Kunst: Das ungreifbare Schweben
Der Pariser Louvre zeigt zwei Mona Lisas – und präsentiert die restaurierte „Anna selbdritt“, Leonardos letztes Meisterwerk.
Von einer „zweiten Mona Lisa“ war die Rede, als jüngst im Madrider Prado ein Bild entdeckt wurde, das mit dem vielleicht berühmtesten Gemälde der Welt frappierende Ähnlichkeiten aufweist und noch dazu auf dieselbe Entstehungszeit zu datieren ist. Die Mona Lisa mit ihrem legendenumwobenen Lächeln scheint so einmalig, dass kein weiteres Gemälde ihr auch nur entfernt nahekommt. Dabei handelte es sich bei der Entdeckung in Madrid um einen durchaus gewöhnlichen Vorgang: Ein bislang unbeachtetes Gemälde wird als Werkstattarbeit identifiziert und einem großen Vorbild zugeordnet. Nun ist das Madrider Fundstück erstmals öffentlich zu sehen, und zwar im Louvre zu Paris. Nicht in Nachbarschaft der Mona Lisa, die den Hauptanziehungspunkt des Pariser Museums ausmacht und auch weiterhin für sich bleiben darf. Sondern in der Ausstellung, die einem ganz anderen Gemälde von Leonardo da Vinci (1452 –1519) gewidmet ist, nämlich der „Anna selbdritt“.
Auch dieses Gemälde zählt zum Bestand des Louvre. Der französische König Franz I., der den begehrten Leonardo 1517 nach Frankreich zu locken verstand, kam durch den Tod des Künstlers in den Besitz von dessen späten Meisterwerken, die Leonardo, der ewige Zauderer und Perfektionist, nie als vollendet aus der Hand geben mochte. Dabei hat das Gemälde der Jungfrau mit Kind und der Hl. Anna kunstgeschichtlich mehr Nachahmung erfahren als das Porträt der Gioconda, das unter dem Titel „Mona Lisa“ zum Mysterium stilisiert wurde.
Leonardos Gemälde Mariens mit ihrer Mutter und ihrem Kind , einem in der Renaissance beliebten Sujet, bedurfte einer grundlegenden Restaurierung; wie im Grunde alle älteren Bilder, denen im Laufe der Jahrhunderte durch Alterungsprozesse, aber vor allem durch unsachgemäße Behandlung die ursprüngliche Frische abhandengekommen ist. Heutige Konservierungsmethoden können jedoch nicht nur das ursprüngliche Aussehen eines Gemäldes zurückgewinnen, sondern zugleich den Entstehungsprozess erkennbar machen, der zumal bei einem so skrupulösen Künstler wie Leonardo äußerst windungsreich verlief.
So auch bei der Komposition der „Hl. Anna“. Zum ersten Mal bringt die Ausstellung des Louvre mit ihren 130 Katalognummern alle vorhandenen Vorstudien und Dokumente zu diesem Bild zusammen, mehr, als selbst Leonardo je zusammen sehen konnte, dessen Arbeit sich über bald zwei Jahrzehnte, von den ersten Skizzen an wohl bereits vor 1500 bis zu seinem Tod im Jahr 1519 erstreckte. Jetzt leuchtet das großformatige Bild stärker denn je, wenn wir denn überhaupt wissen, wie das Bild einmal ausgesehen hat oder vielmehr, wie es hätte aussehen sollen. Denn die Lichtverhältnisse waren vor 500 Jahren gänzlich anders als heute, wo im Museum gleichmäßig helles und weißes Licht zur Verfügung steht.
Was mit der Restaurierung zum Vorschein kam, ist jedenfalls ein faszinierendes Spektrum von kühlen Blautönen im Landschaftshintergrund, die mit dem blauen, seltsam geschwungenen Mantel Mariens korrespondieren, und ist überhaupt ein so fein abgestuftes Kolorit, wie es zuvor unter dem gelblich gewordenen Firnis nicht einmal zu erahnen war.
Leonardo, und das macht die Pariser Ausstellung unter dem Titel „Die Hl. Anna. Das letzte Meisterwerk Leonardo da Vincis“ zu einem detektivischen Vergnügen, hat seine Komposition im Laufe der Zeit grundlegend verändert. Nahe beim Spätwerk hängt der frühe Karton aus dem Besitz der Londoner National Gallery (um 1500), der die anfängliche Komposition zeigt: Jesus auf dem Knie seiner Mutter, an deren Kopf sich Anna in gleicher Höhe anschmiegt, und vorn der Knabe Johannes, der spätere Täufer. Das ist die geläufige Zusammenstellung, doch Leonardo, als er sich nach jahrelanger Unterbrechung vor allem durch die Arbeit an dem verlorenen Wandbild im Florentiner Ratsgebäude dem Annen-Thema wieder zuwandte, spürte nun die mangelnde Dynamik.
Er ersann die diagonale Aufreihung der drei Generationen und ersetzte zudem den Johannesknaben durch das Lamm als Symbol für die bevorstehende Passion Christi. Der Zwischenschritt einer Figurendiagonale von rechts oben nach links unten ist verloren, lässt sich aber aus sekundären Quellen belegen. Schließlich spiegelte Leonardo seine Komposition und kam zu der endgültigen Diagonale von links nach rechts, wie sie sich im abschließenden Ölgemälde so bezwingend darbietet.
Leonardo suchte sein Werk – als großformatiges Tafelbild, also auf Holz gemalt, musste es ihm schon beim ersten Pinselstrich vor Augen stehen – durch zahllose Zeichnungen vorzubereiten. Diese Studienblätter gehören zum Großartigsten ihrer Gattung. Das ausgeführte Gemälde mit den Maßen 168 mal 112 Zentimeter, wie damals üblich durch einen zum Durchpausen bestimmten Karton minutiös vorbereitet, bildet dann die Summe der Einfühlung in die drei Personen, die alle den Leidensweg des Knaben ahnen und auf dieses Schicksal in feinster Abstufung reagieren.
Wie unendlich weit Leonardo seinen Schülern und Zeitgenossen überlegen war, zeigt die Ausstellung an den zahlreichen Kopien und Variationen, die Leonardos Komposition und überhaupt alle seine Bilderfindungen erfuhren. Da kommt der Madrider Mona-Lisa-Verschnitt ins Spiel. Ihm geht das schwebend Ungreifbare des Originals gänzlich ab. Was aber diese parallel mit dem Original ausgeführte, durch Über-die-Schulter-Schauen entstandene Arbeit eines Werkstattmitarbeiters Leonardos auszeichnet, ist die Verwendung des Hintergrundes, einer visionären Berglandschaft in jenem leicht milchigen Sfumato, das Leonardo in die Kunst eingeführt hat.
Der unbekannte Nachahmer hat sie aus dem Gemälde der „Hl. Anna“ übernommen, während Leonardo selbst in seiner weiterhin bearbeiteten „Mona Lisa“ auf einen Landschaftshintergrund verzichtet. Damit bildet das Madrider Bild ein wichtiges Dokument für Leonardos Produktionsweise und die seiner Nachahmer, die alle Erfindungen des Meisters sofort zu übernehmen und zu popularisieren versuchten.
Man könnte meinen, die Erforschung des schöpferischen Prozesses bringe nun die Entzauberung des abgeschlossenen Werkes mit sich. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade indem die Ausstellung des Louvre, die von einem voluminösen und hochinformativen, doch wenig ansprechend gestalteten Katalog begleitet wird, die Arbeitsweise Leonardos Schritt für Schritt sichtbar werden lässt, macht sie die Ergebnisse dieses Vorgangs, die Gemälde, umso unbegreiflicher. Das Staunen, das schon die Zeitgenossen Leonardos ergriff, wird durch die neuen Erkenntnisse nicht geringer. Vielmehr zeigt sich eine – im wahrsten Sinne des Wortes – ergreifende Meisterschaft, für die es niemals eine Erklärung geben wird.
Paris, Louvre, bis 25. Juni. Katalog,
448 S. m. 416 Farbabb., 45 €. www.louvre.fr
Bernhard Schulz
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