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Geschichtsschreiber mit Eigensinn: Alexander Kluge.
© Ursula Düren/ picture alliance / dpa

Alexander Kluge über den 30. April 1945: Das unheimliche Vakuum

Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge hat 100 Geschichten über den 30. April 1945 geschrieben. Im Interview erzählt er von einem unheimlichen Datum und dem inneren Chor, der mit ihm bis heute über den Zweiten Weltkrieg spricht.

Herr Kluge, weshalb schreibt ein Autor im Jahr 2014 mehr als 100 Geschichten über einen Montag im April 1945?
Weil es mich berührt. Als 13-Jähriger wollte ich mich über das Erlebnis des Kriegsendes mit meinen Klassenkameraden austauschen. Das ist etwas, das mich nach wie vor fesselt, als wäre es gestern gewesen. Dazu kommt etwas anderes: Freud sagt, man muss an den Widerstandslinien entlang erzählen. Das Schwierige, Unverstandene ist das, was nach Erzählung verlangt. Was ich sowieso weiß, muss ich nicht erzählen.

„Wir Schüler haben den Krieg, als wir ihn erlebten, nicht verstanden“, sagt eine Ihrer Figuren. Ist der damalige Schüler Kluge seit siebzig Jahren damit beschäftigt, zu verstehen, was damals geschehen ist?
Wie die Heinzelmännchen arbeitet etwas in uns, Tag und Nacht. Das ist die Verarbeitung dessen, was uns beeindruckt hat. So geht es mir jedenfalls. Ich schreibe immer noch über die Erfahrung des Luftangriffs auf Halberstadt 1945. Ich schreibe aber auch darüber, dass das Jahr 1983 das gefährlichste Jahr des Kalten Kriegs war. In diesem Jahr war meine Tochter erste einige Monate alt, ich hatte sie gerade begrüßt. Wir hätten damals durch einen Atomschlag umkommen können.

Sie schreiben, dass der 13-Jährige, der Sie vor 69 Jahren waren, aber auch der Sechsjährige, heute noch mit Ihnen spricht. Wie muss man sich dieses Gespräch über die Zeiten vorstellen?
Das ist mein innerer Chor. Dem höre ich zu. Das sind kleine Lebewesen, die den gleichen Namen tragen wie ich. Die leben in mir fort und erzählen. Wenn ich heute durch den Harz gehe, die Landschaft, in der ich aufgewachsen bin, sehe ich immer noch, dass dort die elfte Armee der Wehrmacht bei Kriegsende völlig zerrüttet in kleinen, kümmerlichen Resten kapituliert hat. Sie suchte zwischen den Bäumen des Harz den Feind, um sich zu ergeben. Das war die gleiche elfte Armee, die 1941 sehr stolz vor Sewastopol stand und die Krim erobert hat. Heute schlage ich eine Zeitung auf und lese erneut von der Krim und der Ukraine. Das sind die gleichen Ortsnamen wie 1941. Das ist eine Gesamtrealität, die unterirdisch miteinander verbunden ist. Das kann die Kunst, die Oper, der Film und vor allem die Literatur: Diese wirkliche Realität gegenüber dem aktuellen Wochenprogramm der Nachrichten zu verteidigen.

Eine Figur in Ihrem Buch ist ein Wehrmachtsoffizier, der auf seinen Einsatz wartet. Er hat Zeit und liest einen Roman, der im 18. Jahrhundert in Griechenland spielt. Da fällt ein merkwürdiger Satz: „Solange es Bücher gibt, kann einer in jedem Augenblick aus der Gegenwart in eine andere Welt verschwinden.“
Das ist der Grund, weshalb ich so innig an Büchern hänge. Bücher reden miteinander und bilden zusammen eine zweite Wirklichkeit. Wenn wir nachts schlafen, sprechen die Bücher. Die Bücher schaffen zwischen Ovid und unserer Zeit eine Gegenwart. Das Verblüffende ist, dass diese Kugelgestalt der Zeit solche Geschichten erzählt. Den Roman, den dieser Wehrmachtsoffizier liest, hat ein anderer Wehrmachtsoffizier geschrieben. Er heißt „Der blaue Kammerherr“ und spielt auf den Ägäischen Inseln. Das Buch hat mich, als ich es in den sechziger Jahren gelesen habe, gefesselt.

Eines Ihrer Bücher hat den etwas rätselhaften Titel „Unheimlichkeit der Zeit“. Wann wird die Zeit unheimlich?
Ich will es verkürzt, nämlich bezogen auf den 30. April 1945, beantworten. „Unheimlichkeit der Zeit“ kann sich auch auf ein ganzes Jahrhundert beziehen und hat viele Aspekte. Am 30.April 1945 besteht eine Situation, in der alles unwirklich wird. Egal ob ich eine Frau bin, deren Mann noch an der Front ist, oder ob ich als Soldat der elften Armee durch den Harz irre – alles drängt nach einer anderen Wirklichkeit. Das gesamte Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung ist irreal geworden. Das kann man als sehr unheimlich empfinden. Dieser Tag ist sozusagen ein Vakuum: Wir sehen Menschen ohne ihr Staatswesen. Eine Wirklichkeit ändert sich, die Menschen treten in eine neue Wirklichkeit ein.

Was verbinden Sie mit diesem Nullpunkt?
Es ist ein Nullpunkt im Inneren der Menschen. Sie fangen noch einmal an, Hauptsache, sie kommen nach Hause. Der Nukleus für das spätere Wirtschaftswunder in Westdeutschland ist versteckt in diesem Tag. Während am 30.April 1945 in Berlin noch gekämpft wird, ist meine Heimatstadt Halberstadt schon von Amerikanern besetzt. Alle versuchen aufzuräumen, neu anzufangen, sich einzurichten in den Trümmern. An diesem Tag gibt es an keinem Ort in Deutschland Sicherheit. Und in dieser Nicht-Sicherheit bewegen sich die Menschen dennoch. Sie lassen sich nicht hindern an der Glückssuche. Einen Begriff Deutschland gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht. Nichts ist allgemein, alles ist zerfallen in Einzelheiten.

Erzählen Sie deshalb diesen Tag so zersplittert in über 100 Momentaufnahmen, Bruchstücken, Fragmenten von Geschichten?
Jedes dieser Bruchstücke ist etwas Menschlicheres als das sogenannte Ganze, das vorher da war. Wir sehen in einem Moment exzessive Gegensätze, keine einheitliche Gegenwart. In der Oper „Die Soldaten“ lässt Bernd Alois Zimmermann 11 Szenen parallel stattfinden, simultan. So erzählt die Wirklichkeit Geschichten.

Ein großer Teil Ihres Werkes handelt vom Krieg. Es wäre zynisch, das nur als literarisch ergiebigen Stoff zu sehen. Weshalb sind Sie so fasziniert vom Krieg?
Ich bin nicht fasziniert. Ich bin ein Anti-Militarist. Ich bin schutzgeimpft gegen Kriegsbegeisterung. Ich habe, was Freud beschreibt, nicht nur eine moralische Abwehr gegen den Krieg, sondern eine Allergie gegen Krieg. Eine Haut wehrt sich. Aber wer die Massaker nicht erinnert, pflegt sie. Das ist ein Satz von Ernst Jünger. Wer sich für den Krieg nicht interessiert, den bringt er um. Der Krieg ist eine Chimäre. Er nimmt alle möglichen Gestalten an. Es ist eine Illusion, wenn wir glauben, in Deutschland sicher zu sein. Die Welt ist ja nicht sicher. Ich habe doch nach 1989 nicht gedacht, dass wir in Europa in einer Situation wie jetzt in der Ukraine landen.

Geschichten sind der Kokon, in den wir uns einspinnen.

Die Halberstädter Paulskirche vor ihrer Zerstörung im April 1945. Die Ruine wurde 1970 zugunsten von Plattenbauten abgerissen.
Die Halberstädter Paulskirche vor ihrer Zerstörung im April 1945. Die Ruine wurde 1970 zugunsten von Plattenbauten abgerissen.
© dpa/picture alliance / Sueddeutsche

Was ist geschehen?
Die Situation ist entstanden durch großen Leichtsinn, durch eine mangelnde Kenntnis dessen, was Vorkrieg heißt, auch durch ungenügenden Verantwortungssinn einiger EU-Beamter und der Nato in den vorhergehenden Phasen des Konflikts. Das ist mir sehr unheimlich. Die Auswege liegen immer 20 Jahre vor einem Krieg. Da hätte man ihn noch verhindern können. Unmittelbar vor Kriegsausbruch kann man nichts mehr verhindern.

Und jetzt?
Wenn ich die Chiffren der Nachrichten lese, fürchte ich ja nicht, dass Russland so verblendet ist, tatsächlich Nato-Staaten anzugreifen, oder dass die Nato Interesse hätte, militärisch gegen Russland vorzugehen. Ich fürchte nicht einen Krieg jetzt, ich fürchte, dass Planungsstäbe eingerichtet werden auf beiden Seiten, dass lauter neue Rüstungsprojekte bewilligt werden. Die schaffen 2030 eine Realität. Ohne zu wissen, was das bedeutet, arbeiten wir heute an der Realität des Jahres 2030. Das ist eine Beobachtung, die man an so einem Schlüsseltag wie dem 30. April 1945 verankern kann. Es waren viele Voraussetzungen über lange Zeiträume notwendig, um so etwas Verrücktes wie den Zweiten Weltkrieg zu beginnen.

Am 8. April 1945 schlägt beim Luftangriff auf Halberstadt in zehn Meter Entfernung von Ihnen eine Sprengbombe ein. Ist Ihnen manchmal der Gedanke unheimlich, dass Ihr ganzes Leben an dieser zufälligen Entfernung weniger Meter hing?
Das ist mir durchaus unheimlich. Es ist eine Delle in meinem Urvertrauen. Seither glaube ich nicht mehr unbedingt an mein Glück. Bis dahin hatte ich gedacht, ich bin behütet, ein Sonntagskind. Dieses Gefühl hat eine Beule bekommen, aber nicht sofort in diesem Moment. In diesem Moment hatte ich Angst, aber ich hatte auch Lust, es meinen Klassenkameraden zu erzählen. Ich war enttäuscht, dass die Schule anderntags ausfiel. Kontingenz bedeutet unter Umständen, dass die Kugel, die den anderen trifft, nur aus Zufall nicht mich getroffen hat. Wir sind überhaupt nicht geeignet als objektive Messgeräte für Unglückssituationen. In solchen Lagen fangen wir sofort an, zu erzählen, wenn Sie so wollen, zu spinnen. Und gleichzeitig sind wir zutiefst erschrocken und beeinflusst. Die Geschichten, die wir uns erzählen, sind der Kokon, in den wir uns einspinnen. Sie sind lebensnotwendige Illusion. Wir sind also sehr komische Instrumente, was Wirklichkeitserfahrung und Wahrheitssuche betrifft. Aber etwas anderes als unsere komplizierten Gefühle haben wir nicht. Im Ergebnis sind sie vertrauenswürdig.

Wie kommen Sie damit zurecht?
Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass wir Erzähler in dieser Hinsicht Illusionisten sind. Wir nehmen Realitäten wahr, aber wir sind keine Realisten. Wir wünschen uns eine Realität weg, die Menschen tötet. Das trägt dazu bei, dass wir uns in unserem Kokon sagen, uns wird schon nichts passieren. Die Gefühle glauben immer an einen glücklichen Ausgang. Diese Wünsche nehme ich genau so ernst wie die Realitäten des Tages. Deshalb bin ich weder ein Pessimist noch ein Optimist, sondern ein möglichst exakter Beobachter und gleichzeitig auch ein intensiver Wünscher.

Ihr Buch handelt vom Krieg, und es handelt von den Wünschen der Menschen. Welche Kraft haben Wünsche?
In den Märchen haben die Wünsche die Kraft, Tote auferstehen zu lassen. Daran glauben Kinder, also ist es zumindest in ihrer Vorstellungskraft eine Realität. In einer Geschichte über ein Dorf in der Näher meiner Heimatstadt wird berichtet, wie einst die Toten vom Friedhof auferstehen, um den Lebenden beizustehen, die ihr Dorf gegen einen übermächtigen Feind nicht mehr verteidigen können. So wurden die Feinde noch einmal abgewehrt. Wem fällt so etwas ein? Das ist kollektives Erzählen. Die Menschen brauchen offenkundig solche Geschichten, sonst würden sie sie nicht erzählen. Diese Geschichten sind nicht identisch mit der Tagesschau. Das mögen Phantasmagorien sein, aber anders als die Meldungen der Tagesschau sind die Wünsche unsterblich. Das ist überhaupt nicht irreal. So lange es Menschen gibt, sind die Wünsche mächtig.

Das Gespräch führte Peter Laudenbach.

Über den Autor

Alexander Kluge, am 14. Februar 1932 als Sohn eines Arztes in Halberstadt geboren, erlebte die Zerstörung seiner Stadt durch die Alliierten hautnah mit. Nach dem Krieg wuchs er in Berlin auf. Zunächst arbeitete er als Rechtsanwalt, wandte sich nach der von Theodor W. Adorno vermittelten Begegnung mit Fritz Lang 1958 aber dem Kino zu. Mit seinen Spielfilmen und essayistischen Arbeiten wie "Die Macht der Gefühle" hat er das deutsche Kino geprägt. Als Geschäftsführer der Produktionsfirma DCTP nimmt er bis heute entscheidenden Einfluss auf das Privatfernsehen. Seit 1964 ist er auch als Schriftsteller tätig. 2003 erhielt er für sein literarisches Werk den Georg- Büchner-Preis. Sein jüngstes Buch "30. April 1945 – Der Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann" ist im Berliner Suhrkamp Verlag erschienen (316 Seiten, 24,95 €.)

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