertrauen in ein lebendiges und sinnliches Etwas eingetaucht“, schreibt sie. Der anstehende Sprung ist ein Gespräch mit ihrer Mutter, das sie gerade beim Autofahren probt. Sie will ihr sagen, dass sie an einem Buch über ihren Vater schreibt. Es geht um „Fun Home“, ihr Graphic-Novel-Debüt über 20 Jahre nach „Dykes To Watch Out For“, mit dem ihr 2006 der Mainstreamdurchbruch gelang.
Alison Bechdel analysiert sich selbst und geht regelmäßig zur Therapie
Das Buch handelt von Bechdels Jugend in einem Dorf in Pennsylvania, wo ihre Familie ein Beerdigungsinstitut (Funeral Home) führt. Als sie bereits auf die Uni geht, schreibt sie ihrer Mutter, dass sie lesbisch ist. Es folgt ein aufgebrachter Briefwechsel und ein unglaubliches Telefonat: Ihre Mutter erzählt ihr, dass der Vater heimlich Affären mit Männern hat. Vier Monate später wird er von einem Sattelschlepper überfahren. Alison glaubt, dass er sich absichtlich davorgeworfen hat, und beginnt eine Recherche in die verborgene Vergangenheit ihres Vaters.
Der beeindruckende, in schwarz-weißgrau gehaltene Band „Fun Home“ ist deutlich konventioneller als das schwarz-weiß-blassrot colorierte „Wer ist hier die Mutter?“, wobei Bechdel auch damals schon auf das Zitieren und Interpretieren von Literatur, Briefen und Tagebüchern setzte. Ihre Eltern sind beide Englischlehrer, haben sich beim Theaterspielen kennen gelernt und lesen viel. In beiden Comics ist unübersehbar, dass Geschriebenes einen hohen Stellenwert in der Familie genießt. Alison Bechdel führt ab ihrem zehnten Lebensjahr Tagebuch. Sie erklärt sich die Welt schreibend, lesend, zeichnend, sucht Trost und Rat in Büchern. So war es nur konsequent, dass sie ihren Vater in „Fun Home“ mithilfe von Marcel Proust, James Joyce und Albert Camus charakterisierte und sich nun selbst anhand der Schriften von Carl Gustav Jung, Alice Miller und Donald Winnicott analysiert.
Vor allem Winnicott, ein 1896 geborener Londoner Kinderarzt und Psychoanalytiker, hat es ihr angetan. Liebevoll zeichnet sie einige seiner Lebensstationen nach und greift unter anderem sein Konzept der „hinreichend fürsorglichen Mutter“ auf. Es geht davon aus, dass eine Mutter trotz vielfältiger Belastungen letztlich immer dafür sorgt, dass ihr Baby alles hat, was es braucht. Es ist eine Absage an das Ideal der perfektionistischen Übermutter. Die Zeichnerin fragt sich nun, wie es um ihre Fürsorge stand und welche Konsequenzen eventuelle Defizit auf sie als Erwachsene haben. Sie kommt zu dem Schluss: „Ich bin nicht verstümmelt, nur verletzt. Und wohl nicht einmal irreparabel.“ Diese Verletzungen zu verstehen und vielleicht zu reparieren – das ist zugleich ihr Therapie- und Buchprojekt.
Ihre Mutter Helen zeichnet Alison Bechdel als resolute alte Dame, die viel Zeitung liest, die Dichterin Sylvia Plath verehrt und häufig mit ihrer Tochter telefoniert. Der Ton ist dabei stets sachlich-nüchtern. Diese Kühle zeigt sich auch in den Rückblenden, etwa als ihr die Mutter vom einen auf den anderen Tag erklärt, dass sie nun zu alt für einen Gute-Nacht-Kuss sei. Alison ist damals sieben. Ihre beiden jüngeren Brüder kommen weiterhin in den Genuss des Rituals, was ihr einen Stich versetzt. Denn Körperkontakt hat im Hause Bechdel Seltenheitswert. Selbst als Alison auszieht, umarmt ihre Mutter sie zum Abschied nicht.
In den abgebildeten Therapiestunden ringt Alison Bechdel mit ihrer Kindheit, in der sie ihre Rolle darin gefunden hatte, der Mutter möglichst wenig zur Last fallen. Ein Kind macht sich unsichtbar. Zurück bleibt Sehnsucht. Immerhin gibt es eine schauspielerische und eine schriftliche Ebene zwischen den beiden. So hilft Helen ihrer Tochter eine Zeitlang mit dem Tagebuchschreiben, als diese wegen eines seltsamen Durchstreichzwangs selbst nichts eintragen kann.
Im Laufe der 300, mit klarem feinen Strich gezeichneten Seiten wird klar, dass die in Vermont lebende Bechdel nie die ersehnte Anerkennung ihrer Mutter gewinnen kann. Helen lehnt den subjektiven Schreibansatz ihrer Tochter aus tiefstem Herzen ab. Sechs Monate nach der Publikation von „Fun Home“ sagt sie: „Das Ich hat in guter Literatur nichts zu suchen.“ Alison Bechdel hatte ihre Mutter nicht um Erlaubnis gebeten, die Familiengeschichte öffentlich zu machen. Man kann ihren Stil auch als eine unterbewusste Form der Rache an ihrer Mutter sehen. Vielleicht ist der Radikalsubjektivismus ihr einziger Weg zur endgültigen Emanzipation. Auf die Frage, ob sie denn nach Fertigstellung des Buches ihr Ziel der Loslösung vom ständigen Gedanken an die Mutter erreicht habe, antwortete Bechdel: „Noch nicht.“
Einige Monate nach dem Erscheinen von „Wer ist hier die Mutter“ ist Helen Bechdel 79-jährig gestorben. Ihre Reaktion auf das Buch über sie ist darin bereits enthalten. Die Tochter hatte ihr die frühen Kapitel gemailt. „Es ist ein Metabuch“, sagt sie am Telefon. Klug, rational und kühl wie immer. Die Zeichnerin, die stets hoch nervös den mütterlichen Reaktionen entgegenzittert, freut sich über diese Einschätzung. Ein kleines bisschen Stolz auf die Tochter gab es schon auch am anderen Ende der Leitung.
— Alison Bechdel: Wer ist hier die Mutter? Ein Comic- Drama. Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler. Kiepenheuer und Witsch. Köln 2014, 304 Seiten, 22,99 €.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität